BERICHTE NATIONALER RICHTER
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Beate SCHMIDT - Präsidentin des Bundespatentgerichts - Neuere Entwicklungen im Patentrecht und in der Rechtsprechung auf europäischer und nationaler Ebene
Guten Tag meine Damen und Herren.
Angesichts der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit ist der Titel, der jüngste Entwicklungen in Recht und Rechtsprechung bei deutschen Patenten ankündigt, vielleicht ein bisschen übertrieben. Ich muss mich schon beeilen, wenn ich Ihnen nur eine einzige Entwicklung vorstellen möchte: Ich werde mich im daher Folgenden auf Fragen der unzulässigen Erweiterung bzw. Einschränkung einer Patentanmeldung konzentrieren, da sich vor kurzem der Bundesgerichtshof mit dieser Frage eingehend befasst und auch mit der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer auseinandergesetzt hat.
Statistik
Lassen Sie mich beginnen mit einem kurzen Blick auf die aktuelle Statistik des Bundespatentgerichts, die ein ungewöhnliches Bild zeigt:
Die Zahl der Nichtigkeitsverfahren vor dem Bundespatentgericht steigt seit Jahren kontinuierlich, von 255 im Jahr 2010 auf 297 im Jahr 2011, und auch im Jahr 2012 erwarten wir wieder viele Eingänge – wenn auch vielleicht nicht ganz so viele wie im vergangenen Jahr1. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass mehr als 70% der Nichtigkeitsklagen sich gegen den deutschen Teil eines europäischen Patents richten. Demgegenüber nimmt die Zahl der Beschwerden gegen Entscheidungen des Deutschen Patent- und Markenamtes (DPMA) seit einigen Jahren stetig ab – im Jahr 2011 war die Halbierung der Eingangszahlen von 598 auf 281 allerdings ungewöhnlich dramatisch. Dieses Jahr erholen sich die Eingänge wieder etwas, im 1. Halbjahr waren es bereits 200 neue Beschwerden2. Das Niveau von 2010 wird aber wohl bis zum Jahresende noch nicht wieder erreicht werden. Dazu muss man allerdings wissen, dass diese Zahlen wohl weniger einem echten Desinteresse der Patentanmelder an einer Überprüfung der Entscheidungen des Amtes geschuldet sind, als vielmehr der Tatsache, dass im Deutschen Patent- und Markenamt wegen der Einführung der elektronischen Schutzrechtsakte ElSA im vergangenen Jahr nicht so viele Verfahren wie sonst üblich abgeschlossen werden konnten und auch die Weitergabe ans Gericht noch nicht optimal war.
Dafür halten in diesem Jahr bei den Beschwerdeverfahren die Erledigungszahlen mit den Eingangszahlen Schritt, was man leider bei den Nichtigkeitsklagen so nicht feststellen kann: Hier kommt es aufgrund der erheblichen zusätzlichen Arbeitsbelastung, auch durch die seit Ende 2009 eingeführten Verfahrensänderungen, zu Verzögerungen in der Erledigung. Hinzu kommt, dass auch beim Bundespatentgericht zur Zeit besonders viele umfangreiche Klagen im Telekommunikationsbereich anhängig gemacht werden – die "patent wars" der Smartphone Hersteller und anderer großer Firmen gehen auch am Bundespatentgericht nicht spurlos vorüber.
Unzulässige Erweiterung der Anmeldung
Ich komme nun zum eigentlichen Thema, der unzulässigen Erweiterung einer Patentanmeldung und ihrer möglichen Folgen:
Nach §§ 21 Absatz 1 Nr. 4, 22 des deutschen Patentgesetzes (PatG) ist ein Patent zu widerrufen bzw. für nichtig zu erklären, wenn sein Gegenstand über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Entsprechende Regelungen finden sich in Artikel 100 lit. c, Artikel 138 Absatz 1 lit. c EPÜ, die Konsequenz des Erweiterungsverbots des Artikel 123 Absatz 2 EPÜ sind. Unter diese Vorschriften fallen zum Beispiel Veränderungen der Patentansprüche durch Weglassen einzelner Merkmale, durch Einfügung zusätzlicher Varianten, oder durch die Verwendung abgewandelter oder verallgemeinerter Formulierungen. Dadurch können weitere Gegenstände erfasst werden, die zuvor nicht erfasst wurden. All dies ist unzulässig.
