BERICHTE NATIONALER RICHTER
IT Italien
Massimo SCUFFI - Vorsitzender Richter und Mitglied der Beschwerdekammer des Italienischen Patent- und Markenamtes - Jüngste Entwicklungen im Patentrecht und in der Rechtsprechung auf europäischer und nationaler Ebene1
1. Der italienische Rahmen und der gerichtliche Schutz der gewerblichen Rechte (IPR) in Italien
Bekanntlich handelt es sich beim europäischen Patent um ein "Bündel" nationaler Patente, das den Nichtigkeitsgründen und Verletzungsvorschriften der Rechtsordnung des Landes unterliegt, in dem es in Kraft ist. In Italien werden Streitigkeiten im Zusammenhang mit europäischen Patenten entsprechend dem Lex fori, das für den nationalen Teil dieser Patente gilt, gemäß dem italienischen Gesetz über das gewerbliche Eigentum (IPC)2 verhandelt, sie fallen in die alleinige Zuständigkeit von Gerichten (der ersten und zweiten Instanz)3, die auf den gewerblichen Rechtsschutz spezialisiert sind. Diese Gerichte bestehen in 12 Gerichtsbezirken mit einer hohen Intensität der Wirtschaftstätigkeit4 und sind mit ausgewählten Richtern besetzt, die über beachtliche Erfahrungen und Kenntnisse in Fragen des gewerblichen Rechtsschutzes verfügen.
Angesichts der hervorragenden Bilanz dieser Gerichte beschloss der italienische Gesetzgeber vor kurzem eine Reform des Systems5, in deren Verlauf die Gerichte auf das gesamte Hoheitsgebiet Italiens verteilt und ihre Zuständigkeit unter anderem auf das Gesellschafts- und das Wettbewerbsrecht ausgedehnt wurden. Ab September 2012 wird es 21 "Unternehmensgerichte" geben, die ihren Sitz in den Hauptstädten der italienischen Regionen haben werden.6
Außerdem wurden im Interesse der Verkürzung der derzeit noch übermäßig langen Verfahren neue Regelungen7 eingeführt, die auch für Patentverfahren gelten, so beispielsweise
- ein "Zulässigkeitsfilter" für Beschwerden, die auf den ersten Blick zur Feststellung des Mangels an realistischer Erfolgsaussicht führen (dieses System ähnelt dem angelsächsischen "leave to appeal" [Zulassung eines Rechtsmittels]);
- das vollständige Verbot der verspäteten Einreichung neuer Unterlagen auch in Fällen, in denen sie von wesentlicher Bedeutung sind, sofern die Partei nicht nachweisen kann, dass sie sie aus anderen Gründen als der eigenen Nachlässigkeit nicht umgehend einreichen konnte (obwohl es gemäß dem italienischen Gesetz über das gewerbliche Eigentum (IPC) zu Experten bestellten Personen gestattet ist, neue Unterlagen von Parteien entgegenzunehmen, auch wenn sie nicht zuvor eingereicht worden waren);
- Begrenzung der Beschwerdeeinreichung auf den italienischen Kassationshof, so dass sie nunmehr lediglich im Falle eines Gesetzesverstoßes gestattet ist, ausgenommen jedoch eine widersprüchliche Begründung oder Begründungsmangel.
Die Tätigkeit der mit Patentrechtssachen befassten Gerichte betrifft hauptsächlich "einstweilige Maßnahmen", die auf der Grundlage der beiden Grundsätze "fumus boni iuris" und "periculum in mora" erlassen werden; von der Struktur her besteht vollständige Übereinstimmung mit den Bestimmungen von TRIPS8 und TRIPS-plus.9
Die wichtigsten Vorsorgemaßnahmen umfassen die "Beschlagnahme zur späteren Verwendung als Beweismittel" (Anordnung zur Sicherung von Beweismitteln), die "Sicherungsbeschlagnahme" ("Sicherungsbeschlagnahme" und "Beschlagnahme zur späteren Verwendung als Beweismittel" können gleichzeitig beantragt werden, jedoch bedingt die Annahme der einen Maßnahme den Ausschluss der anderen) und die "einstweilige Verfügung" (ein Unterlassungsgebot in Form einer Aufforderung zur Unterlassung; sie wird mithilfe von Geldstrafen bei Nichtbefolgung oder Verzögerung durchgesetzt (Zwangsgelder) und durch Veröffentlichungen der Entscheidung in Zeitungen und Zeitschriften untersetzt). Auf diese Maßnahmen greifen auch Inhaber von anhängigen Patentanmeldungen zurück oder sie werden in dem Zeitraum genutzt, in dem das europäische Patent bis zum Einreichen der Übersetzung in Italien nicht in Kraft treten kann.
