ERÖFFNUNG DES SYMPOSIUMS UND BEGRÜSSUNGSANSPRACHEN
Wim VAN DER EIJK
Vizepräsident Beschwerde und Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer, Europäisches Patentamt
Herr Justizminister Anvelt, Herr Richter Kull, Herr Generaldirektor Päts, Frau Härmand, verehrte Richter, meine Damen und Herren,
ich freue mich sehr, hier beim 17. Richtersymposium in Tallinn vor Ihnen sprechen zu dürfen. Es ist mir eine Ehre, ein so erlesenes Publikum zu begrüßen, das in dieser wunderschönen Stadt zusammengekommen ist.
Das europäische Patentsystem erlebt eine Phase großer Veränderungen. Wir stehen vor dem Inkrafttreten des Übereinkommens über ein Einheitliches Patentgericht, das das europäische Patentsystem verändern wird. In diesem neuen System wird es von entscheidender Bedeutung sein, dass bei Patentrechtsfragen ein harmonisierter Ansatz verfolgt wird.
Stärkere Harmonisierung kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Einer besteht darin, dass alle Richter im europäischen Patentrechtssystem – seien es Richter an nationalen Gerichten, in den Beschwerdekammern oder künftige Richter des Einheitlichen Patentgerichts – über die Urteile ihrer Kollegen informiert sind. Durch das Internet, einschlägige Blogs und einige kommerzielle Datenbanken wird der Zugriff auf Urteile anderer Gerichte erleichtert. Auch das EPA kann dazu beitragen; so ist für das nächste Jahr eine Neuauflage der "Rechtsprechung aus den Vertragsstaaten des EPÜ" geplant.
Ein weiterer Schritt zu mehr Harmonisierung ist natürlich der Besuch von Konferenzen und Symposien wie diesem. Daher freue ich mich auf die Präsentationen und Diskussionen in den kommenden Tagen. Ich hoffe, dass wir am Ende des Symposiums einen tieferen Einblick in die erörterten Fragen und die damit verbundenen verschiedenen Ansätze erlangt haben.
Anliegen unseres Symposiums ist der Gedanken- und Meinungsaustausch, jedoch ist es auch ein gutes Forum, um mehr über die Fragen und Probleme zu lernen, mit denen ein jeder von uns konfrontiert ist. Ich möchte Sie zu Beginn über einige der jüngsten Entwicklungen in den Beschwerdekammern und einige unserer Probleme in Kenntnis setzen.
Lassen Sie mich zu meinem ersten Thema kommen, nämlich dem "Arbeitsvolumen der Beschwerdekammern".
Arbeitsvolumen der Beschwerdekammern
Bis 2011 war die Zahl der bei den Beschwerdekammern eingereichten Beschwerden lange Zeit gestiegen. Das Jahr 2012 scheint einen Wendepunkt darzustellen, und dieser Trend hat sich 2013 fortgesetzt. Die nachstehende Tabelle zeigt die bei den technischen Kammern in den letzten fünf Jahren zu verzeichnenden Entwicklungen bei den Eingängen und Erledigungen:
| Jahr | ||||
---|---|---|---|---|---|
|
2009 |
2010 |
2011 |
2012 |
2013 |
Eingänge |
2484 |
2545 |
2658 |
2602 |
2515 |
Erledigungen |
1918 |
1964 |
1875 |
2029 |
2137 |
Differenz zwischen Eingängen und Erledigungen |
566 |
581 |
782 |
573 |
378 |
Das nachstehende Schaubild zeigt einen Vergleich der eingegangenen und der erledigten Beschwerden zwischen 2012 und 2013 und stellt deren Entwicklung in Prozent dar:
Wie Sie in diesem Schaubild erkennen können, ist die Zahl der Eingänge 2012 gesunken, und diese Entwicklung hat sich 2013 weiter fortgesetzt (-3,3 %). Gleichzeitig können wir in den letzten zwei Jahren einen deutlichen Anstieg bei den Erledigungen beobachten (von 2012 bis 2013 um 5,4 %). Dieser Trend hat sich in den ersten 8 Monaten 2014 bestätigt: die Zahl der eingehenden Beschwerden ist um rund 4 % gesunken, die Zahl der Erledigungen hingegen um fast 8 % gestiegen. Wenn man diese Entwicklung auf das ganze Jahr hochrechnet, schrumpft die Differenz für das Jahr 2014 auf weniger als 200 Fälle.
