BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.3 vom 4. Januar 1996 - T 583/93 - 3.3.3
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | C. Gérardin |
Mitglieder: | B. ter Laan |
J. Stephens-Ofner |
Patentinhaber/Beschwerdeführer: HYMO Corporation
Einsprechender/Beschwerdegegner: SNF Floerger
Stichwort: Wasserlösliche Polymerdispersion/ HYMO CORPORATION
Artikel: 114 (2), 56, 123 (2) und (3) EPÜ
Schlagwort: "verspätet eingereichte Ansprüche - nicht zugelassen (verspätetes Vorbringen nicht hinreichend begründet)" - "Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (verneint) - Aufnahme von zuvor als nicht wesentlich dargestellten Merkmalen zulässig" - "erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (verneint): technische Aufgabe nicht über den gesamten Bereich gelöst - Hilfsantrag (bejaht) - nach Änderung"
Leitsätze
I. Mangelnde Kommunikation zwischen Patentinhaber und Lizenznehmer ist für die Kammer kein hinreichender Anlaß, in Ausübung ihres Ermessens extrem spät eingereichte Anträge zum Beschwerdeverfahren zuzulassen.
II. Aus der Rechtsprechung der Kammern, wonach die Streichung von durchweg als wesentlich hingestellten Merkmalen aus einem Anspruch gemäß Artikel 123 (2) EPÜ unzulässig ist, kann nicht im Umkehrschluß gefolgert werden, daß auch die Aufnahme von zuvor als nicht wesentlich beschriebenen Merkmalen in einen Anspruch unzulässig ist, und jeder Versuch, Artikel 123 (2) EPÜ dahingehend auszulegen, muß zwangsläufig fehlgehen.
Sachverhalt und Anträge
I. Am 29. August 1990 wurde der Hinweis auf die Erteilung des europäischen Patents Nr. 0 183 466 bekanntgemacht; das Patent wies 13 Ansprüche auf und ging auf die am 18. November 1985 eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 85 308 398.8 zurück, die die Priorität dreier früherer Anmeldungen aus Japan in Anspruch nahm (244152/84 vom 19. November 1984 sowie 158709/85 und 158711/85, beide vom 18. Juli 1985). Anspruch 1 lautet wie folgt:
"Verfahren zur Herstellung einer wasserlöslichen Polymerdispersion, gekennzeichnet durch Polymerisieren eines wasserlöslichen Monomers unter Rühren in einer wäßrigen Lösung von wenigstens einem Salz in Gegenwart eines Dispersionsmittels."
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 13 bezogen sich auf bevorzugte Ausführungsformen des Verfahrens zur Herstellung einer wasserlöslichen Polymerdispersion gemäß Anspruch 1. Insbesondere Anspruch 8 beschrieb das Dispersionsmittel als "ein Polymer von einem oder mehreren kationischen Monomeren der Formel III unten oder ein Copolymer (...), das 20 Mol-% oder mehr davon enthält:
wobei R1 H oder CH3 ist; R2 und R3 jeweils eine Alkylgruppe mit 1 bis 2 Kohlenstoffatomen sind; R4 H oder eine Alkylgruppe mit 1 bis 2 Kohlenstoffatomen ist; A ein Sauerstoffatom oder NH ist; B eine Alkylgruppe mit 2 bis 4 Kohlenstoffatomen oder eine Hydroxypropylengruppe ist; und X- ein anionisches Gegenion ist."
Anspruch 10 beschrieb das wasserlösliche Monomer weiter als "ein Gemisch von einem oder mehreren kationischen Monomeren der Formel I unten und anderen damit copolymerisierbaren Monomeren in einem Molverhältnis im Bereich von 100:0 bis 5:95:
wobei R1 H oder CH3 ist; R2 und R3 jeweils eine Alkylgruppe mit 1 bis 3 Kohlenstoffatomen sind; A ein Sauerstoffatom oder NH ist; B eine Alkylengruppe mit 2 bis 4 Kohlenstoffatomen oder eine Hydroxypropylengruppe ist; und X- ein anionisches Gegenion ist."
II. Am 25. April 1991 wurde Einspruch gegen das erteilte Patent eingelegt und unter Berufung auf Artikel 100 a) EPÜ sein Widerruf in vollem Umfang beantragt. Der Einspruch war im wesentlichen auf die Dokumente US-A-4 380 600 (D1) und GB-A-1 457 958 (D2) gestützt, wobei D2 der in der Patentschrift genannten und im Prüfungsverfahren berücksichtigten Druckschrift FR-A-2 251 367 (D2a) entspricht.
III. Mit einer am 22. März 1993 mündlich verkündeten und am 23. April 1993 schriftlich ergangenen Entscheidung wurde das Patent von der Einspruchsabteilung widerrufen. Der Entscheidung lagen drei Anspruchssätze in Form eines Hauptantrags und zweier Hilfsanträge zugrunde. Die Einspruchsabteilung hielt Anspruch 1 des Hauptantrags für nicht neu, Anspruch 1 des ersten Hilfsantrags für nicht im Einklang mit Artikel 123 (2) EPÜ und den beanspruchten Gegenstand des zweiten Hilfsantrags für nicht erfinderisch. Insbesondere sprach sie den Merkmalen der Ansprüche 7 und 9 des zweiten Hilfsantrags, die den erteilten Ansprüchen 8 und 10 entsprachen, die erfinderische Tätigkeit ab.
IV. Der Beschwerdeführer (Patentinhaber) legte am 23. Juni 1993 unter Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr Beschwerde gegen diese Entscheidung ein. Zusammen mit der Beschwerdebegründung wurden am 1. September 1993 drei Anspruchssätze in Form eines Hauptantrags und zweier Hilfsanträge eingereicht. Mit Schreiben vom 26. Januar 1995 reichte der Beschwerdeführer diese Anträge nochmals ein und beantragte eine Beschleunigung des Verfahrens.