Seit der letzten Überarbeitung des italienischen Gesetzes über das gewerbliche Eigentum (zuvor war die Rechtsprechung uneinheitlich) können die Rechtssubjekte eine Feststellung der Nichtverletzung erwirken, ebenfalls als Vorsorgemaßnahme.
Zu den einstweiligen Rechtsbehelfen gehören der "dingliche" Arrest und Anordnungen zur Offenlegung von Finanz-, Handels- oder Bankunterlagen des Rechtsverletzers, der "Rückruf" von Waren aus den Handelsströmen oder die Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber Dritten, die rechtsverletzende Waren besitzen oder an ihrer Herstellung beteiligt sind, um mittels einer formalen Prüfung, die strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen kann, Informationen über die Herkunft und den Vertrieb dieser Waren zu erhalten.
Für einige dieser Dringlichkeitsmaßnahmen ist "Dauerhaftigkeit" charakteristisch, d. h. die einstweilige Maßnahme bleibt auch dann wirksam, wenn bis zum Ablauf einer bestimmten Frist auf Veranlassung des Beklagten keine ordentliche Klage eingereicht wird.
Die Maßnahme hat Ähnlichkeit mit dem niederländischen "kort geding" oder dem französischen "référé", doch besteht keine Verpflichtung - zumindest was die einstweilige Verfügung betrifft -, nachfolgend ein umfassendes Verfahren zu eröffnen (obwohl im TRIPS-Übereinkommen und in der Durchsetzungsrichtlinie ein Verfahren in der Sache vorgeschrieben ist).
All diese Maßnahmen können "ex parte" und "ad horas" gewährt werden (sie müssen jedoch nach der Anhörung aller Parteien binnen 15 Tagen nach Erlass der betreffenden Anordnung bestätigt, geändert oder widerrufen werden), und gegen sie kann (ohne aufschiebende Wirkung) innerhalb von 30 Tagen vor einem Gremium von drei Richtern (dem der Richter, der die angefochtene Entscheidung erlassen hat, natürlich nicht angehören kann) Beschwerde eingelegt werden.
Summarische Verfahren veranlassen die Parteien häufig zur Streitbeilegung, da die entsprechenden Maßnahmen mit all jenen Garantien verbunden sind, die die Ausschöpfung des Rechtsweges bieten würde.
Ferner ist es noch vor einem Rechtsverfahren möglich, auf gerichtlichem Weg eine schnelle technische Bewertung der Gültigkeit, des Umfangs der Rechtsverletzung und des entstandenen Schadens zu erhalten und den Gerichtspräsidenten um das Einsetzen eines Sachverständigen zu ersuchen, der eine erste Auswertung der im laufenden Verfahren zur Beurteilung anstehenden Sachverhalte vornimmt.
Dieser Rahmen ermöglicht es, eine für alle Seiten annehmbare Lösung zu finden und sie anschließend in einem gesonderten Dokument festzuschreiben, das die Vereinbarung verkörpert, die die Grundlage für die richterliche Vollstreckbarkeit bietet.
Wird im Verlauf des Verfahrens in der Sache ein Verstoß festgestellt (nach der Abweisung der Klage zur Feststellung/Beanstandung der Nichtigkeit des Patents), ist der Gerichtshof befugt, zivilrechtliche Strafen ("korrigierende Maßnahmen") zu verhängen; dazu können endgültige Verfügungen, Veröffentlichung der entsprechenden Teile des Richterspruchs, endgültiges Vom-Markt-Nehmen oder Vernichten der rechtsverletzenden Produkte, Übertragung des Eigentums auf den Patentinhaber und Ersatz des entstandenen Schadens gehören.
