BERICHTE NATIONALER RICHTER
DE Deutschland
DE Deutschland - Peter MEIER-BECK - Dr. jur., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Honorarprofessor an der Universität Düsseldorf - Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Patentrecht in den Jahren 2008 und 2009
Die deutschen Gerichte haben in den Jahren 2008 und 2009 eine Fülle patentrechtlicher Entscheidungen getroffen, über die nicht im Einzelnen berichtet werden kann. Allein der Bundesgerichtshof (BGH), der letzte Instanz sowohl in Patentverletzungsstreitigkeiten als auch in Patentnichtigkeitssachen ist, fällt jährlich fast fünfzig Urteile in Patentsachen. Dieser Bericht beschränkt sich daher auf die Rechtsprechung des BGH und insoweit auf einige wenige Entscheidungen, die für die Harmonisierung der europäischen Patentrechtspraxis besonders relevant erscheinen.
1. Erfindung
In einem auf die Beschwerde eines Patentanmelders ergangenen Beschluss mit dem etwas sperrigen Schlagwort "Steuerungseinrichtung für Untersuchungsmodalitäten"1 hat sich der BGH wieder einmal mit der Frage nach der Patentfähigkeit computerimplementierter Erfindungen befasst. Das Bundespatentgericht war der Meinung, das angemeldete "Verfahren zur Verarbeitung medizinisch relevanter Daten im Rahmen einer durchzuführenden Untersuchung eines Patienten" habe keine auf technischem Gebiet liegende Erfindung i. S. v. § 1 PatG (entspricht Art. 52 EPÜ) zum Gegenstand. Dies wird vom BGH nicht gebilligt.
Er stellt zunächst klar, dass der Gegenstand der Anmeldung die für die Patentfähigkeit einer computerimplementierten Erfindung erforderliche Technizität schon deshalb aufweist, weil er der Verarbeitung, Speicherung und Übermittlung von Daten mittels eines technischen Geräts dient. Unerheblich für das Technizitätserfordernis ist es, ob der Gegenstand einer Anmeldung neben technischen Merkmalen auch nichttechnische aufweist. Die auf der sogenannten Kerntheorie beruhende Rechtsprechung2 zur Abgrenzung nicht schutzfähiger Kombinationen sei, so sagt die Entscheidung, bereits mit der Entscheidung "Tauchcomputer"3 aufgegeben worden. Ob Kombinationen von technischen und nichttechnischen bzw. vom Patentschutz ausgeschlossenen Merkmalen im Einzelfall patentfähig sind, hängt insoweit - abgesehen von etwa einschlägigen Ausschlusstatbeständen des § 1 Abs. 3 PatG (Art. 52 Abs. 2 EPÜ) - allein davon ab, ob sie auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen. Damit wird der bereits in der Entscheidung "Sprachanalyseeinrichtung"4 aufgestellte Grundsatz, dass ein beanspruchtes technisches Gerät (wie ein Computer) immer eine Lehre zum technischen Handeln verkörpert, der Sache nach auf Verfahrensansprüche übertragen, die die Benutzung eines solchen technischen Geräts lehren. Dass eine computerimplementierte Lehre als nichttechnisch angesehen werden könnte, ist damit ausgeschlossen.
Wenn überhaupt an der Hürde "Erfindung" kann eine computerimplementierte Erfindung nach der Rechtsprechung des Senats allenfalls daran scheitern, dass sie nicht die Lösung eines konkreten technischen Problems mit technischen Mitteln zum Gegenstand hat.5 Auch diese – niedrige – Hürde nimmt jedoch die zu beurteilende Lehre6, sodass sich auch unter diesem Gesichtspunkt die erfinderische Tätigkeit als für die Patentfähigkeit entscheidend erweist. Insoweit weist der Senat (erneut7) darauf hin, dass das Erfordernis des konkreten technischen Problems gleichzeitig bedeutet, dass bei der Prüfung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit diese Problemlösung in den Blick zu nehmen ist. Außerhalb der Technik liegende Anweisungen genügen in diesem Zusammenhang grundsätzlich nicht; sie sind nur in dem Umfang von Bedeutung, in dem sie auf die Lösung des technischen Problems mit technischen Mitteln Einfluss nehmen. Schutzfähig ist eine computerimplementierte Erfindung vielmehr erst dann, wenn die Lösung des konkreten technischen Problems neu und erfinderisch ist.8 Damit ist gewährleistet, dass im Ergebnis weiterhin nur die technische Innovation, nicht aber die pfiffige Geschäftsidee oder das kreative betriebswirtschaftliche Konzept patentrechtlichen Schutz erlangen kann.