V. Mit Bescheid vom 22. März 1995 erhob die Kammer gegen diese drei Anspruchssätze Einwände nach den Artikeln 54, 56, 84 und 123 (2) EPÜ, ließ aber durchblicken, daß der Wortlaut von Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags diese großenteils ausräume, woraufhin der Beschwerdeführer am 17. Mai 1995 als einzigen Antrag Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags in leicht geänderter Fassung einreichte, der wie folgt lautet:
"Verfahren zur Herstellung einer wäßrigen Dispersion eines wasserlöslichen Polymers, dadurch gekennzeichnet, daß mindestens ein wasserlösliches Monomer (A) der allgemeinen Formel I
wobei R1 H oder CH3 ist; R2 und R3 jeweils eine Alkylgruppe mit 1 bis 3 Kohlenstoffatomen sind; A ein Sauerstoffatom oder NH ist; B eine Alkylengruppe mit 2 bis 4 Kohlenstoffatomen oder eine Hydroxypropylengruppe ist; und X- ein Gegenion ist; und gegebenenfalls mindestens ein weiteres damit copolymerisierbares wasserlösliches Monomer (B) in einem Molverhältnis von (A) zu (B) im Bereich von 100:0 bis 5:95 unter Rühren in einer wäßrigen Salzlösung in Gegenwart eines in der wäßrigen Salzlösung löslichen Polymerelektrolytdispersionsmittels polymerisiert wird, das 20 Mol-% oder mehr Monomereinheiten der allgemeinen Formel (III) enthält
wobei R1 H oder CH3 ist; R2 und R3 jeweils eine Alkylgruppe mit 1 bis 2 Kohlenstoffatomen sind; R4 H oder eine Alkylgruppe mit 1 bis 2 Kohlenstoffatomen ist; A ein Sauerstoffatom oder NH ist; B eine Alkylengruppe mit 2 bis 4 Kohlenstoffatomen oder eine Hydroxypropylengruppe ist; und X- ein Gegenion ist; und das Salz und die Salzkonzentration derart sind, daß das erzeugte Polymer ausfällt."
VI. Auf einen Schriftsatz des Beschwerdegegners (Einsprechenden) vom 7. August 1995, in dem auf zwei weitere, bis dahin nicht eingereichte Druckschriften (DE-A-1 720 528 und US-A-3 336 270) Bezug genommen wurde, reichte der Beschwerdeführer am 27. November 1995 als neuen Hauptantrag einen inhaltlich mit dem ersten Hilfsantrag vom 1. September 1993 übereinstimmenden Anspruchssatz ein und hielt den oben genannten einzigen Anspruch (Nr. V) als Hilfsantrag aufrecht.
VII. Mit einem am 3. Januar 1996, d. h. am Vortag der mündlichen Verhandlung, eingegangenen Schreiben zog der Beschwerdeführer den zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Hauptantrag zurück und reichte als neuen Haupt- bzw. ersten Hilfsantrag zwei neue Anspruchssätze ein, in die bis dahin unberücksichtigte Merkmale aus der Beschreibung aufgenommen (Hauptantrag) bzw. Merkmale wiedereingeführt wurden, die - zum Großteil nach dem ersten Bescheid der Kammer - fallengelassen worden waren (erster Hilfsantrag). Ein Grund für die späte Antragstellung wurde nicht genannt, ebensowenig wurde auf die neu eingeführten Merkmale eingegangen. An dem oben genannten einzigen Anspruch (Nr. V) wurde im zweiten Hilfsantrag festgehalten.
VIII. Am 4. Januar 1996 wurde mündlich verhandelt, wobei es zunächst um das verspätete Vorbringen der Ansprüche am Vortag der mündlichen Verhandlung ging.
Der Beschwerdeführer machte im wesentlichen geltend, es habe sich erst nach der auf den Bescheid der Kammer hin erfolgten Einreichung der Ansprüche herausgestellt, daß der amerikanische Lizenznehmer diese für zu eng hielt. Nachdem der Vertreter des Beschwerdeführers am 5. und 6. Dezember 1995 das amerikanische Unternehmen besucht und die gesamte Akte mitgenommen habe, sei ein Kurierdienst beauftragt worden, sie von den USA nach Deutschland zurückzubringen, wo sie aber erst Mitte Dezember zugestellt worden sei. Da man keine Kopie der Akte in Europa zurückbehalten habe, hätten die neuen Ansprüche nicht früher formuliert werden können.
Der Beschwerdegegner wandte sich entschieden gegen die Einreichung zweier neuer Anträge nur einen Tag vor der Anhörung. Die verspätete Einreichung sei eindeutig unlauter und stelle einen schweren Verfahrensmißbrauch dar, der seine Rechte gefährde.
Die Kammer beschloß nach Anhörung des Beschwerdeführers und des Beschwerdegegners, die neuen Anträge nicht zum Verfahren zuzulassen.
IX. Der Beschwerdeführer reichte daraufhin als Hauptantrag erneut den oben genannten einzigen Anspruch und als Hilfsantrag eine geänderte Fassung dieses Anspruchs ein, in dem auch die Menge des eingebrachten Polymerelektrolytdispersionsmittels genannt war, womit einem Einwand der Kammer begegnet werden sollte. Der geänderte Teil des Anspruchs lautet wie folgt: "... in Gegenwart von - bezogen auf die wäßrige Salzlösung - mindestens 0,1 Gew.-% eines in der wäßrigen Salzlösung löslichen Polymerelektrolytdispersionsmittels ..."
Der Vortrag des Beschwerdeführers läßt sich wie folgt zusammenfassen:
i) Was Artikel 123 (2) EPÜ betreffe, so hätten die Änderungen der Ansprüche eine Stütze in der Offenbarung der Patentschrift und im ersten Prioritätsdokument und seien daher zulässig.
ii) Was die Neuheit betreffe, so offenbare D1 nicht die Polymerisation in Gegenwart eines in wäßriger Salzlösung löslichen Dispersionsmittels, denn die in D1 verwendeten wasserlöslichen Polymere fungierten als phasentrennende Mittel und nicht als Dispersionsmittel. Abgesehen davon sei D1 keine ausführbare Offenbarung, da eine Nacharbeitung der Beispiele 1 und 21 nicht zu einer Polymerdispersion geführt habe. Des weiteren sei das Vorhandensein eines Salzes laut D1 kein wesentliches, sondern nur ein mögliches Merkmal, wobei es weder als Ausfäll- noch als Trennmittel diene. Zur Stützung dieses Vorbringens sei ein Versuchsbericht eingereicht worden.
D2 beziehe sich auf ein Suspensionspolymerisations-Verfahren in Gegenwart eines organischen Lösungsmittels und nehme den beanspruchten Gegenstand ebensowenig vorweg.
iii) Da keines dieser oder der übrigen im Verfahren entgegengehaltenen Dokumente einen Hinweis auf die Kombination der nunmehr erforderlichen Zusammensetzungsmerkmale enthalte, sei der beanspruchte Gegenstand außerdem erfinderisch.
Zur Stützung seiner Argumente legte der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung 5 Elektronenmikroskopfotos vor, um die Morphologie der Dispersionen nach Beispiel 19 und Vergleichsbeispiel 1 des Streitpatents sowie nach Beispiel 1 aus D1 zu veranschaulichen. Außerdem wurde in der mündlichen Verhandlung experimentell die unterschiedliche Wasserlöslichkeit zweier Polymerdispersionen demonstriert. Angeblich wurden die beiden Dispersionen gemäß Streitpatent bzw. Entgegenhaltung D1 hergestellt; Genaueres verlautete hierzu jedoch nicht. Der Beschwerdegegner zog Herkunft und Zusammensetzung der Dispersionen folglich auch in Zweifel.