Klagen auf Schadenersatz nehmen in Italien zu, wobei zur Festsetzung der Höhe des Schadenersatzes drei Kriterien herangezogen werden, mit denen alle nachteiligen wirtschaftlichen Folgen und immateriellen Schäden berücksichtigt werden.
Grundsätzlich handelt es sich bei den Kriterien um entstandene Kosten und entgangene Einnahmen aufseiten des Inhabers der gewerblicher Schutzrechte, den Einzug der durch den Rechtsverletzer erzielten Gewinne (diese Kriterien gelten alternativ, nicht kumulativ, denn im kontinentaleuropäischen Rechtssystem werden Schäden nur ersetzt, die Maßnahme trägt keinen strafenden Charakter) sowie den Betrag der ausgehandelten oder als angemessen bewerteten Lizenzgebühren.
2. Das Verhältnis von Verfahren des Europäischen Patentamtes (EPA) und Verfahren auf nationaler Ebene
Für italienische Gerichte mit der Spezialisierungsrichtung gewerbliches Eigentum stellen EPA-Verfahren feste Bezugspunkte dar, wenn zu entscheiden ist, ob einstweilige Maßnahmen zugelassen oder abgelehnt werden sollen10, obgleich sie in nachfolgenden Verfahren in der Sache nicht an die Schlussfolgerungen des EPA gebunden sind, die einer völligen (Neu-)bewertung der Gültigkeit eines Patents nach nationalem Recht nicht entgegenstehen (natürliches Ergebnis des "Aufteilens" des europäischen Patents nach seiner Erteilung auf eine Vielzahl nationaler Patente, die einer Vielzahl nationaler Rechtsvorschriften unterliegen und von einer Vielzahl nationaler Streitbeilegungsregelungen geschützt werden).
Technische Untersuchungen und Rechtsgutachten auf europäischer Ebene, oder allgemeiner gefasst, die auf dem Erfahrungsschatz der Beschwerdekammern basierende Rechtsprechung, haben im Allgemeinen eine enorme Bedeutung bei vorsorglich durchgeführten Verfahren, bei denen die Dringlichkeit des Falles keine Zeit lässt für die vorherige Ernennung eines Sachverständigen für eine erste technische Begutachtung der Gültigkeit des strittigen Patents.
Im Übrigen ist festzustellen, dass das Münchener Übereinkommen (EPÜ) keine Koordinierungskriterien vorgibt, wie sie für die Gemeinschaftsrechte vorliegen.
Aus diesem Grund gibt es keine Vorschriften für die Aussetzung von Verfahren auf nationaler Ebene, wenn verwaltungsmäßige oder gerichtliche EPA-Verfahren anhängig sind, besonders im Fall eines nach der Patenterteilung erfolgten (verspäteten) Widerspruchs.11
Die Beschwerdekammern des EPA können nicht als vergleichbar mit den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten angesehen werden. Sie sind Gremien der internationalen Organisation, in deren Rahmen12 sie tätig sind, und können in dieser Eigenschaft Gerichtsverfahren zur Gewährung autonomen Schutzes des nationalen Teils eines europäischen Patents nicht verhindern.
Derzeit scheint das einzige Rechtsmittel für die Koordinierung von Verfahren (und das Erzielen von Zeitersparnis) darin zu bestehen, um Beschleunigung des europäischen Verfahrens zu ersuchen.13
3. Grenzüberschreitende Verfahren
Die italienische Rechtsprechung besitzt keine gesamteuropäische Zuständigkeit für die Gewährung grenzüberschreitenden Schutzes europäischer Patente, deren nationale Teile in einem der Mitgliedstaaten verletzt worden sind.