2. Neuheit
Im Urteil "Betonstraßenfertiger" vom 30. Januar 20089 war der Offenbarungsgehalt einer Prioritätsanmeldung zu beurteilen. Von deren Verständnis hing ab, ob die beanspruchte Priorität zu Recht in Anspruch genommen war und ob demgemäß die Ausstellung einer erfindungsgemäßen Maschine auf einer Messe vor Anmeldung des Streitpatents der Neuheit des Gegenstands der Erfindung nicht entgegenstand.
Bei Anmeldung eines europäischen Patents kann das Prioritätsrecht einer vorangegangenen Anmeldung in Anspruch genommen werden, wenn beide dieselbe Erfindung betreffen (Art. 87 Abs. 1 EPÜ). Das Urteil "Betonstraßenfertiger" bestätigt die bisherige Rechtsprechung10, dass diese Voraussetzung erfüllt ist, wenn die mit der Nachanmeldung beanspruchte Merkmalskombination in der Voranmeldung in ihrer Gesamtheit als zu der angemeldeten Erfindung gehörend offenbart ist.11 Der BGH macht sich, wie bereits in "Luftverteiler" die Formel der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts zu eigen, dass dazu der Gegenstand der beanspruchten Erfindung der früheren Anmeldung in ihrer Gesamtheit "unmittelbar und eindeutig" zu entnehmen sein muss. Für die Beurteilung der identischen Offenbarung gelten demgemäß die Prinzipien der Neuheitsprüfung.12 Aus diesem engen Verständnis des Begriffs "derselben Erfindung" folgt freilich nicht, dass die Identität bei jeder äußerlichen Inkongruenz von Text oder Zeichnung der Prioritätsanmeldung und des Patents entfällt. Wenn beide nur deshalb nicht deckungsgleich sind, weil in der Patentschrift sprachliche oder zeichnerische Unvollkommenheiten der Prioritätsanmeldung behoben worden sind, ohne dass unterschiedliche Erfindungsgegenstände oder eine Erweiterung vorliegen, ist die erforderliche unmittelbare und eindeutige Übereinstimmung gewahrt.13
Beträchtliche Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit hat das Urteil "Olanzapin"14 vom 16. Dezember 2008 gefunden. Dreh- und Angelpunkt der Argumentation ist dabei erneut der Offenbarungsbegriff. Maßgeblich ist für die Prüfung der Neuheitsschädlichkeit einer Vorveröffentlichung, welche technische Information dem Fachmann offenbart wird, wobei der Offenbarungsbegriff kein anderer ist, als er auch sonst im Patentrecht zugrunde gelegt wird15. Zu ermitteln ist deshalb nicht, in welcher Form der Fachmann etwa mithilfe seines Fachwissens eine gegebene allgemeine Lehre ausführen kann oder wie er diese Lehre gegebenenfalls abwandeln kann, sondern ausschließlich, was der Fachmann der Vorveröffentlichung als den Inhalt der gegebenen (allgemeinen) Lehre entnimmt. Der Senat schlägt hierbei erneut unter ausdrücklichem Hinweis auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts die Brücke zur Formel von der Maßgeblichkeit dessen, was aus fachmännischer Sicht einer Schrift "unmittelbar und eindeutig" zu entnehmen ist.16
Der BGH sieht hierin keinen Widerspruch dazu, dass er insbesondere im Hinblick auf den Zweck der (gesonderten) Neuheitsprüfung, Doppelpatentierungen zu vermeiden, eine Ausdehnung des neuheitsschädlich Offenbarten über den "reinen Wortlaut" hinaus für unabdingbar gehalten hat17. Die Erfassung desjenigen, was in den Merkmalen des Patentanspruchs und im Wortlaut der Beschreibung nicht ausdrücklich erwähnt, aus der Sicht des Fachmanns jedoch nach seinem allgemeinen Fachwissen für die Ausführung der unter Schutz gestellten Lehre selbstverständlich oder unerlässlich ist und deshalb keiner besonderen Offenbarung bedürfe, ziele nicht auf eine Ergänzung der Offenbarung durch das Fachwissen, sondern, nicht anders als bei der Ermittlung des Wortsinns eines Patentanspruchs, auf die Ermittlung des Sinngehalts, d. h. derjenigen technischen Information, die der fachkundige Leser der jeweiligen Quelle vor dem Hintergrund seines Fachwissens entnehme.18