X. Der Beschwerdegegner machte in seinem Schriftsatz vom 7. August 1995 und in der mündlichen Verhandlung im wesentlichen geltend, daß es nicht mit dem EPÜ vereinbar sei, Merkmale in den Anspruch aufzunehmen, die plötzlich als wesentlich zu betrachten seien, während sie bislang - in der ursprünglichen Beschreibung und im Vorbringen des Beschwerdeführers im Prüfungs-, Einspruchs- und Beschwerdeverfahren - als nicht wesentlich hingestellt worden seien. Außerdem sei der Beschwerdegegner nicht zu dem neu definierten Gegenstand gehört worden, dem auch die erste Instanz in ihrer Entscheidung nicht Rechnung getragen habe, so daß eine diesbezügliche Beschwerde rechtlich gar nicht möglich sei.
Der Beschwerdegegner brachte ferner einen in drei Teile gegliederten Einwand gegen den Anspruchswortlaut im Hauptantrag vor:
i) Weder das spezifische wasserlösliche Monomer der allgemeinen Formel I noch das Monomer der allgemeinen Formel III, die zumindest partiell das Polymerelektrolytdispersionsmittel bildeten, seien in der ursprünglichen Anmeldung als besonders bevorzugte Merkmale genannt. Ihre Auswahl ergebe eine Erfindungsdefinition, die nicht dem zum Prioritätszeitpunkt beschriebenen ursprünglichen Erfindungskern entspreche, nämlich der Verwendung eines Salzes als Ausfällmittel zur Herstellung eines wasserlöslichen Polymers (Art. 123 (2) EPÜ). Zur Stützung dieser Argumente zog der Beschwerdegegner in der mündlichen Verhandlung die Entscheidung T 22/81 (ABl. EPA 1983, 226) an und gab eine tabellarische Übersicht über die Akte aus, die zeigte, daß sich die Bedeutung, die der Beschwerdeführer verschiedenen Merkmalen des Herstellungsverfahrens beimaß, im Laufe des Prüfungs-, Einspruchs- und Beschwerdeverfahrens tatsächlich geändert hatte.
ii) Aus diesem Grund müsse die Salzmenge in den Ansprüchen als konkreter Bereich angegeben werden, aus dem die Konzentration der wäßrigen Salzlösung hervorgehe, und nicht als rein funktionale Definition (Art. 84 EPÜ).
iii) Die Auswahl von Monomer und Dispersionsmittel sei in beiden Fällen willkürlich und könne somit nicht erfinderisch sein, weil D1 ein Verfahren zur Herstellung einer wäßrigen Polymerdispersion offenbare, bei dem ein Monomer gemäß Formel I und ein Polymerdispersionsmittel mit quartären Ammoniumgruppen verwendet werden könnten (Art. 56 EPÜ).
Darüber hinaus beantragte der Beschwerdegegner speziell eine Entscheidung über die beiden folgenden Fragen, die von grundlegender Bedeutung seien:
1. "Ist es zulässig, die wesentlichen Bestandteile der Erfindung nach dem Prioritätstag ohne technische Stützung durch die Beschreibung neu zu definieren? Es sei auf das Konzept der "technischen Realität" verwiesen."
2. "Ist es zulässig, durch bloßes Herausgreifen einer Spezies einen Auswahlanspruch zu formulieren, wenn die Beschreibung keine Stützung erfinderischer Tätigkeit erkennen läßt?"
XI. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des in der mündlichen Verhandlung als Haupt- bzw. Hilfsantrag eingebrachten, einzigen Anspruchs.
Der Beschwerdegegner beantragte die Zurückweisung der Beschwerde.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Verfahrensfragen
2. Am 3. Januar 1996, d. h. einen Tag vor der mündlichen Verhandlung, reichte der Beschwerdeführer zwei weitere Anträge ein. Beide enthielten Ansprüche, die breiter waren als in dem früheren, einzigen Antrag des Beschwerdeführers, der am 17. Mai 1995 eingereicht und jetzt als zweiter Hilfsantrag aufrechterhalten wurde; der Hauptantrag enthielt einen breiteren Anspruch als der am 27. November 1995 eingereichte Hauptantrag. Das verspätete Einreichen dieser Anträge, das weder auf einen Bescheid der Kammer noch auf ein Vorbringen des Beschwerdegegners hin erfolgte, wirft eine Verfahrensfrage auf.
2.1 Die Entscheidung darüber, ob verspätet eingereichte Unterlagen - auch Anträge - im Beschwerdeverfahren zugelassen werden, liegt im Ermessen der Kammer, die dieses unparteiisch auszuüben und den Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 9/91 (ABl. EPA 1993, 408) und G 10/91 (ABl. EPA 1993, 420) in vollem Umfang Rechnung zu tragen hat. Verspätet eingereichte Anträge können vom Verfahren ausgeschlossen werden, wenn keine in Anbetracht der Sachlage stichhaltigen Gründe für die Verspätung vorliegen oder wenn die Gründe zwar stichhaltig, die Anträge aber nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des EPÜ (Art. 102 (3)) nicht eindeutig gewährbar sind. Umgekehrt können auch eindeutig gewährbare Anträge vom Verfahren ausgeschlossen werden, wenn die Gründe für das verspätete Vorbringen in Anbetracht der Sachlage nicht stichhaltig sind.
2.2 Der maßgebende Sachverhalt, wie er aus der Akte hervorgeht und vom Vertreter des Beschwerdeführers sowie einem leitenden Angestellten des Unternehmens, das eine Lizenz am Streitpatent erworben hat, auf konkrete, gezielte Fragen der Kammer im Rahmen der Beweisaufnahme (Art. 117 EPÜ) geschildert wurde, stellt sich wie folgt dar:
1991 wurde zwischen dem Patentinhaber und einer großen US-Firma eine Vereinbarung über eine nichtausschließliche Lizenz an dem Streitpatent geschlossen. Am 26. Januar 1995 beantragte der zugelassene Vertreter des Patentinhabers eine "beschleunigte Bearbeitung der Beschwerde", weil es mehrere potentielle Lizenznehmer gebe, die ihre unternehmerischen Entscheidungen vom Ausgang des Beschwerdeverfahrens abhängig machten. Tatsächlich traf sich der zugelassene Vertreter erst am 5. und 6. Dezember 1995 zu einer Besprechung mit dem amerikanischen Lizenznehmer. Bei diesem Treffen wurde er auf die kommerziell ungünstige, weil sehr enge Fassung der am 27. November 1995 eingereichten Anträge hingewiesen. Der weitere Verlauf der Kommunikation zwischen Lizenznehmer und Patentinhaber ist - abgesehen von den unter "Sachverhalt und Anträge" (Nr. IX) bereits erwähnten Vorgängen - unklar. Schließlich wurden am 3. Januar 1996 die beiden Antragssätze vorgelegt, die einen Vertreter des Beschwerdegegners am Nachmittag bzw. Abend desselben Tages in seinem Hotel in München erreichten.