Dennoch übersteigt die Zahl der Eingänge immer noch die der Erledigungen. Der Bestand an anhängigen Beschwerden wächst deshalb weiter an, und die Anhängigkeitszeiten werden immer länger; zum 31.12.2013 waren 7 775 Fälle anhängig und die Anhängigkeitszeit betrug im Schnitt 32 Monate. Allerdings hat sich der Zuwachs bei den anhängigen Beschwerden inzwischen verlangsamt, und die Differenz zwischen eingehenden und erledigten Fällen geht nach einem Spitzenwert im Jahr 2011 inzwischen wieder zurück. Mein Ziel ist, diese Lücke 2015 ganz zu schließen und dann nach Möglichkeiten zu suchen, die Arbeitsbestände zu reduzieren.
Der Rückgang bei den Eingängen ist bei allen vier technischen Fachgebieten (Mechanik, Chemie, Physik und Elektrotechnik) festzustellen, allerdings nicht in demselben Maß. Die Ursache für diesen Rückgang ist nicht ganz klar; das Anmeldeaufkommen sowie die Produktion in der GD 1 steigen nämlich weiter an. Ein Grund kann sein, dass das Amt im Rahmen des Programms "early certainty from search" inzwischen mehr Gewicht auf die rechtzeitige Durchführung von Recherchen legt.
Was die Zunahme bei den Erledigungen betrifft, so gibt es hier verschiedene Gründe. Um die Diskrepanz zwischen eingehenden und erledigten Beschwerden zu beseitigen, wurden Maßnahmen im Hinblick auf Personaleinstellung, Nachfolgeplanung und eine bessere Unterstützung der Beschwerdekammern ergriffen. Außerdem wurde eine neue Kammer im Bereich Elektrotechnik geschaffen, und es gibt laufende Bemühungen um Verfahrenseffizienz und Fallverwaltung, wobei immer darauf zu achten ist, dass die Qualität nicht beeinträchtigt wird. Wir hoffen auch, dass die Änderung der Regel 103 EPÜ, wonach die Beschwerdegebühr bei einer Zurücknahme der Beschwerde im weiteren Verfahren zurückgezahlt wird, die Beschwerdeführer dazu bringen wird, für sie nicht mehr interessante Beschwerden zurückzunehmen. Mit dieser neuen Regelung verknüpft wurde eine Anhebung der Beschwerdegebühr von 1 240 EUR auf 1 860 EUR. Dies stellt zwar eine deutliche Gebührenerhöhung dar, doch die Kostendeckung liegt immer noch weit unter 10 %.
Es scheint so, dass wir bereits jetzt die ersten Früchte unserer Bemühungen ernten können. Doch wollen wir uns darauf nicht ausruhen: Alle Mitglieder der Beschwerdekammern, der Unterstützungsabteilungen der GD 3 und mein Team werden sich nach Kräften bemühen, die Bestände und die Anhängigkeitszeiten zu stabilisieren oder gar zu verringern.
