BERICHTE NATIONALER RICHTER
CH Schweiz
Dieter BRÄNDLE - Präsident, Bundespatentgericht, St. Gallen - Ein neues Patentgericht für die Schweiz
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde,
es ist mir eine große Freude, Ihnen heute ein brandneues Gericht vorstellen zu können.
Seit dem 1. Januar 2012 hat die Schweiz ein Bundespatentgericht.
Entstehungsgeschichte
Dies ist eine große Neuerung. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, ist die Schweiz ein Bundesstaat, der 26 recht autonome Kantone oder Länder, wenn Sie so möchten, umfasst. Während das materielle Patentrecht seit 1888 einheitliches Bundesrecht ist, wurden die Organisation der Gerichte und das Zivilprozessrecht auf kantonaler Ebene geregelt. Als einzige Bundesvorgabe galt, dass jeder der Kantone ein Gericht bestimmen musste, das für Patentangelegenheiten zuständig war.
Die etwa 30 Patentfälle, die in der Schweiz jährlich anfallen, wurden somit vor 26 verschiedenen, nicht spezialisierten kantonalen Gerichten verhandelt, die jeweils ihre eigenen, durchaus unterschiedlichen kantonalen Zivilprozessordnungen anwandten.
Aufgrund der geringen Zahl der Patentfälle waren die meisten der kantonalen Gerichte nur sehr selten mit Patentstreitigkeiten befasst und konnten entsprechend auch keine Kompetenz aufbauen. Natürlich versuchten die Kläger, diese Gerichte zu vermeiden - zumindest wenn sie einen aussichtsreichen Fall hatten. In Patentverletzungssachen konnte der Kläger in der Regel entscheiden, vor welchem Gericht er klagen wollte. Aus diesem Grund fanden die meisten Patentstreitigkeiten der Schweiz vor den vier Handelsgerichten in Aarau, Bern, St. Gallen und Zürich statt, die sich mit Patentangelegenheiten gut auskannten, wie man mir sagt. Allerdings gab es auch Fälle - z. B. Nichtigkeitsklagen -, die vor dem Gericht des Sitzes bzw. Wohnsitzes des Angeklagten verhandelt werden mussten. Handelte es sich dabei um ein Gericht mit wenig einschlägiger Erfahrung, konnten die Urteile, wie ein Anwalt es formulierte, ziemlich unberechenbar ausfallen. Zudem verließen sich diese unerfahrenen Gerichte, insbesondere bei der Beurteilung der Verletzung von Patenten und der Beurteilung von deren Rechtsbeständigkeit gerne auf vom Gericht bestellte Gutachter. Sie haben sozusagen ihre Arbeit outgesourct. Angesichts der Tatsache, dass die Schweiz eines der patentaktivsten Länder ist, war dieser Missstand schon lange der Kritik ausgesetzt. Die Problematik wurde eigentlich bereits vor Jahrzehnten erkannt, konnte aber wegen verfassungsrechtlicher Hindernisse nicht beseitigt werden.
Schaffung des Gerichts/Schweizerische Zivilprozessordnung
Verfassungsänderungen im Jahr 2000 ermöglichten es schließlich dem Bund, Gesetze zum Zivilprozessrecht zu erlassen (Art. 122 (1)) und neue Bundesgerichte zu schaffen (Art. 191a (3)).
Seit 1. Januar 2011 haben wir nun endlich ein Bundesgesetz über den Zivilprozess, was tatsächlich aber ein heftiger Schlag für "alte Hasen" wie mich ist, weil sich damit unsere jahrzehntelange Erfahrung mit einem kantonalen Zivilprozessrecht praktisch in Luft aufgelöst hat.
Noch wichtiger aber ist: Es wurde auch ein Bundespatentgericht geschaffen.
Seit dem 1. Januar 2012 ist in der Schweiz dieses Gericht exklusiv zuständig für die Beurteilung von Klagen zur Rechtsbeständigkeit und Verletzung von Patenten (keine Verfahrenstrennung natürlich) sowie für die Erteilung von Lizenzen. Seine Zuständigkeit erstreckt sich außerdem auf die Anordnung von vorsorglichen Maßnahmen sowie andere Zivilklagen, die im Sachzusammenhang mit Patenten stehen wie Klagen im Zusammenhang mit Lizenzverträgen oder der Berechtigung an Patenten.
