BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.5.2 vom 13. April 1994 - T 867/92 - 3.5.2
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | R. E. Persson |
Mitglieder: | W. J. L. Wheeler |
A. G. Hagenbucher |
Patentinhaber/Beschwerdegegner: Konica Corporation
Einsprechender/Beschwerdeführer: Fuji Photo Film Co., Ltd.
Einsprechender/Weiterer Verfahrensbeteiligter:
1) N. V. Philips Gloeilampenfabrieken
2) Agfa-Gevaert AG
Stichwort: Verspätet angeführtes Dokument/KONICA
Artikel: 104 (1), 111 (1), 114 (2) EPÜ
Schlagwort: "erheblich verspätete Angabe eines neuen Stands der Technik nach der Änderung der Ansprüche - als sachdienlich erachtet" - "Abschluß der Sache in der mündlichen Verhandlung aufgrund der späten Angabe nicht möglich" - "Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung" - "Verteilung der Kosten"
Leitsatz
Für die Angabe eines neuen Stands der Technik im Anschluß an eine Änderung der Ansprüche schreibt das EPÜ keine Frist vor. Ein Einsprechender, der einen neuen Stand der Technik mit erheblicher Verspätung angibt (hier rund 18 Monate nach Änderung der Ansprüche), ohne diese Verspätung näher zu begründen, muß aber damit rechnen, daß er die durch die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung, in der die Sache aufgrund des neuen Dokuments nicht abgeschlossen werden kann, dem Patentinhaber erwachsenen Kosten teilweise oder ganz zu tragen hat.
Sachverhalt und Anträge
I. Der Beschwerdeführer (Einsprechender 3) legte Beschwerde ein gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung, wonach unter Berücksichtigung der im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen das europäische Patent Nr. 0 168 962 und die Erfindung, die es zum Gegenstand hat, den Erfordernissen des EPÜ genügen.
II. Der von der Einspruchsabteilung genehmigte Anspruch 1 lautet wie folgt:
"1. Magnetisches Aufzeichnungsmaterial mit einem Schichtträger, einer magnetischen Aufzeichnungsschicht und gegebenenfalls einer Rückseitenbeschichtung, wobei die magnetische Aufzeichnungsschicht oder die Rückseitenbeschichtung bzw. beide ein Urethanharz - dadurch gekennzeichnet, daß das Urethanharz eine Streckgrenze im Spannungsbereich von 50 kg/cm2 bis 600 kg/cm2 (4 900 bis 58 840 kPa) aufweist -, ein Vinylchlorid-Copolymer und/oder ein Phenoxyharz enthalten und die magnetische Aufzeichnungsschicht ein magnetisches Teilchen einer spezifischen Oberfläche, ausgedrückt als BET-Wert, von 30 m2/g oder höher enthält."
III. In der Beschwerdeschrift beantragte der Beschwerdeführer den Widerruf des Patents und zusätzlich vorbehaltlos eine mündliche Verhandlung. In der Beschwerdebegründung zog der Beschwerdeführer als neuen Stand der Technik das Dokument
D14: EP-A-0 112 925 (entspricht dem am 19. Januar 1984 veröffentlichten Dokument WO 84/00241)
an und brachte u. a. vor, daß der Gegenstand des Anspruchs 1 des geänderten Patents in Anbetracht des in D14 beschriebenen Beispiels 10 nicht neu sei. Er habe anhand von Versuchen festgestellt, daß das in Beispiel 10 verwendete Polyurethanharz N-3022 eine Streckgrenze von 80 kg/cm2 aufweise.
IV. In seiner schriftlichen Erwiderung beantragte der Beschwerdegegner die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung zur Prüfung des neuen Sachverhalts sowie, unter Bezugnahme auf die Entscheidung T 611/90 (ABl. EPA 1993, 50), die Verteilung der Kosten. Hinsichtlich der Versuche des Beschwerdeführers machte der Beschwerdegegner geltend, es fehle der Beweis dafür, daß das in den Versuchen des Beschwerdeführers verwendete Harz N-3022 identisch sei mit dem in Beispiel 10 des Dokuments D14 genannten Material, da sich die Zusammensetzung kommerzieller Produkte im Laufe der Jahre ändern könne.
V. Der Beschwerdeführer reichte eine Bescheinigung des Herstellers des Harzes N-3022 in Japanisch sowie eine englische Übersetzung davon ein. In der Übersetzung wird die Streckgrenze für Nippollan 3022 mit 95 kg/cm2 angegeben. Am Ende der Übersetzung wird erklärt: "Ich bestätige, daß unser Produkt seit Beginn der Herstellung nicht verändert worden ist."