Derartige Veränderungen führen aber nicht zwingend zum vollständigen Verlust des Patents, da es unter Umständen mit einer Beschränkung wenigstens teilweise aufrechterhalten werden kann. § 21 Absatz 2 PatG bestimmt, ebenso wie Artikel 138 Absatz 2 EPÜ, dass ein Schutzrecht mit einer entsprechenden Beschränkung aufrechterhalten werden kann, wenn ein Nichtigkeitsgrund nur einen Teil des Patents betrifft.
Zulässige Beschränkung
Im Fall des § 21 Absatz 1 Nr. 4 PatG muss der Gegenstand des Patents hierfür so eingeschränkt werden, dass er vom Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen gedeckt wird. Ist der Gegenstand des Patents gegenüber dem Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen in unzulässiger Weise verallgemeinert worden, kann die Beschränkung grundsätzlich dadurch erfolgen, dass die unzulässige Verallgemeinerung aus dem Patentanspruch gestrichen wird. Auch der Ersatz durch ein zulässiges beschränkendes Merkmal ist möglich.
Zur Erläuterung seien die folgenden Beispiele genannt:
Obwohl in den ursprünglich offenbarten Unterlagen lediglich eine "Telefonanlage" beschrieben war, betrifft der Gegenstand des Patents eine "Telekommunikations-anlage", die neben akustischen Signalen zusätzlich auch - nicht offenbarte - optische Signale umfasst. Durch die Verwendung der engeren Bezeichnung "Telefonanlage" kann in einem solchen Fall das Patent zulässig beschränkt werden.
Auch durch die Wiedereinfügung eines gestrichenen Zusatzes kann eine wirksame Beschränkung erfolgen: Wenn die Streichung des Zusatzes "ISDN", gegenüber dem ursprünglich offenbarten engen Gegenstand "ISDN Telefonanlage" zu einem unzulässigen allgemeineren Anspruch "Telefonanlage" führt, kann durch die Wiedereinfügung eine zulässige Beschränkung bewirkt werden.
Unzulässige Beschränkung
Problematisch ist dagegen eine nachträglich eingefügte Beschränkung, die sich als unzulässig erweist. Die Möglichkeit der bloßen Streichung scheidet aus, wenn die Einfügung eines in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht offenbarten Merkmals dazu geführt hat, dass der Gegenstand des Patents eingeschränkt worden ist. Eine Rückgängigmachung dieser Einschränkung würde im Ergebnis zu einer Erweiterung des Schutzbereichs führen, die ihrerseits unzulässig ist, wie sich aus § 22 Absatz 1 PatG ergibt. Danach wird ein Patent auf Antrag für nichtig erklärt, wenn sich ergibt, dass einer der in § 21 Absatz 1 PatG aufgezählten Gründe vorliegt oder der Schutzbereich des Patents erweitert worden ist.
Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat aus der weitgehend gleichgelagerten Regelung in Artikel 100 lit. c und Artikel 138 Absatz 2 lit. d EPÜ die Schlussfolgerung gezogen, ein Patent dürfe in solchen Fällen nicht durch die Streichung der beschränkenden Gegenstände aus den Ansprüchen geändert werden. Das Patent könne nur aufrechterhalten werden, wenn die betreffenden Merkmale ohne Verstoß gegen Artikel 123 Absatz 2 EPÜ durch andere (engere) Merkmale ersetzt werden könnten, für die die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine Grundlage biete. Ohne eine solche Änderung könne das Patent nur dann aufrechterhalten werden, wenn durch die Aufnahme des nicht offenbarten Merkmals lediglich der Schutz für einen Teil des Gegenstands der beanspruchten Erfindung ausgeschlossen werde und dieses Merkmal keinen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung leiste3; in diesem Fall gehe der Gegenstand des Patents nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus. Eine Änderung in dem zuletzt genannten Sinne (von ihr als "disclaimer" bezeichnet) sieht die Große Beschwerdekammer als zulässig an, wenn sie dazu dient, die Neuheit wiederherzustellen, indem ein Anspruch gegenüber dem Inhalt einer später veröffentlichten Patentanmeldung oder einer "zufälligen" Vorwegnahme abgegrenzt wird, oder einen Gegenstand auszuklammern, der nach Artikel 52 bis 57 EPÜ als nichttechnisch ("aus nichttechnischen Gründen") vom Patentschutz ausgeschlossen ist4.
Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland
Der Bundesgerichtshof hat für das Nichtigkeitsverfahren, in dem § 21 Absatz 1 und 2 PatG entsprechend anzuwenden sind, entschieden, dass keine Nichtigerklärung des Patents erfolgt, wenn die Einfügung eines in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht offenbarten Merkmals zu einer bloßen Einschränkung des angemeldeten Gegenstands führt. In solchen Fällen sei den berechtigten Interessen der Öffentlichkeit Genüge getan, wenn das einschränkende Merkmal im Patentanspruch verbleibe und zugleich dafür Sorge getragen werde, dass im Übrigen, also was die Entstehung von Patentrechten anbelange, aus der Änderung Rechte nicht hergeleitet werden könnten5. Diese Auslegung durch den Bundesgerichtshof wird auch von vielen Stimmen in der Literatur geteilt6. In der Sache folgt auch das Bundespatentgericht dieser Auffassung. Allerdings hält es in solchen Fällen für erforderlich, die Ansprüche oder die Beschreibung um eine Erklärung ("nach Art eines Disclaimers") zu ergänzen, dass aus der unzulässigen Änderung Rechte nicht hergeleitet werden können7. In der Entscheidung "semantischer Disclaimer" war das Patent daher nur mit einer Klarstellung in der Beschreibung aufrechterhalten worden: "mit Ausnahme des Merkmals 'automatisch' da insoweit der Gegenstand des Patents über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht".
Demgegenüber hält der BGH in einer neueren Entscheidung8 die Aufnahme eines entsprechenden Hinweises/Disclaimers grundsätzlich nicht für erforderlich, da sich bereits aus dem Gesetz ergebe, dass aus der unzulässigen Einfügung eines Merkmals keine Rechte hergeleitet werden können. Weder aus § 21 Absatz 1 Nr. 4 noch aus § 22 Absatz PatG könne abgeleitet werden, dass ein Patent in jedem Fall zu widerrufen sei, wenn sein Gegenstand gegenüber dem Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen durch Aufnahme eines darin nicht offenbarten Merkmals eingeschränkt worden ist. Aus den genannten Vorschriften ergebe sich zwar, dass das Gesetz dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes gegenüber der Öffentlichkeit hohes Gewicht einräumt. Gemäß § 21 Absatz 2 PatG sei diesem Interesse aber schon dann hinreichend Rechnung getragen, wenn ein Verstoß gegen eines dieser Verbote durch entsprechende Beschränkung des Patents rückgängig gemacht werde. In der hier zu beurteilenden Situation kann dies dadurch geschehen, dass das nicht offenbarte einschränkende Merkmal im Anspruch verbleibt. Bei der Prüfung der Patentfähigkeit darf es aber nicht zur Stützung der Patentfähigkeit herangezogen werden. Damit ist nach Auffassung des BGH sichergestellt, dass das Merkmal zwar für die Bestimmung des Schutzbereichs maßgeblich bleibt, der Rechtsbestand des Patents aber nicht auf technische Anweisungen gestützt wird, die in der Anmeldung nicht als zur Erfindung gehörend offenbart sind. Eines Widerrufs des Patents bedarf es folglich nicht.
Aus der Sicht des BPatG ist damit aber ein Disclaimer auch nicht schlechthin ausgeschlossen, sondern weiterhin möglich9.
