BERICHTE NATIONALER RICHTER
NL Niederlande
Robert VAN PEURSEM - Berufungsgericht Gerechtshof 's-Gravenhage, Den Haag - Einige neuere Entwicklungen im niederländischen Patentrecht
Sept. 2010 – Sept. 2012
Statistik
Im genannten Zeitraum hatten die niederländischen Gerichte, denen die ausschließliche Zuständigkeit für Patentverletzungen obliegt, mit den unten aufgeführten Fallzahlen zu tun. Diese statistischen Angaben beziehen sich nur auf ausverhandelte kontradiktorische Fälle – daher werden vorab zu entscheidende Fragen, Zurücknahmen, Versäumnisfälle oder Einigungen vor oder nach der Verhandlung nicht berücksichtigt. Häufig geht es in einem Fall um mehrere Patente – zwei oder drei Patente sind hier keine Ausnahme. Schließlich wird in niederländischen Patentfällen typischerweise in einem einzigen Verfahren über Gültigkeit und Verletzung verhandelt, eine Verzweigung gibt es demnach nicht.
Oberster Gerichtshof ("Hoge Raad"): | 2 |
Berufungsgericht Den Haag ("Gerechtshof 's-Gravenhage") : | 25 |
Bezirksgericht Den Haag:
2010: | 49 Hauptsacheverfahren | 20 Verfügungsverfahren ("kort geding") |
2011: | 45 Hauptsacheverfahren | 15 Verfügungsverfahren |
2012 (1. Halbjahr) | 23 Hauptsacheverfahren | 11 Verfügungsverfahren |
Schutzumfang
- Berufungsgericht 19. Oktober 2010 und Oberster Gerichtshof 25. Mai 2012 (Bestätigung) im Fall AGA gegen Occlutech – Okkluder-Fall
Bekannter Fall: Beansprucht wurde eine kollabierbare hantelförmige medizinische Vorrichtung, dadurch gekennzeichnet, dass Klemmen zum Festklemmen der Litzen an den entgegengesetzten Enden der Vorrichtung ausgeführt sind. Die hantelförmige Vorrichtung von Occlutech diente dem Verschluss von Septumdefekten. Das Bezirksgericht schloss sich dem Argument der Firma Occlutech an, dass Schutz nur für eine in einen Kanal einzuführende Vorrichtung beansprucht wurde (sodass Septumokkluder dieses Schutzrecht nicht verletzen würden), doch das Berufungsgericht wies dieses Argument zurück mit der Begründung, dass die Beschreibung auf eine breitere Verwendung der medizinischen Vorrichtung hindeute, und berief sich dabei auf die Entscheidung G 2/88 der Großen Beschwerdekammer. Das Hauptargument für eine Nichtverletzung wurde jedoch bestätigt: Die Vorrichtung von Occlutech hatte nur an einem Ende eine Klemme. Keine Äquivalenz: Bei der Analyse der Beschreibung und der Erteilungsakte stellte das Gericht fest, dass das Festklemmen an den entgegengesetzten Enden der Vorrichtung als ein wesentliches Element des Anspruchs zu verstehen sei. Es stellte einen Vergleich von "Funktion, Funktionsweise und Ergebnis" an und befand (wie das britische Gericht und der BGH), dass die Funktionsweise der Vorrichtung von Occlutech eine ganz andere sei und daher keine Patentverletzung vorliege. Im Übrigen hat der Oberste Gerichtshof den Vergleich von Funktion, Funktionsweise und Ergebnis nicht abgelehnt, ihn aber auch nicht ausdrücklich befürwortet, mit einiger Sicherheit kann man jedoch davon ausgehen, dass dies eine in den Niederlanden akzeptable Methode ist, um die Äquivalenz zu ermitteln.