Nichts anderes gilt nach dem Urteil "Olanzapin" für die in der Entscheidung "Elektrische Steckverbindung" weiterhin in den Offenbarungsgehalt einbezogenen Abwandlungen, die nach dem Gesamtzusammenhang der Schrift für den Fachmann derart naheliegen, dass sie sich ihm bei aufmerksamer, weniger auf die Worte als ihren erkennbaren Sinn achtender Lektüre ohne Weiteres erschließen, so dass er sie gewissermaßen in Gedanken "mitliest", auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist19. Das Wort "naheliegen" möge, so sagt der Senat, vordergründig auf den Äquivalenzbereich hinweisen, der Begriff des "Mitlesens" macht nach seiner Auffassung jedoch deutlich, dass es nicht um die Einbeziehung von Austauschmitteln geht, sondern darum, die technische Information, die der Fachmann durch eine Schrift erhalte, in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Abwandlungen und Weiterentwicklungen dieser Information gehören ebenso wenig zum Offenbarten wie diejenigen Schlussfolgerungen, die der Fachmann kraft seines Fachwissens aus der erhaltenen technischen Information ziehen mag.20
Diese Grundsätze überträgt der Patentsenat sodann auf den Bereich der Stoffchemie und insbesondere die Beurteilung des Informationsgehalts einer Strukturformel. Ebenso wenig wie der Umstand, dass die konkrete Ausführungsform einer Vorrichtung unter einen allgemein formulierten Vorrichtungsanspruch fällt, etwas über die Offenbarung dieser konkreten Ausführungsform aussagt, bedeutet danach der Umstand, dass eine chemische Verbindung unter eine vorveröffentlichte Formel fällt, zugleich die Offenbarung einer konkreten Verbindung.21 Maßgeblich ist vielmehr, ob diese konkrete Verbindung offenbart wird. Dazu bedarf es Angaben, die den Fachmann ohne Weiteres in die Lage versetzen, die eben diese chemische Verbindung betreffende Erfindung auszuführen, d. h. den betreffenden Stoff in die Hand zu bekommen.22 Wiederum nicht anders als bei Vorrichtungspatenten darf nach "Olanzapin" die Fähigkeit des Fachmanns, mithilfe bekannter Verfahren und seines sonstigen Fachwissens eine mehr oder weniger große Anzahl von Einzelverbindungen herzustellen, die unter eine offenbarte Strukturformel fallen, nicht mit der Offenbarung dieser Einzelverbindungen gleichgesetzt werden.23 Vielmehr stellen die Einzelverbindungen, jedenfalls regelmäßig, bloße Nutzanwendungen der technischen Information dar, die dem Fachmann durch die Offenbarung der Strukturformel oder sonst einer allgemeineren Formel gegeben wird. Durch deren Mitteilung sind die darunter fallenden einzelnen Verbindungen damit als solche nicht offenbart; um sie dem Fachmann im Sinne der Neuheitsprüfung "in die Hand zu geben", bedarf es in der Regel weitergehender Informationen insbesondere zu ihrer Individualisierung. Als offenbart kann eine nicht ausdrücklich genannte Einzelverbindung nur dann gelten, wenn der Fachmann sie im zuvor erläuterten Sinne "mitliest", etwa weil sie ihm als die übliche Verwirklichungsform der genannten allgemeinen Formel geläufig ist und sich ihm daher sofort als jedenfalls auch gemeint aufdrängt, wenn er die allgemeine Formel liest. Angestrebt wird damit eine weitgehende Harmonisierung mit der Rechtsprechung der Technischen Beschwerdekammern des EPA, nach der nur solche technische Lehren neuheitsschädlich sind, die einen Stoff als zwangsläufiges Ergebnis eines vorbeschriebenen Verfahrens oder in spezifischer, d. h. individualisierter, Form offenbaren.24
In einem weiteren Urteil vom 10. September 200925 hat sich der BGH erneut mit der Frage der Neuheit einer chemischen Verbindung beschäftigt. Er überträgt in dieser Entscheidung die Grundsätze des Olanzapin-Urteils auf die klassische Konstellation des bekannten und beschriebenen Razemats und seiner nicht beschriebenen Enantiomere.