Es wird davon ausgegangen, dass die Entscheidung über eine Rechtsverletzung eng mit der Entscheidung über die Patentgültigkeit zusammenhängt, die nach dem Grundsatz der ausschließlichen Zuständigkeit gemäß Artikel 16 Absatz 4 des Brüsseler Übereinkommens (jetzt Artikel 22 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001) im Vorfeld getroffen werden muss.14
Ungeachtet dessen haben einige italienische Gerichte bei der Sicherung von Beweismitteln in dringenden Fällen einen anderen Ansatz gewählt und berufen sich auf Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 über die justizielle Zusammenarbeit, um im Zusammenhang mit bei einem italienischen Händler festgestellten rechtsverletzenden Produkten zu erwirken, dass ein Beschluss über die "Beschlagnahme zur späteren Verwendung als Beweismittel" in einem anderen Mitgliedstaat umgesetzt wird.
In Verbindung mit "Torpedoklagen" ist diese Praxis durch Urteile in der Sache stets verhindert worden, und zwar aus den folgenden zwei Hauptgründen:
- gemäß dem durch das EPÜ geschaffenen Rechtsrahmen umfasst die Zuständigkeit der nationalen Gerichte allein den nationalen Teil des europäischen Patents; die Gerichte sind somit nicht befugt, die Nichtverletzung in Bezug auf Tätigkeiten außerhalb des Hoheitsgebiets des eigenen Staates festzustellen;15
- die Durchsetzung von Artikel 5 Absatz 3 des Brüsseler Übereinkommens erfordert das Auftreten eines schädigenden Ereignisses, während die Person, die die Feststellung der Nichtverletzung erwirken möchte, das Auftreten eines solchen Ereignisses bestreitet, so dass es unmöglich ist, vom allgemeinen Grundsatz des Wohnsitzes des Beklagten abzuweichen.16
4. Auslegung von Patenten und Akteninhalt
Bei der Auslegung von Patenten orientieren sich die italienischen Gerichte am "Rahmen der Ansprüche", wonach die Auslegung der europäischen Patente innerhalb der Schutzgrenzen stattfindet, deren Grundlage der "Schutzumfang" der Ansprüche bildet.17
Dieses System wird auf alle Patentkategorien angewendet. Es beruht auf den Auslegungsregeln der EPA, die bestimmen, dass der Umfang des Patentschutzes allein von den Ansprüchen abhängt (die allerdings entsprechend der Beschreibung und den Zeichnungen ausgelegt werden müssen), so dass kein Schutz gewährt werden kann für Details, die in der Beschreibung genannt werden, für die aber kein Anspruch angemeldet wurde.
Hinsichtlich der Auslegung der Patentansprüche wird der "Akteninhalt" (bzw. Präklusion aufgrund der Verfahrensgeschichte [prosecution history estoppel]) in der italienischen Rechtsprechung nicht durchgehend berücksichtigt, so dass den Anmeldeunterlagen beigefügte Dokumente bei der rechtlichen Auslegung nicht als zusätzliches Kriterium gewertet werden, da Verzichtserklärungen und im Verlauf von Genehmigungs-, Widerspruchs- oder Einspruchsverfahren abgegebene beschränkende Erklärungen nur dann wirksam sind, wenn sie im endgültigen Wortlaut des Patents vorkommen.18
Nationale Fälle, in denen der Akteninhalt Berücksichtigung fand (beispielsweise auf der Grundlage von Unterlagen, die im Zuge der Anmeldung auf europäischer Ebene als Reaktion auf Einwände des EPA-Prüfers vorgelegt wurden, oder in Verbindung mit Beschränkungen, die aus dem europäischen Erteilungsverfahren resultierten), sind zahlenmäßig noch sehr begrenzt.19
Der "Erfindungsgedanke" kann jedoch nicht im Nachhinein aus auf die Verhinderung der Patentfähigkeit gerichteten Ableitungen der Verfahrensbeteiligten oder aus technischen Untersuchungen durch vom Gericht berufene Sachverständige rekonstruiert werden, sondern muss einer eindeutigen und vollständigen Beschreibung der Erfindung zu entnehmen sein.