Im Fall Occlutech bestätigte der Oberste Gerichtshof die niederländische Haltung zu Artikel 69 EPÜ und das seit Impro gegen Liko (2004) und Lely gegen Delaval (2007) umgesetzte Protokoll – und stellte die in Dijkstra v Saier (2006) eingeführte niederländische "Prosecution-History-Estoppel"-Regelung klar. Dem Argument von Occlutech, dass das Protokoll sich auf Artikel 69 beziehe und nicht auf den Schutzumfang von Patenten und dass die korrekte Anwendung von Artikel 69 automatisch zum Ergebnis im Sinne von Artikel 1 des Protokoll führe, schloss sich der Gerichtshof nicht an, weil dies das Protokoll überflüssig machen würde. Zudem sei die Anwendung von Artikel 69 im Sinne von Artikel 1 des Protokolls eng mit der Ermittlung des Schutzumfangs verknüpft. Nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs gibt das Protokoll eine Hilfestellung bei der Anwendung von Art. 69 und damit bei der Ermittlung des Schutzumfangs. Andere optional zu betrachtende "Aspekte" betreffen das Wesen der Erfindung und den dem Wortlaut der Ansprüche zugrunde liegenden Gedanken im Gegensatz zu ihrer wörtlichen Bedeutung, wobei die Ansprüche natürlich Vorrang haben, und es wurde nun klargestellt, dass diesen anderen "Aspekten" sehr viel weniger Bedeutung zukommt als unter der Regelung vor dem EPÜ, wo der Schutzumfang in den Niederlanden der deutschen Wesenslehre entsprach, und dass sie daher nicht in jedem Fall berücksichtigt werden müssen. Der Oberste Gerichtshof befand, dass diese anderen "Aspekte" abhängig von der Art des Patents, der Beschreibung und den Argumenten der Parteien dennoch eine Rolle spielen könnten, was dies jedoch bedeutet, ist eher unklar. In der Praxis hat es möglicherweise keine große Auswirkungen. Beispielsweise stellte der Oberste Gerichtshof in seinem Urteil fest, dass das Berufungsgericht den von AGA angesprochenen "Aspekt", den dem Wortlaut der Ansprüche zugrunde liegenden Gedanken heranzuziehen, geprüft und das Argument, dass nach dieser Lesart Vorrichtungen mit Klemmen auf einer Seite unter den Anspruch fallen, klar zurückgewiesen hatte. Der "Aspekt" "Wesen der Erfindung" wurde beispielsweise im Urteil des Berufungsgerichts vom 18. Oktober 2011 Indorato gegen Balmain (Hair Extension) berücksichtigt.
Unter Nr. 4.2.6 machte der Oberste Gerichtshof einige interessante Anmerkungen zu bahnbrechenden Erfindungen: breiterer Schutz, wenn die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten nicht vernünftigerweise vorhergesehen, beschrieben und beansprucht werden können. Laut Urteil des Berufungsgerichts kommt dies im vorliegenden Fall nicht zum Tragen, und dies wurde vom Obersten Gerichtshof bestätigt. Bei unwesentlichen Ansprüchen kann eine Beschränkung des Schutzumfangs die Folge sein, wie im kort geding des Bezirksgerichtspräsidenten vom 14. März 2012 Core v Lidl (Collapsible Ladder) festzustellen war: Wenn eine beanspruchte technische Lösung leicht abgewandelt wird, besteht kein Raum für Äquivalenzüberlegungen. Der Oberste Gerichtshof bemerkte in einem obiter dictum, dass bei bahnbrechenden Erfindungen ein Klarheitsmangel nicht unbedingt Nachteile für den Patentinhaber zur Folge hat.
In der Regel können Dritte den öffentlichen Teil der Erteilungsakte uneingeschränkt nutzen, um den Schutzumfang des Patents zu ermitteln (anders als der Patentinhaber, der hierzu nur beschränkte Möglichkeiten hat). Dies ist seit SC 2006 Dijkstra gegen Saier klar und wurde auch z. B. im Urteil des Berufungsgericts vom 1. Novemnber 2011 Sanofi-Aventis gegen Ratiopharm bestätigt. Anhand des Verfahrensverlaufs kann zudem ermittelt werden, ob der Patentinhaber bestimmte Ausführungsarten bewusst nicht beansprucht hat, die er nun im Rahmen der Verletzungsklage einzubeziehen versucht.