3. Erfinderische Tätigkeit
In der "Olanzapin"-Entscheidung wird auch angesprochen, dass der „nächstliegende Stand der Technik" erst ex post in Kenntnis der Erfindung bestimmt werden kann und daher nicht unkritisch als "Sprungbrett" zur Erfindung verwendet werden darf. Das Urteil sieht in der Entscheidung des Fachmanns, denjenigen Ansatz weiterzuverfolgen, der in der vom Bundespatentgericht als neuheitsschädlich angesehenen Veröffentlichung dargestellt worden war, einen ersten, bei der Bewertung des Naheliegens zu berücksichtigenden Schritt. Diese erste Auswahlentscheidung könne, so sagt der Senat, nicht mit der Erwägung vernachlässigt werden, dass der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit stets der nächstkommende Stand der Technik zugrunde zu legen sei. Ein solcher Vorrang des "nächstkommenden Standes der Technik" besteht nicht. Erst aus rückschauender Sicht wird erkennbar, welche Vorveröffentlichung der Erfindung am nächsten kommt und wie der Entwickler hätte ansetzen können, um zu der erfindungsgemäßen Lösung zu gelangen. Die Wahl des Ausgangspunktes bedarf daher der Rechtfertigung, die in der Regel in dem Bemühen des Fachmanns liegt, für einen bestimmten Zweck eine bessere Lösung zu finden, als sie der bekannte Stand der Technik zur Verfügung stellt.26
Die weitaus meisten Patentnichtigkeitsurteile befassen sich mit der Frage der Patentfähigkeit unter dem Gesichtspunkt der erfinderischen Tätigkeit. Sie machen dabei vielfach deutlich, dass die erfinderische Tätigkeit nach dem Gesetz zwar Voraussetzung der Patentfähigkeit, nicht aber Prüfungsgegenstand ist. Prüfungsgegenstand ist vielmehr die Frage, ob sich der Gegenstand der Erfindung am Prioritätstag für den Fachmann in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt (Art. 56 Satz 1 EPÜ, § 4 Satz 1 PatG). Nicht die erfinderische Tätigkeit, sondern ihr Fehlen, d. h. das Naheliegen der Erfindung, ist zu prüfen: Ergeben sich hierfür keine Anhaltspunkte, gilt, wie das Gesetz sagt, die Erfindung als auf erfinderischer Tätigkeit beruhend. Das Gesetz nimmt damit in gewissem Umfang in Kauf, dass auch Innovationen geschützt werden, die nicht auf einer die Fähigkeiten des Durchschnittsfachmanns übersteigenden erfinderischen Tätigkeit beruhen. Denn dass Letzteres der Fall ist, ist mit den zur Verfügung stehenden Erkenntnismöglichkeiten im Nachhinein – und der Nichtigkeitsrichter muss wie der Prüfer immer im Nachhinein urteilen – häufig nicht positiv feststellbar. Es muss deshalb genügen, dass sich im Stand der Technik und im Fachwissen des jeweiligen Fachmanns keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Bewertung finden, dass der Gegenstand der Erfindung dem Fachmann nahegelegt war.
Die Betonung der Notwendigkeit einer Anregung oder Veranlassung zu der (erfindungsgemäßen) Lösung eines Problems darf nicht zu dem Missverständnis verleiten, nach der neueren Rechtsprechung des BGH sei die erfinderische Tätigkeit nur noch dann zu verneinen, wenn dem Fachmann in einer Druckschrift explizit der Weg zur Erfindung gewiesen werde. Bedenklich ist es jedoch, wenn die Veranlassung auf "das stetige Streben des Fachmanns nach Verbesserungen" reduziert wird. Dies ist nur eine Leerformel, die eine konkrete Begründung des Naheliegens nicht ersetzen kann. Auch das bloße Fehlen von Hindernissen, die einer bestimmten Vorgehensweise entgegenstehen, ersetzt nicht die Anregung.27
Begründungsbedürftig ist auch eine angenommene Hinzuziehung anderer Fachleute durch den primär „zuständigen" Fachmann.28 Selbst der Rückgriff auf Kenntnisse, die zum allgemeinen Fachwissen gehören, kann einer Rechtfertigung bedürfen.29 Der Versuch, eine bestimmte konkrete technische Lösung als zum allgemeinen Wissen des Fachmanns gehörend nachzuweisen, kann jedenfalls im Allgemeinen nicht die Veranlassung ersetzen, sie in einem technischen Kontext einzusetzen, in dem sie bislang nicht verwendet worden ist.