Dennoch ist nicht davon auszugehen, dass sich die Bearbeitungsdauer der Beschwerden in naher Zukunft verkürzen wird. Es ist daher wichtig zu wissen, dass es die Möglichkeit der Beschleunigung des Verfahrens vor den Beschwerdekammern gibt. Dabei können nicht nur Beteiligte, die ein berechtigtes Interesse an der raschen Behandlung ihrer Beschwerde haben, einen entsprechenden Antrag stellen, sondern auch die Gerichte. Im Falle einer Verletzungsklage in Bezug auf ein Patent, das Gegenstand von Einspruchsbeschwerdeverfahren ist, könnte der Wunsch bestehen, die entsprechende Kammer um eine rasche Behandlung der Beschwerde zu ersuchen. Ein solcher Antrag kann von einem Gericht oder von einem Beteiligten gestellt werden. Im Schnitt gehen je Kammer etwa zwei Anträge pro Jahr ein, die - sofern sie begründet sind - auch genehmigt werden. Das bedeutet, dass ein Fall innerhalb von Monaten und nicht von Jahren bearbeitet wird.
Nachfolgende Abbildung veranschaulicht die eingehenden und erledigten Fälle auf den einzelnen technischen Gebieten im Jahr 2013 sowie die anhängigen Verfahren per 31.12.2013.
Eingänge
Erledigungen
Anhängige Verfahren
Ausgang der Beschwerden
Ein weiterer Aspekt unserer Arbeit, über den ich zu Ihnen sprechen möchte, ist die Analyse des Ausgangs der Beschwerdeverfahren. Ich möchte hier zwischen zwei Arten von Fällen unterscheiden. Bei der einen wird Beschwerde gegen die von der Prüfungsabteilung getroffene Entscheidung eingelegt, eine Patentanmeldung zurückzuweisen. Das sind die Ex-parte-Fälle (einseitige Beschwerden). Bei der anderen Art richtet sich die Beschwerde gegen eine Entscheidung der Einspruchsabteilung. Hierbei handelt es sich um die Inter-partes-Fälle (zweiseitige Beschwerden). Nur zur Information: 2013 waren bei den technischen Beschwerden 48 % Ex-parte-Fälle und 52 % Inter-partes-Fälle.
Die Zahlen betreffen das Jahr 2013.
58% der Ex-parte-Fälle wurden nach einer materiellrechtlichen Prüfung entschieden, d. h. die Verfahren erledigten sich nicht auf andere Weise wie Unzulässigkeit oder Rücknahme der Beschwerde, Rücknahme der Anmeldung usw. In diesen Fällen führte das Beschwerdeverfahren zu folgenden Ergebnissen:
In rund 49 % der Fälle war die Beschwerde ganz oder teilweise erfolgreich. Bei reichlich der Hälfte dieser Fälle wiederum ordnete die Kammer die Erteilung des Patents an, bei den übrigen die Fortsetzung des Prüfungsverfahrens.
Von den Inter-partes-Fällen wurden 67 % nach einer materiellrechtlichen Prüfung entschieden, und das Beschwerdeverfahren führte hier zu folgenden Ergebnissen:
In den meisten Fällen wurde keine Fortsetzung des Einspruchsverfahrens angeordnet, sondern vielmehr entschied die Kammer selbst (Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt oder in geändertem Umfang oder Widerruf des Patents).
Bei der Auslegung dieser Zahlen ist Vorsicht geboten. Oftmals ist der Erfolg einer Beschwerde auf geänderte Patentansprüche oder neue Beweismittel zurückzuführen: Somit beruht die Entscheidung der Beschwerdekammer auf einer anderen Grundlage und es kann nicht behauptet werden, die angefochtene Entscheidung der ersten Instanz sei falsch gewesen. Fest steht aber, dass das Beschwerdeverfahren für die Beteiligten oft ganz anders ausgeht als das erstinstanzliche Verfahren, was erneut bestätigt, dass den Beschwerdekammern eine äußerst wichtige Rolle zukommt.
Lassen Sie mich nun kurz auf die Große Beschwerdekammer eingehen.
Die Große Beschwerdekammer
Vorlagen
Wenden wir uns zunächst den Vorlagen an die Große Beschwerdekammer nach Artikel 112 EPÜ zu.
Seit dem letzten Symposium hat die Große Beschwerdekammer über zwei Vorlagen entschieden.