Die vor den kantonalen Gerichten anhängigen Patentfälle wurden an das Bundespatentgericht übergeben. Insgesamt waren dies 37 Fälle, von denen 5 die Anordnung vorsorglicher Maßnahmen betrafen und 32 im Hauptverfahren zu verhandeln waren.
Richter
Am Gericht sind zwei hauptamtliche Richter tätig: der Präsident sowie ein zweiter hauptamtlicher Richter.
Daneben sind dort 25 Richter mit technischer Ausbildung (Patentanwälte) und etwa 12 Richter mit juristischer Ausbildung (Rechtsanwälte) beschäftigt, die jeweils von Fall zu Fall als nebenamtliche Richter hinzugezogen werden sollen.
Rund 40 Richter für 30 Fälle pro Jahr. Was zunächst nach einem Overkill aussieht, ist in Wahrheit keiner, aber darauf werde ich später noch zurückkommen.
Diese Richter werden nicht ernannt, sondern von der Bundesversammlung, d. h. von beiden Parlamentskammern gemeinsam gewählt. Bei der Wahl der Richter der anderen Gerichte des Bundes (Bundesgericht, Bundesstrafgericht und Bundesverwaltungsgericht) ist die Parteizugehörigkeit eines Kandidaten von entscheidender Bedeutung. Was das Bundespatentgericht angeht, konnte der Gesetzgeber jedoch überzeugt werden, dass bei der Wahl der dort tätigen Richter die Parteizugehörigkeit nicht berücksichtigt wird. Entscheidend sollen hier vielmehr ausgewiesene Kenntnisse auf dem Gebiet des Patentrechts sein. Diese Voraussetzung wurde im Gesetz über das Bundespatentgericht verankert, und die Gerichtskommission, die für die Vorbereitung der Wahl von Bundesrichtern zuständig ist, wurde ermächtigt, dabei das Schweizer Patentamt sowie die im Patentwesen tätigen Fachorganisationen und interessierten Kreise anzuhören. Die Kommission hat ausgiebig Gebrauch von diesem einzigartigen Recht gemacht - mit einem hervorragenden Ergebnis, wenn ich so sagen darf. Das Gericht verfügt nun über sehr erfahrene und kompetente Richter.
Philosophie des Patentgerichts
Das Patentgericht verfolgt einen sehr pragmatischen und nüchternen Ansatz. Jeder Fall entspricht einem Problem, das gelöst werden muss. Die beste Lösung ist natürlich eine Einigung der Parteien, ein Vergleich. Und die allerbeste ist ein Vergleich, der es den Parteien ermöglicht, weiterhin Geschäfte miteinander zu machen. Natürlich wird es dem Patentgericht nicht gelingen, in allen Fällen einen Vergleich zu erreichen. Es wird aber abzielen auf
1) vernünftige Entscheidungen
2) innerhalb einer vernünftigen Zeitspanne
3) zu vernünftigen Kosten.
Zusammensetzung der Spruchkörper
Das Gericht entscheidet in Spruchkörpern aus drei, fünf oder sieben Richtern. Wie groß der Spruchkörper im Einzelfall ist, entscheidet jeweils der Präsident. Im Normalfall besteht der Spruchkörper aus drei Richtern, berührt der Fall jedoch verschiedene technische Gebiete oder erscheint er besonders bedeutungsvoll, wird er auf fünf oder sieben Richter erweitert. Der Präsident beschließt auch die Zusammensetzung der Spruchkörper. In jedem Spruchkörper müssen mindestens ein Richter mit technischer Ausbildung und ein Richter mit juristischer Ausbildung mitwirken. Die technischen Richter werden entsprechend ihrem jeweiligen Fachgebiet hinzugezogen. Dies mag seltsam erscheinen und wäre in vielen Ländern rechtlich unmöglich, ich kann Ihnen aber versichern, dass es höchst effizient ist.
Sprache
Die Schweiz hat vier Amtssprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch (das jedoch bei Patentangelegenheiten keine Rolle spielt).