2.3 Für die Kammer steht fest, daß es nach der Unterzeichnung der Lizenzvereinbarung 1991 bis Ende 1995, als sehr spät schließlich der kommerziell ungünstige Umfang der seinerzeit aktuellen Anträge erkannt wurde und sich breitere Ansprüche als notwendig erwiesen, wenn überhaupt, dann nur eine sehr spärliche Kommunikation zwischen dem Lizenznehmer und dem Patentinhaber gegeben hat.
Warum die Angelegenheit so lax gehandhabt wurde, ist nicht erkennbar und durchaus überraschend angesichts der Tatsache, daß das Patent mit Entscheidung vom 23. April 1993 widerrufen wurde und Lizenzvereinbarungen unter normalen Umständen Klauseln enthalten, die die Gebührenzahlungen an den Rechtsbestand des lizenzierten Patents knüpfen. Während es sich beim Patentinhaber um eine relativ kleine Firma handelt, trifft dies auf den Lizenznehmer eindeutig nicht zu, wie sich beispielsweise daran zeigt, daß bei der Anhörung mehrere hochrangige Führungskräfte anwesend waren, u. a. der Leiter der Patent- und Lizenzabteilung.
Nach Ansicht der Kammer ist das extrem späte Vorbringen der zwei weiteren Anträge allein dem schlechten "Kommunikationssystem" anzulasten. Diese Sachlage entbehrt eindeutig einer ausreichenden Rechtfertigung, auf deren Grundlage die Kammer ihr Ermessen zugunsten des Patentinhabers ausüben und die beiden neuen Anträge zum Verfahren zulassen könnte.
2.4 Die Kammer entschied daher, die beiden Anträge nicht zum Verfahren zuzulassen und sich mit dem verbleibenden, zumindest inhaltlich seit 1. September 1993 vorliegenden zweiten Hilfsantrag zu befassen bzw. mit Anträgen, die sich im Laufe der Verhandlung zu Recht aus dem Vorbringen der Beteiligten ergäben.
3. Im vorgerückten Stadium des schriftlichen Beschwerdeverfahrens hatte der Beschwerdegegner zwei weitere, bis dahin weder im Einspruchs- noch im Beschwerdeverfahren erwähnte Dokumente angezogen (siehe Nr. VI), um seinen Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit zu stützen. In der mündlichen Verhandlung der Beschwerde tat er dies jedoch nicht mehr, weswegen die Dokumente gemäß Artikel 114 (2) EPÜ unberücksichtigt blieben.
Hauptantrag
4. Der Wortlaut des einzigen Anspruchs ist aus den nachstehend genannten Gründen nach Artikel 123 (2) und (3) EPÜ nicht zu beanstanden.
Artikel 123 (3)
4.1 Der Wortlaut des einzigen Anspruchs unterscheidet sich von Anspruch 1 in der erteilten Fassung durch i) die zweiteilige Form, ii) die Verwendung einer spezifischen Klasse wasserlöslicher Monomere, iii) die Verwendung einer spezifischen Klasse von Polymerdispersionsmitteln und iv) das Erfordernis, daß die Salzkonzentration derart sein soll, daß das erzeugte Polymer ausfällt. Da der Gebrauch der zweiteiligen Form keinen Einfluß auf den Umfang des Anspruchs hat und sich die Spezifizierung von Verbindungen sowie die Einführung von Konzentrationsvorgaben für die wäßrige Salzlösung beschränkend auswirken, führt die Änderung des beanspruchten Gegenstands nach Ansicht der Kammer nicht zu einer Erweiterung des Schutzbereichs der erteilten Ansprüche.
Artikel 123 (2)
4.2 Die genannten Unterschiede zwischen dem vorliegenden Anspruch und dem erteilten Anspruch 1 (Nr. 4.1) treffen auch auf Anspruch 1 in der ursprünglich eingereichten Fassung zu, da sich dieser nicht vom erteilten Anspruch 1 unterscheidet.
i) Da der Gebrauch der zweiteiligen Form eine rein redaktionelle Änderung darstellt, kann gegen sie kein Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ erhoben werden.
ii) Die Verwendung der spezifischen Klasse wasserlöslicher Monomere war in Anspruch 10 in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart.
iii) Die Verwendung der spezifischen Klasse von Polymerdispersionsmitteln findet ihre Grundlage in Anspruch 8 in der ursprünglich eingereichten Fassung.
iv) In Anspruch 2 der ursprünglichen Fassung heißt es, daß "... das Salz und die Salzkonzentration derart sind, daß das Polymer nicht gelöst wird ...". Auf Seite 2, Zeile 34 bis Seite 3, Zeile 3 der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (Seite 2, Zeilen 44 bis 47 des erteilten Patents) heißt es, daß die Polymerisation stattfindet "... während das Polymer in Form feiner Teilchen ausfällt ... Die wäßrige Salzlösung muß ... das Polymer ausfällen" und auf Seite 4, letzte Zeile bis Seite 5, erste Zeile der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung (Seite 3, Zeilen 27 und 28 des erteilten Patents) ist von der Voraussetzung die Rede, daß "das entstehende Polymer des Monomers (A) in der wäßrigen Salzlösung nicht löslich sein darf". Diese Offenbarungen werden zusammengenommen als ausreichende Grundlage für das Erfordernis betrachtet, daß die Salzkonzentration derart sein muß, daß das erzeugte Polymer ausfällt.
4.3 Der Beschwerdegegner stellte zwar nicht in Abrede, daß die einzelnen Merkmale ausreichend gestützt seien, bezeichnete die Kombination der Merkmale ii bis iv aber als künstlich, weil die Patentschrift keinen Hinweis auf einen etwaigen Vorteil dieser Merkmale enthalte und es sich somit um eine neue Lehre handle, die durch die ursprüngliche Anmeldung nicht gestützt werde.
4.4 Die Beschreibung der Patentschrift enthält eine Aufzählung bestimmter wasserlöslicher Acrylmonomere (A) sowie zwei allgemeine Formeln I und II für kationische Monomere (Seite 3, Zeile 24 bis Seite 4, Zeile 17 der ursprünglichen Anmeldung; Seite 2, Zeile 59 bis Seite 3, Zeile 25 des erteilten Patents), wobei keinerlei Bevorzugung angegeben wird. Ebensowenig wird eines der in der Beschreibung genannten Polymerelektrolytdispersionsmittel bevorzugt, solange sie in der zur Polymerisation verwendeten wäßrigen Salzlösung löslich sind (Seite 7, Zeilen 5 bis 8 der ursprünglichen Anmeldung; Seite 3, Zeilen 58 bis 59 des erteilten Patents).