G 1/12 betrifft folgende Situation: Eine Beschwerdeschrift enthält entsprechend der Regel 99 (1) a) EPÜ den Namen und die Anschrift des Beschwerdeführers nach Maßgabe der Regel 41 (2) c) EPÜ; der Beschwerdeführer behauptet aber dann, es sei aus Versehen die falsche Identität angegeben worden und die wirkliche Absicht sei es gewesen, die Beschwerde im Namen der juristischen Person einzulegen, die zur Einlegung der Beschwerde berechtigt war und in deren Namen sie hätte eingelegt werden sollen. Ist es in einem solchen Fall möglich, diesen Fehler nach Regel 101 (2) EPÜ auf einen Antrag hin zu korrigieren, den Namen durch den des wahren Beschwerdeführers zu ersetzen? Die Große Beschwerdekammer bejahte dies, sofern diese Berichtigung keine nachträgliche Meinungsänderung zur Person des Beschwerdeführers widerspiegelt, sondern vielmehr nur zum Ausdruck bringt, was beim Einlegen der Beschwerde beabsichtigt war. Die Große Beschwerdekammer schloss sich damit voll und ganz der Rechtsprechung der Kammern an, wonach die unrichtige Angabe der Identität des Beschwerdeführers ein Mangel ist, der auch nach Ablauf der Frist gemäß Regel 101 (1) beseitigt werden kann.
G 1/11 betrifft die Frage, ob eine Technische oder die Juristische Beschwerdekammer für einen bestimmten Fall zuständig war. Dabei geht es um den konkreten Fall, dass eine Prüfungsabteilung des EPA über die Nichtrückzahlung von Recherchengebühren gemäß Regel 64 EPÜ entscheidet, und diese Entscheidung nicht zusammen mit einer Entscheidung über die Erteilung eines europäischen Patents oder die Zurückweisung einer europäischen Patentanmeldung erlassen worden ist. Dieser Fall ist im EPÜ nicht geregelt. Die Große Beschwerdekammer entschied, dass in diesem Fall eine Technische Beschwerdekammer für die Behandlung der Beschwerde zuständig ist.
Derzeit sind bei der Großen Beschwerdekammer sechs Vorlagen anhängig.
Die größte öffentliche Aufmerksamkeit hat der Fall "Tomate II" erregt, der unter dem Aktenzeichen G 2/12 anhängig ist. Die Große Beschwerdekammer hatte in G 1/08 den Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen so ausgelegt, dass der Anspruch auf ein Verfahren zum Züchten von Tomatenpflanzen unter diesen Ausschluss gefallen wäre. Die Fragen in G 2/12 betreffen die Gewährbarkeit von Erzeugnisansprüchen und die Frage, ob sich der Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren negativ auf die Gewährbarkeit eines Erzeugnisanspruchs auswirkt, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet ist.
(Konkret wurden der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen vorgelegt:
1. Kann sich der Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen in Artikel 53 b) EPÜ negativ auf die Gewährbarkeit eines Erzeugnisanspruchs auswirken, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial wie eine Frucht gerichtet ist?
2. Ist insbesondere ein Anspruch, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet ist, bei denen es sich nicht um eine Pflanzensorte handelt, auch dann gewährbar, wenn das einzige am Anmeldetag verfügbare Verfahren zur Erzeugung des beanspruchten Gegenstands ein in der Patentanmeldung offenbartes im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen ist?
3. Ist es im Rahmen der Fragen 1 und 2 relevant, dass sich der durch den Erzeugnisanspruch verliehene Schutz auf die Erzeugung des beanspruchten Erzeugnisses durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren für die Züchtung von Pflanzen erstreckt, das nach Artikel 53 b) EPÜ als solches nicht patentierbar ist?)