Denn, so sagt die Entscheidung „Betrieb einer Sicherheitseinrichtung"30, die Erfahrung lehrt, dass die technische Entwicklung nicht notwendigerweise diejenigen Wege geht, die sich bei nachträglicher Analyse der Ausgangsposition als sachlich plausibel oder gar mehr oder weniger zwangsläufig darstellen. Um das Begehen eines von den bisher beschrittenen Wegen abweichenden Lösungswegs nicht nur als möglich, sondern dem Fachmann nahegelegt anzusehen, bedarf es daher - abgesehen von denjenigen Fällen, in denen für den Fachmann auf der Hand liegt, was zu tun ist - in der Regel zusätzlicher, über die Erkennbarkeit des technischen Problems hinausreichender Anstöße, Anregungen, Hinweise oder sonstiger Anlässe dafür, die Lösung des technischen Problems auf dem Weg der Erfindung zu suchen.31
Bei einer solchen Prüfung der erfinderischen Tätigkeit haben tatsächliche Umstände, die Aufschluss darüber geben, wie die Erfindung in die Entwicklung des Fachgebiets einzuordnen ist und wie sie von den Wettbewerbern und den Abnehmern des betreffenden Produkts aufgenommen worden ist, in aller Regel keine wesentliche Bedeutung mehr. Solche Hilfskriterien ("Beweisanzeichen") können nach einem Urteil des BGH lediglich im Einzelfall Anlass geben, bekannte Lösungen besonders kritisch darauf zu überprüfen, ob sie vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens hinreichende Anhaltspunkte für ein Naheliegen der Erfindung bieten und nicht erst aus Ex-post-Sicht eine zur Erfindung führende Anregung zu enthalten scheinen.32
4. Auslegung von Patentansprüchen
Die Entscheidung "Mehrgangnabe"33 betraf einen Verletzungsprozess, dem gleich drei, durchaus komplizierte und für den technisch nicht geschulten Richter nicht leicht zugängliche Klagepatente zugrunde lagen. Dies trug sicherlich dazu bei, dass sich das Berufungsgericht ganz auf die Auslegung der Ansprüche durch den gerichtlichen Sachverständigen verließ. Wie nach vorausgegangenen Entscheidungen zu demselben Thema34 nicht anders zu erwarten, fand dies nicht die Zustimmung des BGH.
Er wiederholt, dass es zur Beurteilung der Frage, ob eine Patentverletzung vorliegt, zunächst der Befassung mit der technischen Lehre bedarf, die sich aus der Sicht des vom Klagepatent angesprochenen Fachmanns aus den Merkmalen des Patentanspruchs im Einzelnen und in ihrer Gesamtheit ergibt.35 Was sich hieraus als geschützter Gegenstand ergibt, ist eine Rechtsfrage, weshalb die Auslegung des Patentanspruchs nicht nur vom BGH in vollem Umfang nachgeprüft werden kann36, sondern auch allein dem Gericht und nicht dem von ihm beauftragten Sachverständigen obliegt37. Dass das fachmännische Verständnis der im Patentanspruch verwendeten Begriffe und des Gesamtzusammenhangs des Patentanspruchs die Grundlage der Auslegung bildet, bedeutet hierfür nur, dass sich der Tatrichter gegebenenfalls sachverständiger Hilfe bedienen muss, wenn es gilt, objektive technische Gegebenheiten und Kenntnisse, Fertigkeiten, Erfahrungen und Methodik des jeweils angesprochenen Fachmanns zu ermitteln, die das Verständnis des Patentanspruchs und der in der Patentschrift verwendeten Begriffe bestimmen oder jedenfalls beeinflussen können.38