Jedenfalls für das deutsche Recht und das deutsche Patent steht einer solchen Vorgehensweise auch nicht der verbindliche Charakter von Artikel 123 Absatz 1 und 2 EPÜ entgegen. Der Bundesgerichtshof tritt in der Entscheidung "Winkelmesseinrichtung"10 der Auffassung der Großen Beschwerdekammer für den Anwendungsbereich von §§ 21 und 22 PatG ausdrücklich nicht bei. Die Große Beschwerdekammer habe in der Entscheidung G 1/93 selbst gesehen, dass die von ihr vertretene Auffassung zu harten Folgen für den Anmelder führen könne11. Sie sieht sich an einer abweichenden Lösung aber durch den verbindlichen Charakter von Artikel 123 Absatz 1 und 2 EPÜ gehindert. Diesem Gesichtspunkt kommt nach der Auffassung des zuständigen Senats des BGH jedenfalls für das deutsche Recht keine ausschlaggebende Bedeutung zu. Der Wortlaut des Patentgesetzes sieht für den Fall, dass die zur Ausräumung eines Widerrufs- oder Nichtigkeitsgrunds an sich erforderliche Streichung eines Merkmals aus dem Patentanspruch einen neuen Nichtigkeitsgrund entstehen ließe, weder in die eine noch in die andere Richtung eine ausdrückliche Regelung vor. Deshalb ist unter Rückgriff auf allgemeine Auslegungskriterien zu ermitteln, ob die unzulässige Einfügung eines Merkmals gemäß § 21 Absatz 1 PatG zwingend zum vollständigen Widerruf führt oder ob den berechtigten Belangen der Öffentlichkeit nicht dadurch Genüge getan ist, dass – wie sich aus § 38 Absatz 2 PatG ergibt – aus der Änderung Rechte nicht hergeleitet werden können. Auch die Große Beschwerdekammer hält die Belassung eines in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht als zur Erfindung gehörend offenbarten Merkmals unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig. Dies bestätigt nach Auffassung des BGH, dass Artikel 123 Absatz 1 und 2 EPÜ den von ihm für einen solchen Fall gefundenen Lösungsweg nicht kategorisch ausschließen.
Keine Zulässigkeit eines Disclaimers bei Aliud
Der aufgezeigte Lösungsweg kommt aber nur dann in Betracht, wenn die Einfügung des in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht offenbarten Merkmals eine Einschränkung des angemeldeten Gegenstands bewirkt hat. Er scheidet aus, wenn die Hinzufügung des Merkmals dazu geführt hat, dass der Patentanspruch des erteilten Patents eine andere Erfindung zum Gegenstand hat als die ursprüngliche Anmeldung, wenn das Patent also etwas schützt, das gegenüber dem der Fachwelt durch die ursprünglichen Unterlagen Offenbarten ein "Aliud" darstellt12. Entscheidend ist, ob mit der Hinzufügung des Merkmals lediglich eine Anweisung zum technischen Handeln konkretisiert wird, die in den ursprünglich eingereichten Unterlagen als zur Erfindung gehörend offenbart ist, oder ob damit ein technischer Aspekt angesprochen wird, der aus den ursprünglich eingereichten Unterlagen weder in seiner konkreten Ausgestaltung noch auch nur in abstrakter Form als zur Erfindung gehörend zu entnehmen ist. Dann führt an der Nichtigerklärung des Patents kein Weg vorbei.
1 Stand 31.12.2012: 259 Nichtigkeitsklagen.
2 Stand 31.12.2012: 517 Beschwerden.
3 EPA G 1/93, ABl. EPA 1994, 541 = GRUR Int. 1994, 842 – Beschränkendes Merkmal /Advanced Semiconductor Products.
4 EPA G 1/03, ABl. EPA 2004, 413 = GRUR Int. 2004, 959 – Disclaimer/PPG.
5 BGH, GRUR 2001, Seite 140,142f. – Zeittelegramm.
6 vgl. nur Busse/Schwendy, PatG, 6. Aufl., § 21 Rdnr. 120; Schulte/Moufang, PatG, 8. Aufl., § 21 Rdnr. 69
7 BPatGE 42,57 = GRUR 2006, 487 Semantischer Disclaimer.
8 BGH GRUR 2011, 40 - Winkelmesseinrichtung.
9 BPatG Beschluss vom 13.7. 2011, 19W (pat) 4/08.
10 BGH GRUR 2011,40 - Winkelmesseinrichtung.
11 EPA G 1/93, ABl. EPA 1994, 541 = GRUR Int. 1994, 842 – Beschränkendes Merkmal /Advanced Semiconductor Products.
12 BGH GRUR 2011, 1003 Integrationselement.