Inzwischen gibt es nun auch den Fall "Brokkoli II". Dieser Fall ist unter dem Aktenzeichen G 2/13 anhängig und wirft weitgehend dieselben Fragen auf, nämlich ob sich der Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen nach Artikel 53 b) EPÜ negativ auf die Gewährbarkeit von Erzeugnisansprüchen auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial auswirken kann. G 2/12 und G 2/13 wurden deshalb miteinander verbunden.
Die Große Beschwerdekammer hat für den 27. Oktober 2014 eine mündliche Verhandlung anberaumt und einige Hinweise zu den Fragen herausgegeben, die in der mündlichen Verhandlung zu besprechen sind.
Drei weitere anhängige Fälle betreffen Verfahrensfragen: In der Sache G 1/13 geht es um eine Frage der Beteiligtenstellung, und zwar insbesondere darum, ob das EPA die Rückwirkung einer Vorschrift des nationalen Rechts (in diesem Fall des britischen Rechts) anerkennen muss, die die Wiedereintragung eines aufgelösten Unternehmens ins Handelsregister vorsieht. In G 1/14 und G 2/14 geht es darum, ob eine Beschwerde unzulässig ist oder als nicht eingelegt gilt, wenn die Einlegung der Beschwerde und/oder die Zahlung der Beschwerdegebühr nach Ablauf der betreffenden Frist erfolgen. Von der Antwort auf diese Frage hängt es ab, ob die Beschwerdegebühr zurückerstattet wird oder nicht.
Die jüngste Vorlage, mit der die Große Beschwerdekammer befasst wurde, ist G 3/14. Hier geht es um die Frage, ob im Einspruchs- oder Einspruchsbeschwerdeverfahren die Klarheit geänderter unabhängiger Ansprüche geprüft werden kann oder sogar muss, wenn die Änderung des unabhängigen Anspruchs nur in der wörtlichen Übernahme einiger oder aller Merkmale aus einem bereits erteilten abhängigen Anspruch bestand. Am Freitag werden Sie mehr über diese Vorlage erfahren, wenn einige der jüngsten Fälle der Beschwerdekammern genauer beleuchtet werden. An dieser Stelle möchte ich aber anmerken, dass die Beantwortung der Vorlagefragen, wie auch immer sie ausfällt, maßgeblichen Einfluss auf alle Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren haben wird, weswegen dieser Fall prioritär behandelt wird.
Wie Sie aus meiner kurzen Zusammenfassung der anhängigen Vorlagefragen ersehen können, ist die Große Beschwerdekammer mit vielfältigen Verfahrens- und materiellrechtlichen Fragen befasst. Wir haben eine Menge zu tun, und bis zum nächsten Jahr werden wir mit Sicherheit einige der Vorlagefragen beantwortet haben.
Anträge auf Überprüfung
Ende 2007 erhielt die Große Beschwerdekammer die neue Aufgabe, über Anträge auf Überprüfung zu entscheiden - d. h. zu befinden, ob das Beschwerdeverfahren vor der jeweiligen Kammer mit einem schwerwiegenden Verfahrensmangel behaftet war, der den Ausgang des Verfahrens beeinflusst hat. Die Große Beschwerdekammer erhält eine konstante Zahl solcher Anträge, im Schnitt etwa 20 pro Jahr. Bisher waren nur vier Anträge erfolgreich und haben zur Aufhebung der Kammerentscheidung und zur Wiedereröffnung des Verfahrens geführt.
Die hohe Zahl der abgewiesenen Überprüfungsanträge ist nicht so zu interpretieren, dass wir versuchen, unsere Kollegen zu decken. Vielmehr ist oft das Vorbringen eines Beteiligten so formuliert, dass die Große Beschwerdekammer praktisch aufgefordert wird, die Entscheidung der Kammer inhaltlich zu überprüfen. Die Große Beschwerdekammer ist dazu nicht befugt, weil der Überprüfungsantrag ein außerordentlicher Rechtsbehelf bei Verfahrensmängeln ist. Der Gesetzgeber hat damit nichts anderes beabsichtigt, weshalb es eine begrenzte und erschöpfende Liste von Gründen für den Überprüfungsantrag gibt.