Eine dieser Sprachen wird vom Präsidenten als Verfahrenssprache festgelegt, d. h. als Sprache, die das Gericht verwenden wird. In der Regel ist dies die Sprache der Klageschrift und damit in den meisten Fällen Deutsch, in ein paar Fällen pro Jahr Französisch und gelegentlich - nicht allzu oft, wie ich hoffe - Italienisch.
Da unsere Richter somit nicht nur die verschiedenen Gebiete der Technik, sondern auch die genannten Sprachen abdecken müssen, erscheint die Zahl der gewählten Richter durchaus sinnvoll.
Die Parteien können sich bei Eingaben und mündlichen Verhandlungen unabhängig von der vom Gericht gewählten Verfahrenssprache jeder Amtssprache bedienen. Wenn sich die Parteien darauf geeinigt haben und das Gericht zustimmt - was es tun wird -, können sie auch die englische Sprache verwenden.
Dies ist ein ziemlich einzigartiges Merkmal dieses Gerichts. Es könnte leicht das einzige Gericht in einem nicht englischsprachigen Land sein, das den Parteien gestattet, sich in Englisch auszudrücken. Das Urteil wird allerdings in der Verfahrenssprache ergehen müssen, weil sich das Bundesgericht nicht mit englischen Urteilen würde befassen wollen.
Das Verfahren
Das Verfahren beginnt schriftlich mit der Klageschrift. Darauf folgt die Klageantwort, die bei Verletzungsfällen in der Regel mit einer Widerklage auf Nichtigkeit des Patents kombiniert wird. Nach diesem ersten Schriftwechsel - das Gericht kann auch eine Antwort auf die Widerklage einfordern - wird eine Instruktionsverhandlung mit dem Präsidenten und einem oder zwei Richtern mit technischer Ausbildung auf dem betreffenden Gebiet anberaumt. Die Parteien müssen persönlich erscheinen, es reicht nicht, wenn sie nur ihren Anwalt entsenden. Sie müssen jeweils eine oder bei Bedarf mehrere Personen mitbringen, die mit der Streitsache vertraut und zum Abschluss eines Vergleichs befugt sind.
Diese Art der Verhandlung wird in ähnlicher Weise seit Jahrzehnten sehr erfolgreich am Handelsgericht Zürich praktiziert. Übrigens war eine solche Vorverhandlung auch in unserem geliebten Streitregelungsprotokoll EPLA vorgesehen: sie wurde dort "erste Besprechung" genannt. Und auch im Entwurf der Geschäftsordnung für das EU-Patentgericht ist etwas Ähnliches zu finden, nämlich die sogenannte "interim conference". Es handelt sich also um ein sehr europäisches Konzept.
Die Instruktionsverhandlung dient einem zweifachen Zweck. Zum einen können die Positionen der Parteien geklärt werden. Die Gerichtsdelegation versucht dabei, die Meinungsverschiedenheiten der Parteien auf die wesentlichen Punkte einzugrenzen, indem sie die richtigen Fragen stellt. Fragen, die rechtliche Aspekte betreffen, werden vom Präsidenten gestellt. In der Regel müssen aber vor allem technische Details geklärt werden, d. h. Auftritt der technischen Richter. Damit herrscht sofort eine völlig andere Stimmung im Saal. Dazu muss ich anmerken, dass diese Verhandlungen in einem ganz besonderen Rahmen stattfinden. Alle - Richter und Parteien - sitzen an einem Tisch, und es gibt weder Perücken noch Roben zu sehen, sondern einfach Menschen, die ein Problem besprechen. Meiner Erfahrung nach lügen die Parteien in einer solchen Atmosphäre den Richter nicht an. Zuerst bringt der Präsident die rechtlichen Probleme vor, die eben besprochen werden müssen, in der Regel aber nicht furchtbar interessant sind, bis endlich die technischen Richter an der Reihe sind und beginnen, über Vierkantwellen, Ritzel, Kegelführungen, Klemmbolzen und Sicherungselemente zu sprechen. An dieser Stelle wachen die Techniker am Tisch auf. Oder, um es etwas allgemeiner auszudrücken, sobald die technischen Richter das Wort ergreifen, erkennen die Verfahrensbeteiligten, dass die Vertreter des Gerichts die gleiche Sprache sprechen, ihre Branche kennen und ihre Probleme verstehen. Das hat zur Folge, dass sich die Parteien öffnen und bereit sind, die Fakten auf den Tisch zu legen. Und dies ist der erste Schritt zu einem Vergleich.