- Berufungsgericht 24. Januar 2012 Lundbeck gegen Generics (Kassationsverfahren anhängig) – und Berufungsgericht 24. Januar 2012 Lundbeck gegen Sandoz – Fall Escitalopram
Die Erzeugnisansprüche für den Wirkstoff Escitalopram (ein überaus erfolgreiches Antidepressivum) wurden vom Berufungsgericht für nichtig erklärt, weil sie naheliegend sind (die Anfechtung der Neuheit wurde zurückgewiesen), während die Verfahrensansprüche für ein bestimmtes Verfahren zur Synthese von Escitalopram und der Anspruch für ein Zwischenerzeugnis als nicht naheliegend angesehen wurden. Die SPC-spezifischen Nichtigkeitsargumente wurden zurückgewiesen. Das Escitalopram-Patent von Lundbeck hatte das Bezirksgericht zuvor in allen Punkten für nichtig erklärt.
In EP '066 wurden das reine Enantiomer Escitalopram (das S-Enantiomer des bekannten racemischen Stoffgemischs Citalopram) und ein Verfahren zu seiner Synthese beansprucht. Das Gericht wandte den Aufgabe-Lösungs-Ansatz an, wobei es das Patent US '193 mit der Offenbarung des Racemats Citalopram als nächstliegenden Stand der Technik heranzog und damit das Argument von Lundbeck, dass von einer großen Auswahl an antidepressiv wirkenden Verbindungen ausgegangen werden sollte, verwarf. Es stellte fest, dass es einen starken Anreiz gab, die Enantiomere mit einer vernünftigerweise anzunehmenden Erfolgserwartung aufzuspalten und zu testen, und dass die objektive technische Aufgabe darin bestand, ein neues wirksameres Enantiomer der bekannten racemischen Verbindung zu finden. Mit seinem allgemeinen Fachwissen würde der Fachmann sofort auf das S-Enantiomer kommen; die gegenüber dem Racemat um den Faktor 2 verbesserte Wirkung des (+)-Enantiomers war nicht überraschend. Damit wurden die Erzeugnisansprüche 1-5 verworfen.
Der Verfahrensanspruch 6 beschrieb eine stereoselektive Synthese auf Grundlage des aus der Synthese von Citalopram bekannten racemischen Vorgängers (des Diols), wobei dieses Diol in seine Enantiomere aufgespalten und das enantomerisch reine Diol anschließend mithilfe einer speziellen Ringschlussreaktion in Escitalopram umgewandelt wird. Das Gericht stellte fest, dass nicht EP '943 (das die racemische Diolvorstufe offenbarte) der nächstliegende Stand der Technik war, sondern das so genannte Smith-Dokument, d. h. ein Verfahren zur Herstellung von Escitalopram ohne die Diolvorstufe. Die Auswahl der Diolvorstufe als Ausgangspunkt wurde als nicht naheliegend betrachtet.
Da jedoch die Verbindung Escitalopram als naheliegend angesehen wurde, lag es an Lundbeck zu beweisen, dass am Prioritätstag keine anderen Verfahren bekannt waren, mit deren Hilfe das optisch reine Enantiomer hätte hergestellt werden können. Einen solchen Beweis blieb Lundbeck schuldig.
Daher verwarf das Berufungsgericht in seinem Urteil den absoluten Stoffschutz, obwohl das Verfahren zur Herstellung der Verbindung als neu und nicht naheliegend betrachtet worden war. Dies ist kritisiert worden, und derzeit ist ein Kassationsverfahren anhängig. Im kort-geding-Verfahren vom 14. August sagte Richter Edger Brinkman in einem vorläufigen Urteil, Lundbeck habe große Zweifel geweckt, dass die Argumentation des Berufungsgerichts Bestand haben werde. Seiner Auffassung nach sei es logisch, dass, sobald dem Fachmann ein erfinderisches Verfahren zur Herstellung einer Verbindung zur Verfügung stehe, die Verbindung selbst erfinderisch sei, auch wenn die Existenz der Verbindung als solche vielleicht zu erwarten war. Die Aussage, dass ein Stoff nur dann patentiert werden kann, wenn der Stoff selbst erfinderisch ist, halte er für falsch, zudem stehe sie im Widerspruch zur gängigen Rechtsprechung der Technischen Beschwerdekammern des EPA. Das abschließende Urteil überließ er natürlich dem Obersten Gerichtshof und bemerkte, die Zweifel am Urteil des Berufungsgerichts seien nicht so schwerwiegend, dass Anspruch 1 im Verfügungsverfahren als vorläufig erklärt werden könnte.