Oft gehen Beteiligte davon aus, dass die Kammer ihnen vor dem Erlass der Entscheidung alle absehbaren Gründe nennt, die die Kammer in der Entscheidungsbegründung anführen wird. Die Große Beschwerdekammer hat mehrfach befunden, dass ein Beteiligter auf eine solche detaillierte Analyse vor Erlass der Entscheidung keinen Anspruch hat. Für die Gewährung des rechtlichen Gehörs reicht es aus, wenn die Gründe der schriftlichen Entscheidung einem Argument entsprechen, das von irgendeinem der am Verfahren Beteiligten oder von der Kammer vorgebracht worden ist, und das der Antragsteller somit kannte.
R 19/12 und die Unabhängigkeit der Beschwerdekammern
In R 19/12, die Ende April dieses Jahres ergangen ist, kam die Große Beschwerdekammer zu dem Ergebnis, dass der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer wegen der objektiv gerechtfertigten Besorgnis der Befangenheit von der Mitwirkung an den Verfahren ausgeschlossen werden sollte. Hauptgrund dafür war die Tatsache, dass der Kammervorsitzende, der gleichzeitig auch Vizepräsident des EPA ist, eng in die Verwaltungsstruktur des EPA eingebunden ist, insbesondere als Mitglied des Direktoriums (MAC) und des Allgemeinen Beratenden Ausschusses (ABA), und somit an die Weisungen des Präsidenten gebunden ist. In ihrer Entscheidungsbegründung befasste sich die Große Beschwerdekammer auch allgemein mit dem Problem des Gerichtscharakters der Kammern und ihrer institutionellen Anbindung an das Amt.
Wie Sie sich vorstellen können, hat diese Entscheidung die öffentliche Aufmerksamkeit erregt und zu umfangreichen Diskussionen über die Konsequenzen geführt. Der Amtspräsident hat auf der Junitagung des Verwaltungsrats angekündigt, dass das Amt und der Rat über die langfristigen Folgen dieser Entscheidung und ihrer Begründung nachdenken werden. Dieses Thema wird uns in den nächsten Monaten sicherlich weiter beschäftigen.
Als unmittelbare Konsequenz aus dieser Entscheidung und vorbehaltlich weiterer Erwägungen hat der Präsident des Amts einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen, damit der Vorsitzende der Großen Beschwerdekammer weiterhin sein Amt ausüben kann.
1. Der VP 3 ist nicht Mitglied des Allgemeinen Konsultativen Ausschusses (AKA), der den ABA ersetzt hat. Er nimmt nicht als Mitglied an MAC-Sitzungen teil, kann aber als Beobachter bei Tagesordnungspunkten teilnehmen, die sich direkt auf die Beschwerdekammern und deren Unterstützungsdienste auswirken.
2. Dem VP 3 wurden bestimmte administrative Aufgaben innerhalb der Beschwerdekammern entzogen.
3. Ebenfalls als Vorsichtsmaßnahme und vorbehaltlich einer weiteren Analyse können Mitglieder der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer nicht mehr als Mitglieder von administrativen Gremien des Amts (Prüfungsausschüsse oder Disziplinarausschuss) benannt werden, es sei denn, die Arbeit in diesen Gremien wirkt sich direkt auf Mitglieder der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer aus.
Inzwischen sind unter Verweis auf R 19/12 zwei weitere Überprüfungsanträge mit Einwänden gegen den Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer eingereicht worden.