VI. In der mündlichen Verhandlung am 13. April 1994 brachte der Beschwerdegegner vor, daß die Sache - falls D14 in Betracht gezogen werde - an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen sei. Vorrangiger Zweck des Beschwerdeverfahrens sei die Überprüfung von Entscheidungen der ersten Instanz, und bisher habe die erste Instanz keine Entscheidung über D14 getroffen. Der Beschwerdegegner beanstandete die Übersetzung der japanischen Bescheinigung, deren letzter Satz "... die Zusammensetzung unseres Produkts ist dieselbe ..." lauten müsse, und führte an, daß die Eigenschaften eines Harzes nicht nur von dessen Zusammensetzung, sondern auch von der Art der Verarbeitung im Laufe des Herstellungsverfahrens abhingen. Laut Übersetzung würden die in der Bescheinigung genannten Eigenschaften als repräsentativ beschrieben. Dies deute darauf hin, daß sie Veränderungen unterlägen. Der in der Bescheinigung genannte Wert der Streckgrenze (95) weiche erheblich von dem in den Versuchen des Beschwerdeführers festgestellten Wert (80) ab. Es gebe genug Zweifel, so daß die Kammer nicht sofort entscheiden könne.
VII. In bezug auf den Wert der Streckgrenze des Harzes N-3022 erwiderte der Beschwerdeführer, daß die Werte 80 und 95 beide innerhalb des im Anspruch beschriebenen Bereichs lägen, und nannte es unwahrscheinlich, daß die Streckgrenze nunmehr jenseits dieses Bereichs liege.
VIII. Hinsichtlich der Kosten wies der Beschwerdeführer darauf hin, daß die Ansprüche geändert worden seien, und machte geltend, daß dem Einsprechenden unter solchen Umständen die Möglichkeit gegeben werden müsse, neue Dokumente anzuführen. Er ziehe es vor, daß sich die Kammer selbst mit der ganzen Sache befasse. Der Beschwerdegegner räumte ein, es sei angemessen, daß ein Einsprechender nach einer Änderung der Ansprüche, bei der ein Merkmal, das vorher in keinem der Ansprüche erwähnt worden war, aus der Beschreibung aufgenommen werde, neue Dokumente anführe; er sehe aber keinen Grund dafür, warum dies mehr als neun Monate (der Frist für die Einreichung eines Einspruchs) nach der Änderung zugelassen werden sollte. Sein Vertreter habe sich auf die Verhandlung vorbereiten müssen, und zwar nicht nur im Hinblick auf eine Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung, sondern wesentlich gründlicher, damit er gegebenenfalls das Patent in der Verhandlung gegen die auf D14 gestützten Angriffe verteidigen könne.
IX. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
X. Der Beschwerdegegner beantragte die Zurückweisung der Beschwerde (Hauptantrag) bzw., falls die Kammer die Einführung des Dokuments D14 in das Verfahren zulasse, die Zurückverweisung der Angelegenheit zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung (Hilfsantrag) sowie eine Festsetzung der Kosten.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Nach Auffassung der Kammer ist für die Zwecke der vorliegenden Beschwerde zunächst zu klären, ob das neue Dokument D14 von solch begrenzter Relevanz ist, daß es unberücksichtigt bleiben kann; sollte dies nämlich der Fall sein, dann könnte die Beschwerde ihren "normalen" Verlauf in Form einer Überprüfung der Entscheidung der Einspruchsabteilung nehmen.
2.1 D14 offenbart ein magnetisches Aufzeichnungsband (Beispiel 10 auf den Seiten 14 und 15, wo es heißt, es werde in ähnlicher Weise hergestellt wie Beispiel 1, dessen Herstellungsweise auf Seite 12 beschrieben wird), das offenbar mit dem des Anspruchs 1 des angefochtenen Patents in der vor der Einspruchsabteilung geänderten Fassung übereinstimmt, wenn die Streckgrenze des Polyurethanharzes N-3022 im Bereich von 50 bis 600 kg/cm2 liegt. In D14 wird nicht erwähnt, daß das Harz N-3022 eine Streckgrenze aufweist. Der Beschwerdeführer hat einige Versuchsergebnisse sowie eine Bescheinigung des Herstellers des Harzes eingereicht, die darauf hinweisen, daß das Harz eine Streckgrenze aufweist und ihr Wert etwa im Bereich 80 bis 95 kg/cm2 liege. Es scheint nicht strittig zu sein, daß das Harz eine Streckgrenze aufweist, aber es gibt Zweifel hinsichtlich ihres genauen Werts oder Wertebereichs. Nach Meinung der Kammer ist es ungewiß, ob das angefochtene Patent mit dem derzeitigen Anspruch 1 aufrechterhalten werden könnte, wenn D14 berücksichtigt wird. Sie ist daher der Auffassung, daß D14 nicht unberücksichtigt bleiben sollte.