Es wurde festgestellt, dass die Ermittlung des Umfangs des Patentschutzes nicht dazu führen kann, dass die Patentansprüche auf der Grundlage des Verlaufs des Erteilungsverfahrens neu abgefasst werden, um die Wirkung des Standes der Technik zu umgehen, da dies auf die Einführung eines Unsicherheitselements hinauslaufen würde.20
5. Äquivalenzlehre
Der Akteninhalt ist strikt als Ergänzung der Äquivalenzlehre, für die keine allgemein anerkannte Definition vorliegt, anzusehen.
In der Rechtsprechung der auf gewerbliches Eigentum spezialisierten Gerichte wurde in der Frage der Äquivalenz kein kreativer Konsens gefunden, so dass sie weiterhin uneinheitlich behandelt wird.
In der Praxis wird in der Rechtsprechung der aus den USA stammende Grundsatz des dreifachen Tests (FWR) angewendet, obwohl in einigen Entscheidungen auch auf die Bedeutung von Sachverständigen-Gutachten zum Inhalt der Erfindung hingewiesen wird; häufig werden diese beiden Ansätze auch miteinander verbunden.21
Hinzuzufügen ist, dass der für die Lösung des Äquivalenzproblems als Maßstab heranzuziehende durchschnittliche Fachmann nicht jemand sein kann, der lediglich zur Anwendung der Lösung in der Lage ist, die der Stand der Technik bietet, sondern er muss auch so kompetent sein, dass er unter der Voraussetzung, dass dies das normale fachmännische Können nicht übersteigt, den Stand der Technik weiterentwickeln kann.22
Die Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Merkmalen einer Erfindung ist von zentraler Bedeutung bei der Bestimmung des "Erfindungsgedankens" sowie bei der Feststellung, ob dieser Gedanke in den "ursprünglichen und charakteristischen Elementen" vorkommt, unabhängig von äußeren Wesensmerkmalen, Zubehörteilen oder zweitrangigen Elementen (auch bei Weiterentwicklungen).23
Der Oberste Gerichtshof Italiens urteilte, dass eine Rechtsverletzung auch dann vorliegt, wenn nur wenige Merkmale kopiert werden, sofern diese Merkmale einen charakteristischen Teil oder das "Herz" der Erfindung betreffen. Dies hat zur Folge, dass Varianten (eines Produkts oder Prozesses), die diesen Teil der Erfindung einbeziehen, eine Rechtsverletzung darstellen.24
Die italienische Rechtsprechung bemüht sich um einen Kompromiss zwischen der Bewertung einer Erfindung in ihrer "Gesamtheit" und der Anerkennung der "einzelnen Elemente" der Ansprüche, deren fundamentale Funktion bei der Auslegung des Patents berücksichtigt wird.
Mit Blick auf das durch das Patent zu lösende technische Problem sollten die Bestandteile der Erfindung nicht nur analytisch, sondern auch in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, weil ein auf die einzelnen Elemente begrenzter Vergleich nichts als eine Feststellung baulicher Unterschiede wäre.25
Eine solche Unterscheidung fehlt in der Neuauflage des EPÜ 2000, in deren neu gefasstem Protokoll Folgendes festgelegt wurde: "Bei der Bestimmung des Schutzbereichs des europäischen Patents ist solchen Elementen gebührend Rechnung zu tragen, die Äquivalente der in den Patentansprüchen genannten Elemente sind". Diese Regel bestätigt die Notwendigkeit, Äquivalenz stärker als Merkmal jedes einzelnen Elements und nicht des "allgemeinen Erfindungsgedankens" zu betrachten.