Daraus folgt, dass das auf dieser Grundlage zu klärende richtige Verständnis des Patentanspruchs nicht durch Sachaufklärung "festgestellt" werden kann, sondern das Ergebnis richterlicher Auslegung vor dem Hintergrund des – gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe – festgestellten technischen Sachverhalts ist.39 Die primäre Aufgabe des Sachverständigen ist – im Patentverletzungsverfahren nicht anders als sonst im Zivilprozess – die Vermittlung von Fachwissen zur richterlichen Beurteilung von Tatsachen40; darüber hinaus kann dem Sachverständigen die Ermittlung von Anknüpfungstatsachen überlassen werden, wenn schon dafür eine dem Richter fehlende besondere Sachkunde erforderlich ist. Ebenso wenig, wie er sonst Rechtsfragen beantworten soll, wird ein Sachverständiger deshalb im Patentverletzungsprozess hinzugezogen, um das Klagepatent auszulegen, sondern um dem Gericht, wenn hierzu der Vortrag der Parteien nicht ausreicht, diejenigen fachlichen Kenntnisse zu verschaffen, die es benötigt, um seinerseits die geschützte technische Lehre zu verstehen und den diese Lehre – als Grundlage der Verletzungsprüfung und der Schutzbereichsbestimmung – definierenden Patentanspruch unter Ausschöpfung seines Sinngehalts auslegen zu können.41
Dies ist der Grund, warum das Gericht gehindert ist, die Schlüsse, die ein Sachverständiger aus seinem Fachwissen auf den Inhalt der technischen Lehre des Klagepatents zieht, ohne Weiteres zu übernehmen. Es kommt hinzu, dass der Sachverständige nach aller Erfahrung häufig geneigt ist, sich eher an den aus seiner fachlichen Sicht typischerweise aussagekräftigeren Ausführungsbeispielen der Erfindung als an den abstrakteren Formulierungen des Patentanspruchs zu orientieren. Schon in "Kabeldurchführung II" hat der X. Zivilsenat deshalb betont, dass sachverständige Äußerungen vom Tatrichter stets eigenverantwortlich daraufhin zu untersuchen sind, ob und inwieweit sie Angaben enthalten, die Aufklärung im Hinblick auf entscheidungserhebliche und allein von dem erkennenden Gericht zu beantwortende Fragen zu bieten vermögen.42
Der BGH weist demgemäß darauf hin, dass das Berufungsgericht von dieser Prüfung auch nicht insoweit entbunden war, als die Ausführungen des Sachverständigen in Einklang mit den in den Patentbeschreibungen erläuterten und dargestellten Ausführungsbeispielen standen. Denn eine entsprechende Beschränkung der Auslegung wäre mit dem Grundsatz unvereinbar, dass ein Ausführungsbeispiel regelmäßig keine einschränkende Auslegung eines die Erfindung allgemein kennzeichnenden Patentanspruchs erlaubt.43 Zwar kann sich aus der stets gebotenen Heranziehung der Beschreibung und der Zeichnungen zur Auslegung gegebenenfalls ein engeres Verständnis des Patentanspruchs ergeben, als es dessen Wortlaut für sich genommen nahelegt.44 Jedoch bedarf dies, wie der BGH betont, im Einzelnen sorgfältiger Prüfung und darf insbesondere nicht daraus geschlossen werden, dass Beschreibung und Abbildungen lediglich einige der unter den Wortlaut des Patentanspruchs fallenden möglichen Ausführungsformen betreffen. Maßgeblich ist vielmehr, ob die Auslegung des Patentanspruchs unter Heranziehung der Beschreibung und der Zeichnungen ergibt, dass nur bei Befolgung einer solchen engeren technischen Lehre derjenige technische Erfolg erzielt wird, der erfindungsgemäß mit den im Anspruch bezeichneten Mitteln erreicht werden soll. In diesem Zusammenhang können auch objektive technische Gegebenheiten eine Rolle spielen, die in der Patentschrift nicht erwähnt sind, jedoch zum Wissen des Fachmanns gehören, und daher das Verständnis des Patentanspruchs beeinflussen können, etwa weil aus der Sicht des Fachmanns nur eine bestimmte Ausgestaltung geeignet erscheint, den erfindungsgemäßen Erfolg herbeizuführen oder sich umgekehrt eine bestimmte Ausgestaltung von vornherein zur Erreichung des erfindungsgemäßen Erfolges ungeeignet darstellt.45
1 Beschl. v. 20. Januar 2009 – X ZB 22/07, GRUR 2009, 479.
2 BGH, GRUR 1986, 531 – Flugkostenminimierung.
3 BGHZ 117, 144 = GRUR 1992, 430.
4 BGHZ 144, 282 = GRUR 2000, 1007.
5 BGH, Beschl. v. 20. Januar 2009 – X ZB 22/07, GRUR 2009, 479 Rdnr. 11 – Steuerungseinrichtung für Untersuchungsmodalitäten.