3. Im Interesse der Verfahrensökonomie wäre die Kammer zwar bereit gewesen, alle Aspekte der Sache ohne Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung selbst zu prüfen und darüber zu entscheiden, wenn, was manchmal der Fall ist, beide Seiten dies befürwortet hätten; der Beschwerdegegner hat aber den Antrag auf Zurückverweisung aufrechterhalten, damit der sich aus dem Dokument D14 neu ergebende Sachverhalt von zwei Instanzen geprüft werden kann. Die Kammer ist sich mit dem Beschwerdegegner darin einig, daß diesem angesichts des vorliegenden Sachverhalts nicht die Möglichkeit genommen werden sollte, zweimal gehört zu werden, und dies umso mehr, da die Zweifel hinsichtlich des Werts der Streckgrenze des Harzes N-3022 noch ausgeräumt werden müssen. Die Sache ist daher zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
4. Hinsichtlich der Kostenfrage stellt die Kammer fest, daß die Ansprüche des angefochtenen Patents zum letzten Mal im Mai 1991 - über ein Jahr vor der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung - geändert worden sind. Es ist zwar im allgemeinen davon auszugehen, daß ein Einsprechender, der, wie im vorliegenden Fall, in seiner Einspruchsschrift einen Einwand wegen mangelnder Neuheit bzw. erfinderischer Tätigkeit erhoben hat, auf eine wesentliche Änderung der Ansprüche hin neue Dokumente anführt, vor allem dann, wenn, wie im vorliegenden Fall, ein Merkmal aus der Beschreibung in den Anspruch 1 aufgenommen worden ist; die Verzögerung dabei war aber erheblich, und es wurde sogar die Frist für die Einreichung eines Einspruchs überschritten. Es soll nicht unterstellt werden, daß der Beschwerdeführer D14 aus taktischen Gründen absichtlich zurückgehalten hat, was einem Verfahrensmißbrauch gleichkommen würde; dennoch ist unstreitig, daß das Dokument D14, wäre es innerhalb von ungefähr neun Monaten nach der Änderung angeführt worden, von der Einspruchsabteilung hätte geprüft werden können.
4.1 Für die Angabe eines neuen Stands der Technik im Anschluß an eine Änderung der Ansprüche schreibt das EPÜ keine Frist vor. Nach Auffassung der Kammer muß aber ein Einsprechender, der einen neuen Stand der Technik mit erheblicher Verspätung angibt (hier rund 18 Monate nach Änderung der Ansprüche), ohne diese Verspätung näher zu begründen, damit rechnen, daß er die durch die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung, in der die Sache aufgrund des neuen Dokuments nicht abgeschlossen werden kann, dem Patentinhaber erwachsenen Kosten teilweise oder ganz zu tragen hat.
4.2 Außerdem war die mündliche Verhandlung vor der Kammer aufgrund des vorbehaltlosen Antrags des Beschwerdeführers unvermeidlich. Die Tatsache, daß der Beschwerdegegner und nicht der Beschwerdeführer die Zurückverweisung der Sache an die Einspruchsabteilung beantragt hat, ist ohne Belang. Es kann nicht erwartet werden, daß der Beschwerdegegner auf die Möglichkeit, zweimal gehört zu werden, verzichtet, nur um dem Beschwerdeführer Kosten zu sparen. Da aber kein Grund zu der Annahme besteht, daß der Beschwerdeführer das Verfahren im vorliegenden Fall absichtlich mißbraucht hat, hat er nach Auffassung der Kammer nicht alle Kosten zu tragen, die dem Vertreter des Beschwerdegegners durch die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vor der Kammer entstanden sind; vielmehr entspräche es der Billigkeit, daß der Beschwerdeführer die Hälfte dieser Kosten zu tragen hat.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.
3. Der Beschwerdeführer hat 50 % der dem Vertreter des Beschwerdegegners durch die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 13. April 1994 erwachsenen Kosten zu tragen.