Äquivalenz erfordert "Verwandtschaft" von Varianten, die sich durch Offensichtlichkeit, gedankliche Ähnlichkeit und das Fehlen eines erfinderischen Beitrags auszeichnen. Einer Feststellung des Obersten Gerichtshofs zufolge muss Äquivalenz ausgeschlossen werden, falls die angefochtene Lösung, die zum selben Ergebnis führt, sich durch Kreativität auszeichnet und eine Lösung anbietet, die aus der patentierten Lösung "weder hervorgeht noch diese kopiert".26
Die für gewerbliches Eigentum zuständigen Abteilungen haben sich wiederholt zu diesem Grundsatz bekannt, so dass festgestellt werden kann, dass sich im Sinne der Äquivalenz unterschiedliche Lösungen für dasselbe technische Problem nicht nur nicht überschneiden dürfen, sondern dass die mutmaßlich rechtsverletzende Vorrichtung im Vergleich zur vorliegenden Lösung auch keine originelle Lösung anbieten darf.27
6. Evolutionäre und mittelbare Rechtsverletzung
Während eine Rechtsverletzung durch Äquivalenz allein dadurch auftritt, dass die Ähnlichkeit der mutmaßlich rechtsverletzenden Vorrichtung unbestritten ist, kann in Fällen, in denen die Vorrichtung das Ergebnis einer erfinderischen Tätigkeit ist, welche die Lösung des bereits vorhandenen Patents durch Vereinfachung oder Weiterentwicklung aufgreift, eine Rechtsverletzung nicht ausgeschlossen werden.
Dies trifft im Fall der evolutionären Rechtsverletzung zu, bei der für die "abgeleitete" Erfindung weder die Zustimmung des Inhabers des vorherigen Patents eingeholt noch eine Zwangslizenz erworben wurde.
Das Urteil in der Rechtssache Epilady28 bietet hierfür einen Präzedenzfall, doch entwickeln einige dieser Fälle in Patentstreitigkeiten über "standardessenzielle" Patente und FRAND-Lizenzen (fair und diskriminierungsfrei) eine neue Dynamik, womit auch Auswirkungen auf das Wettbewerbsrecht zusammenhängen.
Nicht zuletzt muss die mittelbare Rechtsverletzung erwähnt werden, bei der es sich um einen Bereich handelt, der sich kontinuierlich fortentwickelt.
Im italienischen Gesetz über das gewerbliche Eigentum finden sich keine besonderen Vorschriften in Bezug auf mittelbare Rechtsverletzungen, jedoch sieht es die Haftung Dritter vor, z. B. zwischengeschalteter Personen oder Intermediäre. Des Weiteren ist es innerhalb der Richterschaft inzwischen üblich, bei der Unterbindung zivilrechtlicher Delikte den allgemeinen Grundsatz der "gleichzeitigen Haftung" anzuwenden.
Die italienische Rechtsprechung sieht vorläufige Maßnahmen für das Vorgehen gegen die zur Umsetzung rechtsverletzender Waren eingesetzten "Mittel" vor, die auch gegen Anbieter ergriffen werden können, die vom Einsatz dieser Mittel Kenntnis hatten (oder aufgrund ihrer Stellung davon Kenntnis haben mussten).29
Jedoch ist ein eindeutiger Nachweis dieser Kenntnis erforderlich, wenn die Mittel auch für andere, nicht rechtsverletzende Anwendungen geeignet sind, doch liegt die Kenntnis "implizit" vor, wenn die Mittel "unzweideutig dafür bestimmt sind", für die Rechtsverletzung "genutzt zu werden".30
1 Aktualisierter Auszug aus einem Vortrag, der auf dem Symposium "Die nationale Patentgerichtbarkeit in Europa" anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Bundespatentgerichts gehalten wurde (München, Juli 2011).
2 Gesetzesdekret Nr. 30 vom 2. Februar 2005.
3 Gesetzesdekret Nr. 168 vom 27. Juni 2003.
4 Bari, Bologna, Catania, Florenz, Genua, Mailand, Neapel, Palermo, Rom, Turin, Triest und Venedig.
5 Gesetz Nr. 27 vom 24. März 2012.
6 Die Lombardei und Sizilien verfügen über jeweils zwei Gerichte.
7 Gesetz Nr. 134 vom 7. August 2012.
8 Alle EU-Mitgliedstaaten und die Europäische Union selbst sind Vertragsparteien des TRIPS-Übereinkommens (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte von Rechten an geistigem Eigentum). Das Übereinkommen wurde in Italien mit dem Gesetzesdekret Nr. 198 vom 19. März 1996 vollständig umgesetzt.
