VI. INSTITUTIONELLE FRAGEN
1. Gerichtscharakter der EPA-Beschwerdekammern
ES – Spanien
Berufungsgericht Madrid (28. Senat) vom 4. März 2013 – Actavis Group et al. v. Merck Sharp & Dohme (17/2013)
Schlagwort: Auslegung des Übereinkommens – Entscheidungen der Beschwerdekammern des EPA – zweite medizinische Verwendung
Das Berufungsgericht Madrid bestätigte das Vorbringen der Klägerinnen, die die Patentierbarkeit mangels erfinderischer Tätigkeit infrage gestellt hatten, und erklärte das Patent (EP 724 444) für nichtig. Ein wesentlicher Aspekt der Entscheidung war allerdings die Frage, ob der betreffende Anspruch nach Art. 52 (4) und 54 (5) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sei.
Die Beklagte brachte vor, dass ein englisches Gericht in einem Parallelverfahren (Court of Appeal, Actavis UK Ltd v. Merck & Co) mit Urteil vom 21. Mai 2008 festgestellt habe, dass Ansprüche in der schweizerischen Anspruchsform dann gewährbar seien, wenn die Neuheit durch eine neue Dosierungsanleitung begründet werde. Damit sei dieses Gericht der EPA-Entscheidung T 1020/03 gefolgt. Auch die Große Beschwerdekammer habe in G 2/08 befunden, dass die Patentierbarkeit nicht ausgeschlossen sei, wenn das einzige nicht im Stand der Technik enthaltene Anspruchsmerkmal eine Dosierungsanleitung sei. Die Klägerinnen argumentierten, dass nationale Gerichte nicht verpflichtet seien, dem vom EPA aufgestellten Kriterium zu folgen, und verwiesen auf die Urteile der Gerichte in Frankreich und Deutschland in der gleichen Sache.
Das Berufungsgericht Madrid konnte kein Hindernis erkennen, das der Patentierbarkeit solcher Erfindungen entgegensteht. Es erklärte, die Entscheidungen des EPA seien zwar nicht bindend, berücksichtigt werden müssten jedoch auch die Aufgabe, die Harmonisierung des Patentsystems zu fördern, und die Notwendigkeit, die einheitliche Anwendung des EPÜ sicherzustellen, und dies gelte insbesondere für die Auslegung des Umfangs der Ausnahmen von der Patentierbarkeit. Nach Ansicht des Gerichts müsse der besonderen Bedeutung der Entscheidungen der EPA-Beschwerdekammern für die Auslegung des EPÜ Rechnung getragen werden. Es stellte fest, dass das Übereinkommen ein gerichtsähnliches System und die notwendige Unabhängigkeit der Beschwerdekammern begründe (Art. 23 EPÜ). Zudem erfüllten die Beschwerdekammern die Bedingungen, die für die Anerkennung als Gericht im Sinne des Art. 6 EMRK gälten.
Anmerkung des Herausgebers : Siehe auch das Urteil des Berufungsgerichts Madrid (28. Senat) vom 7. November 2011 (317/2011) zum Status der Beschwerdekammern, in dem ähnlich argumentiert wird.
2. EPA Entscheidungen, das Patentübereinkommen und nationale Gerichte
ES – Spanien
Oberster Gerichtshof (Zivilkammer) vom 27. April 2011 – LEK Pharma v. Warner-Lambert – Atorvastatina (274/2011)
Schlagwort: Auswahlerfindungen – Relevanz der Richtlinien für die Prüfung im EPA und der Entscheidungen der Beschwerdekammern
In diesem Fall ging es um den Widerruf des europäischen Patents 409 281 auf Atorvastatin-Kalzium. Das Calciumsalz von Atorvastatin ist der Wirkstoff eines weit verbreiteten Arzneimittels zur Senkung des Cholesterinspiegels.