Dagegen heißt es in der Beschreibung sehr wohl, daß bei Erzeugung eines kationischen Polymers ein kationischer Polymerelektrolyt bevorzugt wird, der dann "vorzugsweise ein Polymer aus einem oder mehreren kationischen Monomeren der ... Formel III oder ein Copolymer ... davon" sein soll (Seite 7, Zeile 13 bis Seite 8, Zeile 5 der ursprünglichen Anmeldung; Seite 3, Zeile 63 bis Seite 4, Zeile 14 des erteilten Patents). Zudem waren die Ansprüche in der ursprünglich eingereichten und in der erteilten Fassung bereits auf ein Verfahren gerichtet, dem die Kombination der Merkmale ii bis iv zugrundelag, indem nämlich Anspruch 10, der die Verwendung von Monomeren der Formel I betraf, von Anspruch 8 abhing, der wiederum die Verwendung eines Polymerdispersionsmittels betraf, das in einem Polymerisationsverfahren, bei dem ein Salz als Ausfällmittel diente, aus einem Monomer der Formel III gebildet wurde (Anspruch 2 in der ursprünglich eingereichten und in der erteilten Fassung). Genau diese Kombination wird auch in den Beispielen 1 bis 9 sowie 19 des erteilten Patents und der ursprünglichen Anmeldung veranschaulicht. Somit ist eine ausreichende Grundlage für eine Kombination der Merkmale ii und iii im Rahmen eines das Merkmal iv umfassenden Polymerisationsverfahrens vorhanden.
Die Kammer ist daher zu dem Schluß gelangt, daß der nunmehr beanspruchte Gegenstand mit den vorgenommenen Änderungen nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht.
4.5 Das EPÜ steht der Neuformulierung einer Erfindung nicht entgegen, solange die Erfordernisse des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ erfüllt sind, was - wie gezeigt - hier der Fall ist. Eine Neuformulierung ist häufig erforderlich, wenn einem Stand der Technik Rechnung zu tragen ist, der dem Anmelder am Prioritätstag nicht bekannt war. Es kann also durchaus sein, daß Merkmale, die am Prioritätstag als bloße Möglichkeit beschrieben werden, später als wesentlich zu betrachten sind, weil sie die Erfindung gegenüber dem Stand der Technik abgrenzen müssen. Die Einführung solcher Merkmale ist unter der Voraussetzung zulässig, daß erstens die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung eine geeignete Grundlage für Abgrenzungen dieser Art bietet und zweitens die daraus resultierende Merkmalskombination noch mit der Lehre der Anmeldung in Einklang steht. Aus der Rechtsprechung der Kammern, wonach die Streichung von durchweg als wesentlich hingestellten Merkmalen aus einem Anspruch gem. Artikel 123 (2) EPÜ unzulässig ist (siehe z. B. T 260/85, ABl. EPA 1989, 105), kann also nicht im Umkehrschluß gefolgert werden, daß auch die Aufnahme von zuvor als nicht wesentlich beschriebenen Merkmalen in einen Anspruch unzulässig ist, und der Versuch des Beschwerdegegners, Artikel 123 (2) EPÜ dahingehend auszulegen, muß zwangsläufig fehlgehen.
4.6 Der Beschwerdegegner machte hier geltend, das einzige wesentliche Erfindungsmerkmal sei die Verwendung eines Salzes als Ausfällmittel gewesen; die nunmehr verlangten spezifischen Klassen von Monomeren hätten im gesamten Verfahren als nicht wesentlich gegolten. Selbst wenn dies der Fall wäre, war es angesichts des im Verfahren entgegengehaltenen Stands der Technik angebracht, die Erfindung - wie geschehen - neuzuformulieren, um den Einwänden mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit zu begegnen. Abgesehen davon ist der neuformulierte Anspruch auf ein Polymerisationsverfahren gerichtet, das als wesentliches Merkmal die Verwendung eines Salzes als Ausfällmittel voraussetzt (Merkmal iv), wogegen durch die Einfügung der Zusammensetzungsmerkmale ii und iii lediglich der Umfang dieses Verfahrens näher spezifiziert wird, was offenkundig kein Verstoß gegen Artikel 123 (2) und (3) EPÜ sein kann.
Anders als der Anmelder in der Sache T 22/81, der ausdrücklich einräumte, daß bestimmte Elemente nichts zur erfinderischen Tätigkeit beitragen sollten, brachte der Beschwerdeführer hier durch die Einbringung von ursprünglich in abhängigen Ansprüchen enthaltenen Merkmalen implizit deren wesentliche Bedeutung zur Geltung.
4.7 Zwar hat der Beschwerdeführer im Laufe des Verfahrens den Umfang der Ansprüche wiederholt geändert, so daß der Tenor der Neuformulierungen im großen und ganzen nicht immer deutlich war, andererseits aber waren die spezifischen Klassen von Monomeren der Formel I und III wie auch deren jetzt beanspruchte Kombination nicht nur bereits in der ersten Prioritätsunterlage, sondern am Anmeldetag auch in der Patentanmeldung enthalten, nämlich in Form abhängiger Ansprüche (8 und 10), die naturgemäß auf bevorzugte Ausführungsformen der Erfindung gerichtet sind. Auf diese Ansprüche (8 und 10), die auch im erteilten Patent enthalten waren, nahm die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung Bezug (Nr. 6, insbesondere 6.5, 6.7 und 6.10). Der Beschwerdegegner hatte also hinlänglich Gelegenheit, zu dem neuformulierten Gegenstand Stellung zu nehmen, den die erste Instanz bei ihrer Entscheidung auch berücksichtigte. Das Vorbringen des Beschwerdegegners, wonach eine Beschwerde rechtlich gar nicht möglich sei (G 9/91 und G 10/91), geht folglich fehl.
4.8 Im übrigen umfaßte Anspruch 1 des am 1. September 1993 zusammen mit der Beschwerdebegründung eingereichten zweiten Hilfsantrags bereits eine Kombination der Merkmale ii und iv und stimmte damit inhaltlich mit dem jetzt vorliegenden einzigen Anspruch überein. Der Beschwerdegegner hätte also erkennen müssen, daß diese Verfahrensdefinition später einmal zur Grundlage für den Hauptantrag werden könnte.
4.9 Die Kammer schließt daraus, daß die Erfordernisse des Artikels 123 (2) und (3) EPÜ erfüllt sind.
5. Die Salzmenge, die erfindungsgemäß erforderlich ist, damit eine Polymerdispersion mit den gewünschten Eigenschaften entsteht, ist funktionell definiert. In der Beschreibung heißt es nicht, daß die genaue Menge ein wesentliches Erfindungsmerkmal ist, sondern lediglich, daß sie ausreichen muß, um das Polymer auszufällen. So ist insbesondere auf Seite 3, Zeilen 48 bis 50 der Patentschrift angegeben, daß die Salzkonzentration keinen besonderen Einschränkungen unterworfen ist und je nach Molverhältnis der ionischen Monomere und des Salzes variiert. Infolgedessen kann nur ein bevorzugter Bereich zwischen 15 Gew.-% und der oberen Löslichkeitsgrenze definiert werden.