In zwei Jahren werden wir Ihnen also mitteilen können, wie unser Oberster Gerichtshof in dieser Sache geurteilt hat.
Erfinderische Tätigkeit – weniger dogmatische Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes?
- Bezirksgericht 27. Oktober 2010 und Berufungsgericht 1. Mai 2012 (Bestätigung) MSD gegen Sandoz (Formulierung mit Dorzolamid & Timolol – naheliegend)
- Bezirksgericht 26. Januar 2011 Sandoz gegen Glaxo (Fall Seretide: Fluticason & Salmeterol – naheliegend)
- Bezirksgericht 6. Juli 2011 Sandoz gegen Astra Zeneca (Fall Nexium – Esomeprazol – Isolierung des Enantiomers – nicht naheliegend (anders als im Fall Lundbeck))
- Bezirksgericht 7. März 2012 Sandoz gegen Astra Zeneca (Seroquel XR – nicht naheliegend) "vernünftige" Erfolgserwartung hängt von der Motivation ab
Während in den ersten drei Fällen ein recht klassischer Aufgabe-Lösungs-Ansatz gewählt wurde, war im Fall Seroquel ein möglicher Schwenk zu einem liberaleren Ansatz erkennbar. Hier wurde die erfinderische Tätigkeit wie folgt ermittelt:
Zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit war (selbst bei Anwendung des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes) zunächst zu ermitteln, ob ein Fachmann mit allem am Prioritätstag verfügbaren einschlägigen Wissen motiviert gewesen wäre, eine Quetiapin-Formulierung mit Freisetzungsverzögerung zu entwickeln und ob er eine vernünftige Erfolgserwartung gehabt hätte, also die Erwartung, dass dies die objektive Aufgabe lösen würde. Motivation und eine vernünftige Erfolgserwartung sind insofern miteinander verknüpft (Prinzip der kommunizierenden Röhren), als dass der Fachmann bei einem starken Anreiz eine geringere Erfolgserwartung mitbringen müsste, wohingegen er bei einem schwachen Anreiz eine große Erfolgserwartung bräuchte. Eine "vernünftige" Erfolgserwartung hängt also vom Motivationsgrad ab.
Das Gericht stellte fest, dass die Motivation zur Herstellung einer Formulierung mit Freisetzungsverzögerung am Prioritätstag sehr beschränkt war und der Fachmann keine große Erwartung hatte, eine ausreichend wirksame Formulierung mit Freisetzungsverzögerung mit Erfolg herstellen zu können, und erklärte die Erfindung daher für nicht naheliegend.
Eine weitere Entwicklung auf diesem Gebiet betrifft die Frage der "Hinweise" - wie ist bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit mit "negativen" und "positiven" Hinweisen in einer bestimmten Richtung umzugehen? Im Fall Seretide befand das Gericht, dass es bei der Beurteilung, ob die Erfindung naheliegt, nicht um die Aufrechnung von "positiven" und "negativen" Hinweisen gehe, denn der Fachmann würde einem "positiven" Hinweis folgen und sich nicht durch einen bloßen "negativen" Hinweis beirren lassen, es sei denn er hätte ein entsprechendes Vorurteil. Im Fall Nexium gab es jedoch den negativen Hinweis, dass früheren Forschungsarbeiten zufolge kein Enantiomer von Losec bessere Eigenschaften aufwies, und unter anderem damit begründete das Gericht sein Urteil, dass die Erfindung in diesem Fall nicht nahe gelegen habe; allerdings klärte es nicht, ob dies möglicherweise ein Vorurteil darstellte.