Mit dem Urteil des Berufungsgerichts Barcelona (15. Senat) vom 18. Oktober 2007 (s. 2. Auflage "Rechtsprechung aus den Vertragsstaaten des EPÜ, 2004-2011", ABl. SA 3/2011, S. 69) war das Patent für gültig erklärt worden. Das Gericht hatte in seinem Urteil befunden, dass das Auswahlpatent neu war, und erklärt, dass es damit nicht von den allgemeinen Kriterien abwich, die von den Beschwerdekammern des EPA erarbeitet wurden und als sogenanntes Zwei-Listen-Prinzip bekannt sind. Später wurde diese Entscheidung von der Klägerin vor dem Obersten Gerichtshof mit der Begründung angefochten, dass das Berufungsgericht durch die Anwendung der im Rahmen des EPÜ entwickelten Auslegungsregeln offensichtlich gegen geltendes Recht verstoßen habe.
Der Oberste Gerichtshof erhielt das Urteil des Berufungsgerichts zur Patentierbarkeit von Auswahlerfindungen und zum Zwei-Listen-Prinzip aufrecht. Außerdem klärte er das Konzept der impliziten Offenbarung. Wenige Monate später wurde dieses Urteil durch ein weiteres Urteil des Obersten Gerichtshofs vom 11. November 2011 (Cinfa et al. v. Warner-Lambert) bestätigt. Bezüglich des möglichen Rechtsbruchs wies der Oberste Gerichtshof darauf hin, dass die nationalen Gerichte für Nichtigerklärungen zuständig sind, dass die bei Nichtigkeit anwendbaren Rechtsvorschriften aber die des EPÜ sind. Im vorliegenden Fall gehe es nicht um die Wirkungen des europäischen Patents, die sich nach dem nationalen Patentrecht der einzelnen Vertragsstaaten bestimmten (Art. 2 EPÜ), sondern um eine Nichtigkeitsklage, auf die die Vorschriften des EPÜ anzuwenden seien. Dementsprechend stellte er fest, dass es völlig richtig sei, die Prüfungsrichtlinien des EPA als wichtiges Element für die Beurteilung der Neuheit zu erachten. Der Gerichtshof wies darauf hin, dass diese Kriterien bei der Auslegung von Schlüsselkonzepten des Europäischen Patentübereinkommens anzuwenden seien. Daher könne dem Berufungsgericht kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass es Auslegungskriterien übernommen habe, die in Entscheidungen der Beschwerdekammern angewandt worden seien.
ES – Spanien
Berufungsgericht Barcelona (15. Senat) vom 24. Juli 2014 – Merck & Co. v. Laboratorios Alter et al. (Auto 93/2014)
Schlagwort: Widerruf eines europäischen Patents – Rückwirkung ("ex tunc")
Der Fall betraf die möglichen Auswirkungen des Widerrufs eines europäischen Patents durch das EPA auf parallele nationale Verfahren. Im vorliegenden Fall hatte die Patentinhaberin verschiedene Unternehmen auf Verletzung des spanischen Teils von EP 1 175 904 verklagt. Die Beklagten reichten im selben Verfahren Nichtigkeitsklagen ein und strengten außerdem parallele Einspruchsverfahren vor dem EPA gegen die Patentinhaberin an. Schließlich wurde das europäische Patent vom EPA widerrufen. Die Klägerin beantragte daraufhin die Einstellung des Verfahrens durch das nationale Gericht auf der Grundlage von Art. 68 EPÜ, wonach der Widerruf eines Patents Rückwirkung ("ex tunc") entfaltet, sodass die Wirkungen des europäischen Patents als von Anfang an nicht eingetreten gelten. Die Entscheidung des EPA wirke sich (potenziell) sowohl auf Verletzungs- als auch auf Nichtigkeitsklagen in parallel anhängigen Verfahren vor nationalen Gerichten aus. Das erstinstanzliche Gericht (Handelsgericht Nr. 6 von Barcelona) ordnete in Anbetracht des unvermuteten Verlusts des Streitgegenstands die Einstellung des Verfahrens ohne Kostenerstattung an.