Die fehlende Angabe eines bestimmten Konzentrationsbereiches hindert den Fachmann ja nicht daran, das beanspruchte Verfahren auszuführen. Nach Ansicht der Kammer steht außer Zweifel, daß ein Fachmann anhand der praktischen Angaben in der Beschreibung und der zahlreichen Beispiele sowie gegebenenfalls anhand von Routineversuchen die für die jeweiligen Verbindungen optimale Salzmenge ermitteln könnte. Wie in T 14/83 (ABl. EPA 1984, 105) festgestellt wurde, beeinträchtigt das gelegentliche Mißlingen eines beanspruchten Verfahrens nicht dessen Ausführbarkeit im Sinne des Artikels 83 EPÜ, wenn es z. B. nur einiger Versuche bedarf, um den Fehlschlag in einen Erfolg zu verwandeln; diese Versuche müssen sich allerdings in vertretbaren Grenzen halten und dürfen keine erfinderische Tätigkeit erfordern (Entscheidungsgründe Nr. 6, 1. Absatz).
Die Kammer ist somit der Auffassung, daß gegen die Formulierung des Anspruchs im Hinblick auf die zu verwendende Salzmenge keine Einwände gemäß den Artikeln 83 und 84 EPÜ erhoben werden können.
Neuheit
6. D1 beschreibt ein Verfahren zur Herstellung einer wäßrigen Dispersion aus wasserlöslichen Polymeren einschließlich des (Co)Polymerisierens a) der Monomerkomponenten einer Zusammensetzung aus mindestens einem wasserlöslichen ethylenisch ungesättigten Monomer zur Bildung eines nurmehr wasserlöslichen (Co)Polymers, wobei die Polymerisation in einer wäßrigen Lösung aus b) mindestens einem wasserlöslichen Polymer vonstatten geht, das sich von dem aus den Monomerkomponenten a hergestellten wasserlöslichen Polymer unterscheidet (Anspruch 1; Spalte 5, Zeilen 51 bis 53). Die mögliche Gegenwart eines Salzes und seine vorteilhafte Wirkung auf die Fließfähigkeit der wäßrigen Polymerdispersion werden in Spalte 7, Zeilen 10 bis 31 offenbart. In Beispiel 21 wird die Verwendung eines Salzes beschrieben. In Spalte 4, Zeile 59 bis Spalte 5, Zeile 18 werden die Monomere a spezifiziert, und in Spalte 5, Zeilen 6 bis 9 wird ein Monomer als Beispiel angeführt, das unter die spezifische Definition der vorliegenden Formel I fällt. Angaben zu Zusammensetzung, Funktionalität und Molekulargewicht des wasserlöslichen Polymers b werden in Spalte 5, Zeile 38 bis Spalte 6, Zeile 19 gemacht; als geeignet werden insbesondere Polymere mit quartären Ammoniumgruppen bezeichnet (Spalte 5, Zeilen 41 bis 44). Monomere nach der vorliegenden Formel III, wie sie zur Erzeugung des Polymerelektrolytdispersionsmittels benötigt werden, sind dagegen nicht erwähnt.
D2 behandelt ein anderes Verfahren als das Streitpatent, nämlich die Öl-in-Wasser-Polymerisation, wobei keines der spezifischen Monomere des vorliegenden Anspruchs genannt wird. Das Dokument wurde in der mündlichen Verhandlung nicht mehr angezogen.
Die Kammer hält daher, ebenso wie die beiden Beteiligten, den Gegenstand des einzigen Anspruchs für neu.
Erfinderische Tätigkeit
7. Das Streitpatent ist auf ein Verfahren zur Herstellung einer wasserlöslichen Polymerdispersion gerichtet.
7.1 Wie oben dargelegt, ist ein solches Verfahren in D1 offenbart, insbesondere in Beispiel 21, das sowohl die Kammer als auch die Einspruchsabteilung als nächsten Stand der Technik betrachten. Bei dieser Ausführungsform wird Acrylsäure in Gegenwart von Polyethylenglycol, Polyvinylalkohol und Natriumchlorid polymerisiert. Der Unterschied zum hier beanspruchten Gegenstand liegt also zum einen in dem zu polymerisierenden Monomer und zum anderen im Dispersionsmittel.
7.2 Laut Beschreibung des Streitpatents und Aussage des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung ist die Erfindung auf die Herstellung einer wasserlöslichen Polymerdispersion gerichtet, deren Viskosität und Fließfähigkeit so weit verbessert wurden, daß sie über Pumpen transportiert werden kann (Seite 2, Zeilen 53 bis 54 des erteilten Patents). Von den nach D1 herstellbaren Polymerdispersionen heißt es, daß sie bei hoher Polymerkonzentration stabil und in hohem Maße fließfähig seien (Spalte 3, Zeilen 2 bis 5). Die in D1 angegebenen Viskositätswerte lassen sich aber aufgrund unterschiedlicher Konzentrationen der verschiedenen Polymerdispersionen nicht mit denen des Streitpatents vergleichen, so daß unklar ist, ob die Viskosität und Fließfähigkeit der Dispersionen gemäß Streitpatent im Vergleich zu D1 wirklich besser sind. Die dem Streitpatent zugrundeliegende technische Aufgabe muß daher simpler formuliert werden, nämlich als Definition eines Alternativverfahrens zur Herstellung weiterer wasserlöslicher Polymerdispersionen mit niedriger Viskosität und guter Fließfähigkeit.
7.3 Das Streitpatent löst diese Aufgabe - wie im einzigen Anspruch angegeben - durch Polymerisieren von Monomeren einer spezifischen Klasse in Gegenwart einer spezifischen Klasse Dispersionsmittel und einer zur Ausfällung des Polymers ausreichenden Menge Salz.
7.4 Ungeachtet des verwendeten Dispersionsmittels macht die Beschreibung des Streitpatents jedoch deutlich, daß bei weniger als 0,1 Gew.-% Dispersionsmittel bezogen auf die wäßrige Salzlösung "das erzeugte Polymer nicht in dispergierter Form vorliegt, sondern aneinanderklebt und eine größere Masse bildet" (Seite 3, Zeilen 52 bis 54). Ohne dieses quantitative Merkmal kann sich nun die gewünschte Wirkung einstellen oder auch nicht, so daß der beanspruchte Gegenstand nicht als allgemeine Lösung für die genannte technische Aufgabe betrachtet werden kann.
7.5 Wie der Beschwerdegegner in der mündlichen Verhandlung ausführte, ist dies in zweierlei Hinsicht zu beanstanden.
Erstens taugt eine technische Wirkung, die nicht über die gesamte Breite des beanspruchten Gegenstands auftritt, nicht als Beleg für erfinderische Tätigkeit (T 20/81, ABl. EPA 1982, 217; T 939/92, ABl. EPA 1996, 309). Die Tatsache, daß erst ab einer bestimmten Dispersionsmittelmenge eine richtige Dispersion entsteht, bedeutet in der vorliegenden Sache, daß der Anspruch das Erfordernis des Artikels 56 EPÜ nicht erfüllt.