Grenzüberschreitende Praxis nach Solvay gegen Honeywell
- Bezirksgericht 22. Dezember 2010 Solvay gegen Honeywell – Vorfragen an den EuGH
- EuGH 12. Juli 2012 Solvay gegen Honeywell, Fall C-616/10
Das Bezirksgericht Den Haag hatte den EuGH um Zustimmung zu seiner gängigen grenzüberschreitenden Praxis gebeten, die es nach GAT gegen LuK und Roche gegen Primus jedoch nur noch in Vorverfahren anwendet. Der EuGH sprach sich für die gängige grenzüberschreitende Praxis der Niederlande im Hinblick auf einstweilige Maßnahmen aus und öffnete (erneut) die Tür für grenzüberschreitende einstweilige Verfügungen in Hauptsacheverfahren, die bedingt möglich sein sollen. Das Gericht hat die Entscheidung im Fall Roche gegen Primus offenbar eingeschränkt.
Solvay hatte eine niederländische und zwei belgische Honeywell-Unternehmen wegen angeblicher Patentverletzung mit den gleichen Erzeugnissen in allen Benennungsstaaten verklagt und eine grenzüberschreitende einstweilige Verfügung für die Dauer des Hauptsacheverfahrens beantragt. Das Bezirksgericht verwies Fragen zu Artikel 6 (1), 22 (4) und 31 der Brüssel-I-Verordnung (Nr. 44/2001) an den EuGH.
Zu "widersprechenden Entscheidungen" im Sinne von Artikel 6 (1) der Brüssel-I-Verordnung kann es in Situationen wie in Solvay gegen Honeywell kommen, wenn solchen Beklagten "in einem vor einem Gericht eines dieser Mitgliedstaaten anhängigen Verfahren gesondert vorgeworfen wird, denselben nationalen Teil eines europäischen Patents, wie es in einem weiteren Mitgliedstaat gilt, durch die Vornahme vorbehaltener Handlungen in Bezug auf dasselbe Erzeugnis verletzt zu haben". Der EuGH befand, dass es Sache des vorlegenden Gerichts sei, unter Berücksichtigung aller sich aus den Akten ergebenden relevanten Umstände zu prüfen, ob eine solche Gefahr widersprechender Entscheidungen besteht. Die Entscheidung darüber, was unter Berücksichtigung der speziellen Umstände des vorliegenden Falls "die gleiche Rechts- und Sachlage" begründet, scheint daher nun weitestgehend den nationalen Gerichten zu obliegen.
Die Entscheidung des EuGH macht zudem deutlich, dass die Entscheidung im Fall GAT gegen LuK nicht auf einstweilige Maßnahmen anwendbar ist: "Artikel 22 Nr. 4 (…) ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens der Anwendung von Artikel 31 (…) nicht entgegensteht." Somit hat der spezifische Anwendungsbereich von Artikel 22 (4) keine Auswirkungen auf die Anwendung von Artikel 31 der Brüssel-I-Verordnung. Der EuGH erklärte, dass der Sinn von Artikel 22 (4) – Vermeidung von widersprechenden Entscheidungen – durch vorläufige Entscheidungen des Gerichts nicht in Frage gestellt wird, da die vorläufige Entscheidung in keiner Weise der Entscheidung vorgreift, die das nach Artikel 22 (4) zuständige Gericht in der Hauptsache zu treffen hat, und genau dieser Argumentation folgen die niederländischen Patentgerichte seit GAT gegen LuK.
Erstens scheint die EuGH-Entscheidung die grenzüberschreitende Praxis bei einstweiligen Maßnahmen, die seit GAT gegen LuK und Roche gegen Primus in den Niederlanden entwickelt und über die bereits auf den Symposien in Thessaloniki (2006) and Bordeaux (2008) berichtet wurde, klar zu bestätigen. Sie findet nun auch bei Beklagten aus anderen Ländern Anwendung. Allerdings besteht hier eine gewisse Restunsicherheit, weil der EuGH die Frage 2 so umformuliert hat, wie es vom Bezirksgericht Den Haag wahrscheinlich nicht beabsichtigt war, denn ihm lagen bereits Entscheidungen auf der Grundlage von Artikel 2 bis 6 der Brüssel-I-Verordnung vor, Entscheidungen auf der Grundlage von Artikel 31 hatte es jedoch noch nicht. Aber die Argumentation ist wohl auch bei Entscheidungen auf Grundlage von Artikel 31 anwendbar.