9 Die Richtlinie 2004/48/EG vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums wurde durch das Gesetzesdekret Nr. 140 vom 16. März 2006 in Kraft gesetzt.
10 IP-Kammer Mailand, Beschluss vom 5. April 2004 (Fosco); IP-Kammer Rom, Beschlüsse vom 27. April 2005 (Matutini) und 8. Juli 2005 (Opinion leaders); IP-Kammer Neapel, Beschluss vom 26. November 2004 (Tyco Electronics); Bezirksgericht Monza, Beschluss vom 20. Februar 2002 (Breda); IP-Kammer Rom, Beschluss vom 21. Mai 2007 (ADC); IP-Kammer Rom, Beschluss vom 18. Mai 2010 (Fast Park).
11 IP-Kammer Turin, Beschluss vom 3. Oktober 2008 (Cappellotto).
12 Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 2/06 (Fall Warf).
13 GD3 des EPA vom 17. März 2008.
14 Gericht Turin, Beschluss vom 19. Mai 2005 (Whirlpool); das Gericht verneinte die grenzüberschreitende Wirkung einer in Italien gemäß Artikel 24 des Brüsseler Übereinkommens (heute Art. 31 der VO Nr. 44/2001) beantragten einstweiligen Unterlassungsverfügung für Frankreich und Deutschland, wo Nichtigkeits- und/oder Patentverletzungsverfahren zu dem betreffenden europäischen Patent anhängig waren.
15 Gericht Mailand, Urteile vom 26. Oktober 2000 (Gen-Probe), 21. März 2002 (Behring), 28. November 2002 (Azkenta); Berufungsgericht Mailand, Urteil vom 2. März 2004 (Optigen); Gericht Mailand, Beschluss vom 10. Dezember 2007 (Klevers).
16 Kassationshof, Urteil Nr. 19550 vom 19. Dezember 2003 (B.L. Macchine Automatiche).
17 Berufungsgericht Mailand, Urteile vom 6. Dezember 1996 (Zanetti), 18. Januar 2000 (Atlas Copco) und 11. Juli 2000 (For.El); IP-Kammer Turin, Urteil vom 13. Januar 2006 (Bourgeois).
18 IP-Kammer Rom, Beschluss vom 21. Juli 2005.
19 Berufungsgericht Mailand, Urteil vom 19. März 2002 (De Lama); Bezirksgericht Mailand, Urteil vom 4. Januar 2006.
20 IP-Kammer Mailand, Urteil vom 30. April 2007.
21 Berufungsgericht Mailand, Urteil vom 13. Juni 2011 (Titanfer).
22 Bezirksgericht Mailand, Urteil vom 23. Juni 2004.
23 Berufungsgericht Bologna, Urteil vom 29. September 1981.
24 Kassationshof, Urteil Nr. 22495 vom 19. Oktober 2006 (SMT/Rieter).
25 IP-Kammer Rom, Beschluss vom 9. Februar 2006; IP-Kammer Catania, Beschluss vom 12. Oktober 2007.
26 Kassationshof, Urteile Nr. 257 vom 13. Januar 2004 (Lisec-Fore) und Nr. 17993 vom 9. September 2005 (Enel/Spena).
27 IP-Kammer Mailand, Beschluss vom 17. Juni 2004 (Flexologic); IP-Kammer Turin, Beschluss vom 13. Januar 2006 (Bourgeois).
28 Bezirksgericht Mailand, Urteil vom 4. Mai 1992.
29 IP-Kammer Bologna, Beschluss vom 3. März 2006; IP-Kammer Turin, Beschluss vom 4. Februar 2005; IP-Kammer Venedig, Beschlüsse vom 10. Oktober 2005, 10. Dezember 2005 und 29. Oktober 2008.
30 Kassationshof, Urteil Nr. 5406 vom 12. Juni 1996 (Sidermens); IP-Kammer Mailand, Urteil vom 13. Januar 2011 (EC&C Technologies).