Zweitens muß ein Anspruch alle Merkmale enthalten, die zur Definition der Erfindung, für die Schutz begehrt wird, erforderlich sind. Mit anderen Worten: die technischen Merkmale, die eine Erfindung in den Ansprüchen definieren, müssen dieselben sein, die in der Beschreibung als wesentlich hervorgehoben werden (T 133/85, ABl. EPA 1988, 411; T 409/91, ABl. EPA 1994, 653). In diesem Erfordernis spiegelt sich der allgemeine Rechtsgrundsatz wider, wonach der Umfang des durch ein Patent verliehenen Ausschließungsrechts nur dann als im Sinne des Artikels 84 EPÜ von der Beschreibung gestützt anzusehen ist, wenn er dem Beitrag zum Stand der Technik entspricht.
Aus diesen Gründen verstößt der Anspruch gemäß Hauptantrag gegen die Artikel 56 und 84 EPÜ und ist zurückzuweisen.
Hilfsantrag
Artikel 123 (2) und (3)
8. Der einzige Anspruch des Hilfsantrags unterscheidet sich von dem des Hauptantrags insofern, als er eine durch die ursprüngliche Beschreibung, Seite 6, Zeilen 19 bis 23 gestützte Angabe über die Menge an Dispersionsmittel enthält (Seite 3, Zeilen 52 bis 54 des erteilten Patents). Für die übrigen Merkmale dieses Anspruchs gilt das für den Hauptantrag Gesagte (siehe Nr. 4). Infolgedessen ist der Wortlaut des Anspruchs nach Artikel 123 (2) und (3) EPÜ nicht zu beanstanden.
Neuheit
9. Da der Umfang dieses Anspruchs enger ist als der des Hauptantrags, trifft das für den Hauptantrag Gesagte (siehe Nr. 6) auch hier zu; somit stellt die Kammer fest, daß der Gegenstand des Anspruchs neu ist.
Erfinderische Tätigkeit
10. Die Beispiele im Streitpatent haben die Kammer davon überzeugt, daß die anspruchsgemäße Kombination der Verfahrensmerkmale eine wirksame Lösung für die obige technische Aufgabe bietet. Festzustellen bleibt noch, ob der beanspruchte Gegenstand im Hinblick auf den Stand der Technik naheliegend ist.
10.1 Zwar fällt eines der in D1 (Spalte 5, Zeilen 6 bis 9) als Beispiel genannten Monomere unter die Formel I des Streitpatents (Merkmal ii), doch legt dies allein nicht die übrigen beanspruchten Verfahrensmerkmale nahe, geschweige denn deren Kombination.
10.1.1 Das oben Gesagte gilt in erster Linie für die Definition des Polymerdispersionsmittels (Merkmal iii). D1 enthält eine breite Definition des wasserlöslichen Polymers b, doch die tatsächlich genannten Verbindungen geben keinen Hinweis auf Acrylpolymerdispersionsmittel. Laut D1, Spalte 5, Zeilen 38 bis 65 sollte das wasserlösliche Polymer ein Molekulargewicht von 300 bis 10 000 000 haben und mindestens eine funktionale Gruppe aufweisen, die eine Ether-, Hydroxyl,- Carboxyl-, Sulfon-, Sulfatester-, Amino-, Imino-, tertiäre Amino-, quartäre Ammonium- oder Hydrazingruppe ist, vorzugsweise eine Ether-, Hydroxyl- oder Carboxylgruppe; als geeignete Dispersionsmittel kämen natürliche Polymere wie Stärke oder Zellulose oder deren Derivate, Polyetherpolyole, Polyethylenimine sowie Additionspolymere wie Polyvinylalkolhol, Polyvinylpyrrolidone und Polyvinylpyridin in Frage.
In Anbetracht dieser allgemeinen Definition und der aufgelisteten Verbindungen kann die bloße Erwähnung von quartären Ammoniumgruppen als mögliche funktionelle Gruppe unter anderen nicht bevorzugten Verbindungen - entgegen den Ausführungen des Beschwerdegegners in der mündlichen Verhandlung - nicht als Hinweis auf Acrylmonomere im Sinne der Formel III des Streitpatents ausgelegt werden. Vielmehr stellt das Erfordernis, daß sich das Polymer b von dem aus dem Monomer a gebildeten Polymer unterscheiden sollte (Spalte 5, Zeile 51 bis 53), gerade keinen Anreiz dar, ein Polymerdispersionsmittel zu wählen, das aus einem Acrylmonomer mit quartärer Ammoniumgruppe abgeleitet wurde, und würde den Fachmann eher davon abhalten, das vorliegende (Acryl-)Polymer als Dispersionsmittel (Merkmal iii) zur Polymerisation des (Acryl-)Monomers (Merkmal ii) zu verwenden.
10.1.2 Ebensowenig wird in D1 die Verwendung einer wäßrigen Salzlösung (Merkmal iv) zur Erzeugung der Polymerdispersion nahegelegt.
Wie in D1, Spalte 3, Zeilen 46 bis 64 erläutert, entsteht bei der Polymerisation des wasserlöslichen ethylenisch ungesättigten Monomers a in der wäßrigen Lösung des wasserlöslichen Polymers b ein wasserlösliches ethylenisches Polymer, das einen losen, wasserhaltigen Komplex innerhalb des wasserlöslichen Polymers b bildet, ohne sich in Wasser zu lösen. Zwischen dem Komplex und der wäßrigen Phase kommt es zu einer Phasentrennung in Form von mikroskopischen Partikeln, was erklären würde, warum sich eine niedrig-viskose wäßrige Dispersion ergibt. Da sich das entstehende wasserlösliche ethylenische Polymer und das ursprünglich vorhandene wasserlösliche Polymer b nicht ineinander lösen, wäre es auch möglich, daß das entstehende Polymer und die wäßrige Lösung des Polymers b mit fortschreitender Polymerisation phasengetrennt werden. Das entstehende Polymer würde somit zu mikroskopisch kleinen Kügelchen, die in der wäßrigen Lösung des wasserlöslichen Polymers b dispergieren und so eine niedrig-viskose wäßrige Dispersion bilden. Wie immer der Vorgang tatsächlich ablaufen mag - es ist offensichtlich, daß eine wäßrige Salzlösung bei der Bildung der Polymerdispersion keine Rolle spielt.