Zweitens eröffnet die Entscheidung zu Artikel 6 offenbar erneut die Möglichkeit, Personen aus verschiedenen Ländern gemeinsam vor einem nationalen Gericht zu verklagen, wenn es in der Hauptsache um eine typische Situation wie im vorliegenden Fall geht und widersprechende Entscheidungen "in der gleichen Rechts- und Sachlage" vermieden werden sollen; diese Frage ist vom betreffenden nationalen Gericht zu klären. Es liegt die Schlussfolgerung nahe, dass der EuGH damit den Gerichten die Zuständigkeit in solchen Fällen zugesprochen hat, wo gegen ausländische Tochterunternehmen als Zweitbeklagte Verletzungsklage erhoben wird und das Unternehmen mit Sitz in dem Land, in dem die Klage anhängig gemacht wird, verletzendes Material an diese Tochterunternehmen geliefert hat, die das Material in ihren jeweiligen Ländern anbieten. Dies ist offenbar ein kleiner Fortschritt.
Behandlung von Standards in den Niederlanden – Sony gegen LG und Apple gegen Samsung
- Bezirksgerichtspräsident 10, März 2011 Sony gegen LG
- Bezirksgericht 14. März 2012 Samsung gegen Apple
Wie auf dem Symposium in Lissabon (2010) berichtet, wurde im niederländischen Orange-Book-Fall (Urteil des Bezirksgerichts im Fall Philips gegen SK Kassetten vom 17. März 2010) dem Recht auf Durchsetzung eines wesentlichen Patents auf einen Standard erstmalig ein FRAND-Einwand entgegengehalten.
In diesem Fall ging die Argumentation dahin, dass der Patentinhaber sein Patent nicht geltend machen könne, weil er zur Erteilung einer Lizenz zu FRAND-Bedingungen verpflichtet sei. SK Kassetten hatte mehrere wesentliche Patente von Philips auf dem Gebiet der CD- und DVD-Technologie verletzt, für die der Orange-Book-Standard gilt. Das Bezirksgericht befand, dass, solange noch keine Lizenz erteilt worden sei, keine Rechtsgrundlage bestehe, die die Nutzung der patentierten Technologie gestatten oder die der Durchsetzung der fraglichen Patente entgegenstehen würde. SK Kassetten hätte vor dem Einsatz der Technologie eine FRAND-Lizenz beantragen müssen. Wenn der Antrag auf Erteilung einer solchen Lizenz abgelehnt werde, bestehe immer noch die Möglichkeit, in einem Kort-geding-Verfahren eine Zwangslizenz für die Dauer des Hauptverfahrens zu beantragen. Diese Entscheidung unterschied sich vom BGH-Urteil zum Orange-Book-Standard. Das niederländische Gericht hat das deutsche Urteil verworfen, weil es dem niederländischen Recht zu Zwangslizenzen zuwiderläuft und zu Rechtsunsicherheit führt. Die Entscheidung im Fall Philips gegen SK Kassetten hat deutlich gemacht, dass das Gericht in Ausnahmefällen auch anders urteilen könnte, unter besonderen Umständen sind also Ausnahmen von der allgemeinen Regel möglich, dass kein Rechtsgrund der Durchsetzung eines Patents entgegensteht, solange keine Lizenz erteilt wurde.