Anschließend teilen der Präsident und die technischen Richter - außer Protokoll natürlich - den Parteien ihre vorläufige Meinung über den Fall auf der Grundlage der bis dahin bekannten Informationen mit. Der Präsident wird sich dabei stärker auf die rechtlichen Aspekte konzentrieren, während die technischen Richter z. B. ausführen, warum sie das Streitpatent für stark oder schwach halten und wie sie über die behauptete Verletzung denken. Das sind natürlich vorläufige Meinungen, bisher wurden ja weder Sachverständige noch Zeugen gehört. Meine Erfahrung am Handelsgericht Zürich hat jedoch gezeigt, dass die Richter - insbesondere die technischen Richter - ziemlich gut abschätzen können, ob eine Behauptung bewiesen werden kann. Sie können außerdem erläutern - das ist noch leichter -, wie sie die rechtlichen Fragen des Falls zu beantworten gedenken. Nachdem die Gerichtsdelegation ihre Sicht des Falls dargelegt hat, wird sie sie mit den Parteien besprechen. Danach arbeitet die Delegation einen Vorschlag für einen Vergleich aus. Dieser Vorschlag wird dann mit den Parteien erörtert. Die Diskussionen werden recht lebhaft sein. Wie ich Ihnen bereits geschildert habe, sitzen wir alle um einen Tisch, und in der Regel werden natürlich beide Parteien nicht besonders glücklich über unseren Vorschlag sein. Sie werden argumentieren und ausführen, inwiefern unsere Schlussfolgerungen falsch sind und wo wir uns bei der Anwendung der Rechtsvorschriften, den Fakten oder einer Einschätzung geirrt haben. Den meisten Richtern dürfte eine solche Situation fremd sein. Sie verkünden ihr Urteil, und das war's dann. Sie müssen sich nicht gegenüber den Parteien rechtfertigen. Es könnte eine Beschwerde eingelegt werden, aber das ist irgendwie weit weg. In unserer Instruktionsverhandlung hingegen müssen die Richter imstande und bereit sein, alle Aspekte des Falls mit den Parteien zu erörtern. Dies erfordert natürlich eine eingehende Vorbereitung seitens der Gerichtsdelegation.
Wir gehen davon aus, dass wir rund 50 % unserer Fälle bereits in dieser Verhandlung abschließen können, die etwa fünf bis sieben Monate nach Verfahrensbeginn stattfindet. Bisher haben wir sechs solcher Verhandlungen durchgeführt, von denen vier mit einem Vergleich endeten.
Warum einigen sich die Parteien bereits in diesem Stadium? Dafür gibt es mehrere Gründe. Das Urteil ist vorhersehbar. Es wird nur die vorgeblich verletzende Ausführungsform betreffen. Ein Vergleich dagegen kann einen breiteren Bereich abdecken und beispielsweise den Schutzumfang bestimmen. Im Gegensatz zu den Urteilen werden die Vergleiche nicht veröffentlicht. Zudem spart ein Vergleich in diesem Stadium eine Menge Geld.
Kann kein Vergleich erzielt werden, kann das Gericht einen weiteren Schriftenwechsel anordnen. Danach findet gegebenenfalls die Beweisaufnahme statt sowie die Hauptverhandlung, um den Sachverhalt noch einmal zusammenzufassen. Schließlich ergeht das Urteil - hoffentlich innerhalb eines Jahres nach Verfahrensbeginn. Hält es das Gericht für erforderlich, trotz des Fachwissens der technischen Richter einen Gutachter hinzuzuziehen, kann sich das Verfahren um ein weiteres Jahr verlängern.
Gegen die Urteile des Patentgerichts kann vor dem Bundesgericht Beschwerde eingelegt werden, das dann in der Regel in weniger als einem Jahr darüber entscheidet.
So viel zu unserem neuen Schweizer Bundespatentgericht.