Unbestritten wird in D1 auch die Möglichkeit erwähnt, den Vorgang in Gegenwart anorganischer Salze durchzuführen (Spalte 7, Zeilen 10 bis 25). Dies stellt jedoch nur eine wahlweise Ausführungsform dar, die lediglich eine begrenzte Verbesserung der Stabilität und der Fließfähigkeit der wäßrigen Lösung erwarten läßt (Spalte 7, Zeilen 26 bis 28); dieselbe Wirkung, die auf demselben Mechanismus beruht, dürfte sich erzielen lassen, wenn man die Polymerisation in Gegenwart eines organischen Lösungsmittels durchführt (Spalte 7, Zeilen 46 bis 55). Im übrigen hat der Beschwerdegegner versäumt nachzuweisen, wie diese Wirkungen mit der Ausfällung des Polymers in Zusammenhang gebracht werden könnten.
10.1.3 Die Lehre von D1 ist also - selbst wenn man davon ausgeht, daß D1 das Merkmal ii ordnungsgemäß offenbart - dergestalt, daß der Fachmann von einer Kombination mit dem Merkmal iii Abstand nehmen würde und keinen Grund hätte, Merkmal iv in Erwägung zu ziehen.
10.2 D2 betrifft eine andere Art Polymerisationsverfahren und erwähnt weder die spezifischen Monomere noch das spezifische Polymerdispersionsmittel, das im vorliegenden Anspruch verlangt wird. D2 behandelt insbesondere ein Polymerisationsverfahren mit einer copolymerisierenden Methacrylsäure und einem olefin-ungesättigten Vernetzungsmittel, das durch ein zweiteiliges Redoxsystem mit freien Radikalen initiiert und in einem Reaktionsgemisch aus einer feinen Suspension von Tröpfchen einer organischen Phase in einer wäßrigen Phase durchgeführt wird, wobei die organische Phase die Methacrylsäure, ein Vernetzungsmittel und einen Teil des Initiatorsystems enthält und die wäßrige Phase mindestens 15 Gew.-% inertes Salz pro Volumen wäßrige Phase, ein Suspendiermittel und einen Teil des Initiatorsystems (Anspruch 1). Das Salz dient dazu, die Löslichkeit der Methacrylsäure in der wäßrigen Phase herabzusetzen (Seite 2, Zeilen 26 bis 30; vgl. Beispiele 1 und 2, 5 und 6). Die Anforderungen an die Suspendiermittel sind nicht sehr kritisch, solange sie die erforderliche Löslichkeit aufweisen; als Beispiel wird Polyvinyalkohol genannt (Seite 2, Zeilen 57 bis 70; Beispiele).
Das Polymerisationssystem nach D2 unterscheidet sich offensichtlich ganz erheblich von dem hier vorliegenden, zumal weder das im vorliegenden Fall verwendete Monomer noch das Dispersionsmittel erwähnt wird. Davon abgesehen dient das Salz laut D2 nur der Löslichkeit des Monomers und kann nicht mit der Ausfällung des Polymers in Verbindung gebracht werden. Der Fachmann hätte also keinen Grund, ein solches Merkmal in Erwägung zu ziehen, um im Rahmen eines Polymerisationsverfahrens, das sich von dem des Streitpatents unterscheidet, eine andere technische Wirkung zu erzielen.
Diese Betrachtungen machen deutlich, daß D2 das Merkmal iv nicht nahelegen kann, geschweige denn dessen Kombination mit anderen anspruchsgemäßen Merkmalen.
10.3 Der Vergleich mit den bekannten Verfahren zeigt also, daß das beanspruchte Verfahren auf einer Merkmalskombination beruht, die sich nicht aus dem Stand der Technik herleiten läßt. Erstens entspricht die im Streitpatent verlangte Kombination der Merkmale ii und iii einem Polymerisationssystem, das der Fachmann angesichts der Lehre aus D1 nicht in Betracht ziehen würde; zweitens lehrt weder D1 noch D2, daß das anorganische Salz zur Ausfällung des Polymers beiträgt, während diese Verbindung im Streitpatent als wesentlich für die Bildung einer Polymerdispersion bezeichnet wird. Folglich ist das in dem einzigen Anspruch definierte Verfahren für die Kammer erfinderisch.
11. Dementsprechend sind die eingereichten Fotografien und die in der mündlichen Verhandlung durchgeführten Versuche für den Gegenstand dieser Entscheidung ohne Belang. Die Fragen des Beschwerdegegners nach der genauen Entstehung der Fotografien und den exakten Herstellungsbedingungen für die Polymerdispersionen brauchen daher nicht beantwortet zu werden.
12. Was die zwei speziellen Fragen des Beschwerdegegners angeht (siehe Nr. X), so hält die Kammer beide bereits für beantwortet. Außerdem zeigen die in Zusammenhang mit Artikel 123 EPÜ genannten Gründe (Nr. 4), daß diese Fragen an der technischen Realität des Falles vorbeigehen.
Was die erste Frage betrifft, so zeigt ein Vergleich zwischen Anspruch 1 in der erteilten Fassung und dem jetzt vorliegenden einzigen Anspruch, daß beiden Verfahren dasselbe technische Konzept zugrunde liegt, nämlich die Polymerisation in Gegenwart eines Salzes (Merkmal iv). Die Wahl einer spezifischen Klasse kationischer Monomere in Kombination mit einer spezifischen Klasse kationischer Polymerelektrolyte als Dispersionsmittel ist nichts anderes als eine normale, durch die Einspruchsgründe bedingte Einschränkung; eine solche Einschränkung ändert den technischen Rahmen der Erfindung eindeutig nicht.
Dasselbe gilt auch für die zweite Frage, denn erstens erfolgte die Auswahl nicht aus einer Liste äquivalenter Verbindungen, und zweitens ist das beanspruchte Verfahren erfinderisch. Wie bereits gezeigt (Nr. 4), werden die kombinierten Merkmale ii und iii nicht nur in den ursprünglichen Ansprüchen, sondern auch in zahlreichen Beispielen der Patentschrift als bevorzugte Ausführungsformen offenbart.
13. Da eine an den neuen Anspruch angepaßte Beschreibung nicht vorliegt, ist die Sache an die erste Instanz zurückzuverweisen. In Anbetracht der verschiedenen Änderungen in den angepaßten Beschreibungen, die im Beschwerdeverfahren zusammen mit den verschiedenen Anspruchssätzen eingereicht wurden - und die weit über eine normale Anpassung an den neuen Umfang des beanspruchten Gegenstands hinausgehen - erinnert die Kammer daran, daß Änderungen, die nicht mit den Einspruchsgründen in Zusammenhang stehen, weder notwendig noch sachdienlich und daher im Sinne der Regeln 57 (1) und 58 (2) EPÜ nicht zulässig sind (vgl. T 406/86, ABl. EPA 1989, 302; T 295/87, ABl. EPA 1990, 470 und T 550/88, ABl. EPA 1992, 117).
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Sache wird an die Einspruchsabteilung mit der Auflage zurückverwiesen, das Patent mit dem in der mündlichen Verhandlung hilfsweise beantragten Anspruch unter entsprechender Anpassung der Beschreibung aufrechtzuerhalten.