Im Fall Sony gegen LG vor dem Bezirksgericht vom 10. März 2011, wo es um den Blu-Ray-Standard ging, stritten die Parteien Sony und LG darüber, ob Sony zu einer FRAND-Lizenzvereinbarung bereit war; LG hatte in einem Ex-parte-Verfahren die Beschlagnahme von PS3-Konsolen von Sony erwirkt und dabei seine wesentlichen Patente geltend gemacht. Im folgenden Inter-partes-Verfahren zur Aufhebung der Beschlagnahme wurde bekannt, dass immer noch über eine FRAND-Lizenz verhandelt wurde. Der Bezirksgerichtspräsident sah in diesem Fall eine Ausnahme von der allgemeinen niederländischen Orange-Book-Regelung, da beide Parteien der Standardorganisation angehörten und an deren Statuten gebunden seien, zu denen auch die Regel gehöre, dass letztlich ein Schiedsrichter entscheidet, wenn die Parteien sich nicht auf FRAND-Bedingungen einigen können. Am Ende käme es also auf jeden Fall zu einer Lizenzvereinbarung, und zudem werde noch verhandelt. Unter diesen Umständen (Verhandlungen oder Schiedsspruch) könne keine Patentverletzung festgestellt werden.
In der Sache Samsung gegen Apple vor dem Bezirksgericht vom 14. März 2012 berief sich Samsung auf vier (von 103) wesentliche Patente betreffend den UMTS/3G-Standard und beantragte eine einstweilige Verfügung gegen das iPhone sowie das iPad von Apple und verlangte Schadenersatz. Bei der Prüfung der nichttechnischen Entgegenhaltung von Apple ging das Bezirksgericht erneut von der Entscheidung im Fall Philips gegen SK Kassetten aus: Die bloße Verpflichtung zur Einhaltung von FRAND-Bedingungen bedeutet nicht, dass der Patentinhaber seine Patente nicht durchsetzen kann. Allerdings stellte auch dieser Fall eine Ausnahme dar. Das Gericht urteilte, dass angesichts der laufenden Verhandlungen zwischen den Parteien über eine FRAND-Lizenz die Beantragung einer einstweiligen Verfügung einen Rechtsmissbrauch darstelle oder eine Verletzung der vorvertraglichen Pflicht, im guten Glauben zu verhandeln. Nach Auffassung des Gerichts setzt die Androhung einer einstweiligen Verfügung, während noch im guten Glauben verhandelt wird, die Gegenseite unberechtigterweise unter Druck, dem FRAND-Grundsatz zuwiderlaufende Bedingungen zu akzeptieren. Das Argument des Unternehmens Samsung, dass es eine einstweilige Verfügung beanspruchen könne, weil Apple nicht im guten Glauben verhandelt habe, wurde verworfen. Die Tatsache, dass Apple bereits Produkte nach dem 3G-Standard vertreibe, rechtfertige die Durchsetzung nicht, denn Samsung habe dies ausdrücklich geduldet, und sobald das Unternehmen habe erkennen lassen, dass es dies künftig nicht mehr tun werde, habe Apple sofort eine Lizenz beantragt. Zur Frage, ob das Gegenangebot von Apple den FRAND-Bedingungen entsprach, äußerte sich das Gericht nicht, es prüfte lediglich, ob Apple mit diesem Gegenangebot seine Pflicht zur Verhandlung im guten Glauben verletzt hatte, und befand, dass dies unter den speziellen Umständen nicht der Fall gewesen sei.
Nach Auffassung des Gerichts hatte Apple bis dahin also im guten Glauben gehandelt, während Samsungs Antrag auf Durchsetzung einen Rechtsmissbrauch darstellte. Sobald sich die Umstände änderten, könnte der Unterlassungsanspruch jedoch wiederhergestellt werden.