Das Berufungsgericht Barcelona (15. Senat) stimmte in der Frage der möglichen Auswirkungen des Widerrufs eines europäischen Patents auf nationale Verletzungsverfahren nicht mit der Vorinstanz überein. Es befand, dass sich der Widerruf eines europäischen Patents durch das EPA auf Verletzungsklagen und auf Nichtigkeitsklagen vor nationalen Gerichten unterschiedlich auswirkt. Das Berufungsgericht führte sein früheres Urteil vom 5. Oktober 2012 (Rollo 720/2011) an, wonach sich die Entscheidung des EPA über den Widerruf eines europäischen Patents auf vor nationalen Gerichten anhängige Klagen unterschiedlich auswirkt: Nichtigkeitsklagen in parallelen nationalen Verfahren verlieren ihren Streitgegenstand, bei Verletzungsklagen muss diese Wirkung aber nicht zwangsläufig eintreten.
Die Patentinhaberin/Klägerin hatte erklärt, dass im vorliegenden Fall kein berechtigtes Rechtsschutzinteresse bestanden habe und ein berechtigtes Interesse am Ergehen eines Urteils nicht allein deshalb bejaht werden solle, damit über die Kostenerstattung entschieden werde. Das Gericht machte deutlich, dass eine Verletzungsklage zum Ziel hat, dass die Verletzung des Streitpatents festgestellt wird. Der Widerruf des Patents durch das EPA hatte eindeutig Auswirkungen auf die Verletzungsklage, allerdings nicht dahin gehend, dass diese dadurch ihren Streitgegenstand verlor und deshalb das Verfahren beendet wurde, sondern vielmehr, dass mit der Entscheidung festgestellt wurde, dass eine Verletzung nicht möglich war.
FR – France
Kassationshof vom 3. April 2012 [Nr. 10-21.084] – Herr G v. Firma R
Schlagwort: Bindungswirkung von Entscheidungen der Beschwerdekammern
Das europäische Patent 0 106 997 betraf ein Verfahren zum Aufbereiten von Müllschrott zur Gewinnung des darin enthaltenen Metalls.
Herr G focht das Urteil des Berufungsgerichts über die Zurückweisung seiner Verletzungsklage an. Was die Bestimmung des Schutzbereichs des europäischen Patents anging, so stützte er seine Beschwerde insbesondere darauf, dass eine Beschwerdekammerentscheidung des EPA, mit der ein Patent in geänderter Form aufrechterhalten wird, materiell rechtskräftig ist.
Das Kassationsgericht führte unter anderem aus, dass das Berufungsgericht nicht an die Entscheidung der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts gebunden und nicht verpflichtet war, jedes einzelne Argument der Beteiligten aufzugreifen; es konnte deshalb so entscheiden wie im vorliegenden Fall.
FR – Frankreich
Berufungsgericht Paris vom 3. Juli 2013 (10/22679) – Sotira v. Cpo
Schlagwort: Bindungswirkung von Entscheidungen der Beschwerdekammern
Die strittigen Ansprüche 1 und 4 des französischen Patents der Firma Cpo sind insbesondere mit den Ansprüchen des am 7. September 2005 erteilten europäischen Patents dieser Firma identisch. Darin ist Frankreich nicht benannt, doch bildeten diese Ansprüche die Grundlage für den Widerruf des Patents am 19. Oktober 2011 (T 17/09) wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit.
Auch wenn – so das Berufungsgericht – das europäische Patent dieselbe Erfindung betrifft wie das streitgegenständliche französische Patent, so ist das Gericht nicht an die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer des EPA vom 19. Oktober 2011 gebunden (T 17/09); ebenso wenig ist das Gericht an die frühere Entscheidung der Einspruchsabteilung des EPA gebunden. Es obliegt somit dem Gericht, die Gültigkeit der strittigen Patentansprüche zu bewerten.
Das Berufungsgericht gelangte zu dem Schluss, dass die Ansprüche 1 und 4 des französischen Patents 9 901 175 wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit nichtig sind.
GB – Vereinigtes Königreich
Patents Court vom 27. Juli 2012 – Virgin Atlantic Airways Ltd v. Contour Aerospace Ltd and Ors [2012] EWHC 2153 (Pat)
Schlagwort: Benennung des Vereinigten Königreichs – nicht justiziabel vor englischen Gerichten
Eine weitere Streitfrage betraf die fehlerhafte Benennung des Vereinigten Königreichs, die nicht beansprucht war.