6 BGH, GRUR 2009, 479 Rdnr. 12 – Steuerungseinrichtung für Untersuchungsmodalitäten.
7 Vgl. BGHZ 149, 68 = GRUR 2002, 143 – Suche fehlerhafter Zeichenketten; BGHZ 159, 197 = GRUR 2004, 667 – elektronischer Zahlungsverkehr.
8 BGH, Beschl. v. 20. Januar 2009 – X ZB 22/07, GRUR 2009, 479 Rdnr. 11 – Steuerungseinrichtung für Untersuchungsmodalitäten.
9 GRUR 2008, 597 (in englischer Übersetzung IIC 2009, 340).
10 BGHZ 148, 383 = GRUR 2002, 146 = ABl. EPA 2002, 331 (dreisprachig) – Luftverteiler.
11 BGH, GRUR 2008, 597 Rdnr. 17 – Betonstraßenfertiger.
12 BGHZ 148, 383 = GRUR 2002, 146 = ABl. EPA 2002, 331 (dreisprachig) – Luftverteiler; BGH, GRUR 2003, 133 – elektronische Funktionseinheit, jeweils m. w. Nachw.
13 BGH, GRUR 2008, 597 Rdnr. 17 – Betonstraßenfertiger.
14 Urt. v. 16. Dezember 2008 – X ZR 889/07, BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382.
15 Vgl. BGH, GRUR 2004, 407, 411 – Fahrzeugleitsystem.
16 BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 Rdnr. 25 – Olanzapin, unter Hinweis auf BGHZ 148, 383, 389 = GRUR 2002, 146 = ABl. EPA 2002, 331 (dreisprachig) – Luftverteiler; BGH, GRUR 2004, 133, 135 – Elektronische Funktionseinheit; BGH, GRUR 2008, 597 Rdnr. 17 – Betonstraßenfertiger; Große Beschwerdekammer des EPA, ABl. EPA 2001, 413; Technische Beschwerdekammer des EPA GRUR Int. 2008, 511 – Traction sheave elevator/KONE.
17 BGHZ 128, 270, 277 = GRUR 1995, 330 – Elektrische Steckverbindung.
18 BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 Rdnr. 26 – Olanzapin.
19 BGHZ 128, 270, 276 f. = GRUR 1995, 330 – Elektrische Steckverbindung.
20 BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 Rdnr. 26 – Olanzapin.
21 S. insoweit schon BGHZ 103, 150, 157 = GRUR 1988, 447 – Fluoran.
22 BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 Rdnr. 27 – Olanzapin, unter Hinweis auf BGHZ 103, 150, 157 = GRUR 1988, 447 – Fluoran.
23 BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 Rdnr. 27 – Olanzapin, unter Hinweis auf BGH, GRUR 2000, 296, 297 – Schmierfettzusammensetzung.
24 ABl. EPA 1982, 296 – Diastereomere/BAYER; ABl. EPA 1984, 401 – Spiroverbindungen/CIBA GEIGY; ABl. EPA 1988, 381 – Xanthines/DRACO; ABl. EPA 1990, 195 – Enantiomere/HOECHST; Entscheidung vom 19.2.2003 – T 940/98 – Diastereomere des 3-Cephem-4-carbonsäure-1-(isopropoxycarbonyloxy)ethylesters/HOECHST. Diese Rechtsprechung ist auch vom High Court für England und Wales (Floyd J.) in dem dasselbe europäische Streitpatent betreffenden englischen Verfahren zugrunde gelegt worden ([2008] EWHC 2345 (Pat)).
25 Xa ZR 130/07, GRUR 2010, 123 – Escitalopram (Lundbeck).
26 BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 Rdnr. 51 – Olanzapin. Ebenso BGH, Urt. v. 18. Juni 2009 – Xa ZR 138/05, GRUR 2009, 1039 – Fischbissanzeiger.