Zusammengefasst: Nach niederländischem Recht kann die Durchsetzung eines wesentlichen Patents in zwei Situationen einen Missbrauch darstellen:
- - Durchsetzung wesentlicher Patente, während im guten Glauben über FRAND-Lizenzen verhandelt wird (solange kein Mangel an gutem Glauben oder ein Rechtsmissbrauch der angeblich patentverletzenden Partei zu erkennen ist)
- - Nichteinhaltung der FRAND-Grundsätze (der Gegenseite wird unzureichend Gelegenheit zum Abschluss eines FRAND-Lizenzvertrags gegeben, z. B. durch die Ablehnung von Verhandlungen, ein unangemessen hohes Angebot oder andere außergewöhnliche oder unangemessene Vertragsbedingungen)
Die technischen Fragen wurden übrigens in drei anderen Urteilen des Bezirksgerichts vom 20. Juni 2012 behandelt. Dies war für die Schadenersatzforderung von Bedeutung. Das Gericht stellte fest, dass im Fall des Multiplexers und der UMTS Happy Bits keine Verletzung vorlag, im Fall des Multiplexers bestätigte es jedoch die Verletzung.
Berufungsgericht passt die Entscheidung im Fall Olanzapin an die gängige Rechtsprechung (UK, DE, US, ES) an
- Berufungsgericht 27. September 2011 Lilly gegen Ratiopharm
Das Berufungsgericht verwarf die Entscheidung des Bezirksgerichts und erklärte das Patent auf Olanzapin für gültig. Laut Gericht wurde Olanzapin in der Schauzu-Veröffentlichung nicht offenbart. Selbst wenn, wie das Bezirksgericht ausgeführt hatte, der Fachmann versucht wäre, einen Fehler in Schauzu zu korrigieren, würde er feststellen, dass Schauzu auf Flumepazin und nicht auf Olanzapin ausgerichtet war, und daher sah das Gericht Olanzapin als neu an. Weiter stellte es klar, dass bei Auswahlerfindungen keine speziellen Regelungen hinsichtlich Naheliegen gelten (zur Neuheit von Auswahlerfindungen hingegen gibt es solche Regelungen), sprach sich jedoch dafür aus, "auch auf diesem Gebiet" den Aufgabe-Lösungs-Ansatz anzuwenden. Das Gericht befand, das Patent sei angesichts des allgemeinen Fachwissens des Fachmanns gegenüber Chakrabarty 1980 und 1982 sowie GB '235 nicht naheliegend. Keines der angeführten Dokumente enthalte Hinweise darauf, dass Olanzapin die gewünschte Kombinationswirkung hätte, also die Wirkung als Antipsychotikum ohne die Nebenwirkungen von EPS und Agranulozytose. In Bezug auf die in der Patentanmeldung erforderlichen Belege für die technische Wirkung von Olanzapin befand das Gericht, dass "im Allgemeinen" In-vitro-Experimente genügten, um die Plausibilität der beanspruchten therapeutischen Wirkung oder das Nichtvorhandensein von Nebenwirkungen zu demonstrieren, was im Übrigen dem Ansatz des EPA und der niederländischen Rechtsprechung entspricht. Zudem stellte es fest, dass die Beschreibung weit über dieses Minimum hinausgehe, da sie vergleichbare wissenschaftliche Forschungsarbeiten, in denen Olanzapin direkt mit Flurnezapin und Ethylolanzapin verglichen wurde, einbeziehe. Ferner war die Akte in der Anmeldephase mit einem SPC sowie Genehmigungen für das Inverkehrbringen ergänzt worden, was das Gericht als weitere Stützung der beanspruchten Kombination von therapeutischer Wirkung und Nichtvorhandensein unerwünschter Nebenwirkungen wertete.
Fall Europäische Zentralbank: Berufungsgericht widerruft DSS-Patent
- Berufungsgericht 21. Dezember 2010 ECB gegen DSS – DSS-Patent wegen Erweiterung des Schutzgegenstands für nichtig erklärt
Ein weiterer Fall, in dem die Entscheidung des Bezirksgerichts verworfen wurde. Das Gericht widerrief das Patent wegen Erweiterung des Schutzgegenstands und bemerkte, dass zwischen den verschiedenen europäischen Gerichten, d. h. dem UK High Court und dem Court of Appeal, dem deutschen BGH, dem französischen Bezirksgericht und Berufungsgericht, dem belgischen Bezirksgericht und dem Österreichischen Patentamt, offenbar ein breiter Konsens darüber bestehe, wie die Prüfung auf eine Erweiterung durchzuführen sei.