Zusammenarbeit und Austausch mit nationalen Richtern
Lassen Sie mich nun auf die Zusammenarbeit und den Austausch der Beschwerdekammern mit nationalen Richtern eingehen. Wie ich bereits beim letzten Richtersymposium ausgeführt habe, ist die formalste Art die Mitwirkung nationaler Richter als externe Mitglieder der Großen Beschwerdekammer. Diese besteht bei den Entscheidungen über ihr vorgelegte Rechtsfragen aus sieben Mitgliedern, und zwar fünf rechtskundigen und zwei technisch vorgebildeten Mitgliedern. Ein oder zwei der rechtskundigen Mitglieder können durch ein oder zwei externe rechtskundige Mitglieder ersetzt werden, wenn die Bedeutung des Falls über die interne Organisation des EPA hinausgeht. Diese externen Mitglieder sind überwiegend nationale Richter, und ich bin mir sicher, dass einige von Ihnen dabei sind. Ich halte die Zusammenarbeit mit externen Mitgliedern für äußerst bereichernd und denke, dass dies eine weitere Möglichkeit darstellt, um mehr Harmonisierung zu erreichen. Vor Kurzem wurden die Delegationen unserer Mitgliedstaaten angeschrieben und aufgefordert, Kandidaten als externe rechtskundige Mitglieder vorzuschlagen, da das Mandat für viele dieser Positionen Anfang 2015 endet.
Seit 2012 läuft beim EPA ein Programm, das Richtern Praktika bei den Beschwerdekammern ermöglicht. Dieses Praktikum wird jährlich durchgeführt und dauert einen Monat. Bis zu sieben Richter werden zunächst in einem einwöchigen Intensivkurs mit den Patentierbarkeitsbedingungen und den Verfahren der Beschwerdekammern vertraut gemacht. Danach werden sie drei Wochen bei einer technischen Beschwerdekammer "mitlaufen". Das Programm hat sich als erfolgreich erwiesen und wir freuen uns, nächstes Jahr weitere Teilnehmer begrüßen zu dürfen.
Wir sind immer daran interessiert, Richter als rechtskundige Mitglieder der Beschwerdekammern einzustellen. Im Schnitt werden pro Jahr ein bis drei Stellen ausgeschrieben, die Sie auf der Website des EPA finden. Sie können einen RSS-Feed abonnieren, um die Anzeigen automatisch zu erhalten.
EPG und Harmonisierung
Zuletzt möchte ich kurz auf das EPG eingehen. Wir begrüßen die Maßnahmen zur Schaffung eines neuen einheitlichen Patentgerichts. Ein zentrales Gericht, das über Rechtsfragen in der Phase nach der Erteilung entscheiden wird, ist ein großer Fortschritt im Hinblick auf Harmonisierung und - wie wir hoffen - mehr Rechtssicherheit. Vieles wird natürlich davon abhängen, welchen Ansatz die Richter am EPG, die Mitglieder der Beschwerdekammern und nationale Richter bei Fragen der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit vertreten werden, die für die Erteilungs- und für die Nacherteilungsphase relevant sind. Es ist deshalb umso wichtiger, den Austausch und die Diskussionen fortzusetzen.
Wir haben uns auch gefragt, wie sich das EPG auf die Arbeit der Beschwerdekammern auswirken wird. Die vom EPA durchgeführten Verfahren, bis einschließlich Beschwerdephase, werden formal unverändert bleiben. Doch obwohl das EPG lediglich die Aufgabe der nationalen Gerichte in den Mitgliedstaaten übernimmt und für das Erteilungsverfahren keine Rolle spielt, könnte es doch die Zahl der eingelegten Beschwerden beeinflussen, wenn sich nämlich Beteiligte statt Einspruch beim EPA einzulegen, für ein Verfahren vor dem EPG entscheiden. Über das künftige Verhalten der Nutzer können wir nur Vermutungen anstellen. Für die Beschwerdekammern stellt diese neue Alternative keine Bedrohung dar, sondern einen Anreiz, sich weiterhin um mehr Pünktlichkeit zu bemühen und die hohe Qualität unserer Entscheidungen aufrechtzuerhalten, die bei den Nutzern des europäischen Patentsystems großes Vertrauen genießen.