27 BGH, Urt. v. 8. Dezember 2009 – X ZR 65/05, GRUR 2010, 407 – einteilige Öse.
28 BGH, Urt. v. 29. September 2009 – X ZR 169/07, GRUR 2010, 41 – Diodenbeleuchtung.
29 BGH, Urt. v. 30. April 2009 – Xa ZR 56/05, GRUR 2009, 743 – Airbag-Auslösesteuerung.
30 BGH, Urt. v. 30. April 2009 – Xa ZR 92/05, BGHZ 182, 1 = GRUR 2009, 746.
31 BGHZ 182, 1 = GRUR 2009, 746 Rdnr. 20 – Betrieb einer Sicherheitseinrichtung.
32 BGH, Urt. v. 30. Juli 2009 – Xa ZR 22/06, GRUR 2010, 44 – Dreinahtschlauchfolienbeutel.
33 BGH, Urt. v. 12. Februar 2008 – X ZR 153/05, GRUR 2008, 779 (in englischer Übersetzung IIC 2008. 839).
34 BGH, GRUR 2001, 770, 772 – Kabeldurchführung II; BGHZ 164, 261, 268 = GRUR 2006, 131 (in englischer Übersetzung IIC 2006, 743) – Seitenspiegel; BGHZ 171, 120 = GRUR 2007, 410 (in englischer Übersetzung IIC 2007, 726) Rdnr. 18 – Kettenradanordnung.
35 BGHZ 171, 120 = GRUR 2007, 410 (in englischer Übersetzung IIC 2007, 726) Rdnr. 18 – Kettenradanordnung; BGHZ 172, 108 = GRUR 2007, 859 Rdnr. 13 – Informationsübermittlungsverfahren I.
36 st. Rspr.; s. nur BGHZ 142, 7, 15 = GRUR 1999, 977 – Räumschild; BGHZ 160, 204, 213 = GRUR 2004, 1023 ((in englischer Übersetzung IIC 2005, 971) – Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung; BGHZ 176, 311 = GRUR 2008, 896 (in englischer Übersetzung IIC 2009, 475) Rdnr. 17 – Tintenpatrone.
37 BGHZ 171, 120 = GRUR 2007, 410 (in englischer Übersetzung IIC 2007, 726) Rdnr. 18 – Kettenradanordnung.
38 BGH, GRUR 2008, 779 Rdnr. 30 f. (in englischer Übersetzung IIC 2008, 839) – Mehrgangnabe, unter Hinweis auf BGHZ 164, 261, 268 = GRUR 2006, 131 (in englischer Übersetzung IIC 2006, 743) – Seitenspiegel; BGHZ 171, 120 = GRUR 2007, 410 (in englischer Übersetzung IIC 2007, 726) Rdnr. 18 – Kettenradanordnung.
39 BGHZ 160, 204, 213 = GRUR 2004, 1023 (in englischer Übersetzung IIC 2005, 971) – Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung.
40 BGHZ 37, 389, 393 f.; BGHZ 159, 254, 262; BGH, NJW 1993, 1796, 1797.
41 BGH, GRUR 2008, 779 Rdnr. 32 (in englischer Übersetzung IIC 2008, 839) – Mehrgangnabe.
42 BGH, GRUR 2001, 770, 772 – Kabeldurchführung II. S. auch BGHZ 171, 120 = GRUR 2007, 410 (in englischer Übersetzung IIC 2007, 726) Rdnr. 18 – Kettenradanordnung: "Das Verständnis des Sachverständigen vom Patentanspruch genießt als solches bei der richterlichen Auslegung grundsätzlich ebenso wenig Vorrang wie das Verständnis einer Partei".
43 BGH, GRUR 2008, 779 Rdnr. 34 (in englischer Übersetzung IIC 2008, 839) – Mehrgangnabe, unter Hinweis auf BGHZ 160, 204, 210 = GRUR 2004, 1023 ((in englischer Übersetzung IIC 2005, 971) – Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung; BGHZ 172, 88 = GRUR 2007, 778 (in englischer Übersetzung IIC 2008, 223) Rdnr. 18, 21 – Ziehmaschinenzugeinheit.
44 Vgl. BGH, GRUR 1999, 909, 911 f. – Spannschraube.
45 BGH, GRUR 2008, 779 Rdnr. 37 (in englischer Übersetzung IIC 2008, 839) – Mehrgangnabe.