Der Richter wies darauf hin, dass die Vertragsstaaten des EPÜ ausdrücklich das EPA mit dem Erteilungsverfahren für europäische Patente betraut haben. Nicht jede Entscheidung im Erteilungsverfahren, die möglicherweise die Rechte eines Einzelnen verletzt, kann angefochten werden. Dass die Benennung des Vereinigten Königreichs im Verfahren vor dem EPA nur insoweit angefochten werden kann, als die zuständige Abteilung aufzufordern ist, ihre Entscheidung zu überprüfen, entspricht dem Einvernehmen der Vertragsstaaten darüber, wo in diesem Zusammenhang die Grenze zu ziehen ist. Dies verletzt nicht die Rechte der Beklagten nach Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (in Anlehnung an J.H. Rayner Ltd v. Department of Trade and Industry [1990] AC 418 und Lenzing AG's European Patent [1997] RPC 245).
GB – Vereinigtes Königreich
Court of Appeal vom 20. Dezember 2013 – Virgin Atlantic Airways Ltd v. Zodiac Seats UK Ltd (ehemals Contour Aerospace Ltd) u. a. [2013] EWCA Civ 1713
Schlagwort: Auslegung von Ansprüchen – unzulässige Erweiterung – erfinderische Tätigkeit – Benennung von Staaten – gerichtliche Zuständigkeit
Obwohl Virgin sich klar und eindeutig dafür entschieden hatte, in der Patentanmeldung, die später zum Patent 908 wurde, das Vereinigte Königreich nicht zu benennen, war UK aufgrund eines Fehlers im erteilten Patent benannt. Im Verfahren vor dem EPA hatte die Beschwerdekammer in T 1259/09 befunden, dass Premium (eine ehemalige Konzerngesellschaft von Zodiac) weder berechtigt war, in dem von ihr angestrengten Einspruchsverfahren einen teilweisen Widerruf des Patents dahin gehend zu beantragen, dass die UK-Benennung aufgehoben wird, noch als nicht am Prüfungsverfahren der Patentanmeldung beteiligte Partei eine Erteilung anfechten konnte, die das Vereinigte Königreich umfasste. In dem englischen Verfahren hatte der Richter am High Court die Berufung gegen eine Entscheidung des UKIPO zurückgewiesen und verneinte die Einrede gegen die Verletzung, dass die Erteilung des Patents 908 in Bezug auf das Vereinigte Königreich nichtig sei. Dieser Aspekt wurde im Verfahren vor dem Court of Appeal wieder aufgegriffen.
Lord Justice Patten stellte fest, dass das Patent 908 und seine Veröffentlichung dahin gehend Wirkung entfaltet hätten, dass das Patent nach s. 77 (1) Patents Act 1977 den Rechtsstand eines kraft dieses Gesetzes auf eine Anmeldung erteilten Patents erlangt habe. So könne in einem englischen Verfahren seine Gültigkeit nur unter Berufung auf die in Art 74 (3) genannten Gründe angefochten werden (s. Art. 52-57 EPÜ). Damit sei die Zulässigkeit der Einreden auf der Basis der Nichtbenennung vollständig beantwortet; siehe den Fall Genentech Inc's Patent [1989] RPC 147, in dem der Versuch zurückgewiesen wurde, die Gültigkeit eines Patents mit der Begründung anzufechten, dass die Erfordernisse von Art 14 (5) nicht erfüllt seien und das Patent daher nie hätte erteilt werden dürfen. Das Patentgesetz von 1977 sei im Einklang mit dem EPÜ auszulegen.
Es wurde jedoch geltend gemacht, dass sich dies mit dem Inkrafttreten des Human Rights Act 1998 geändert habe. Der Court of Appeal wies jedoch darauf hin, dass nach nationalem Recht Amtsgerichte nicht für die Beurteilung bzw. Durchsetzung von Rechten und Pflichten zuständig sind, die sich aus rechtlichen Vereinbarungen zwischen souveränen Staaten ableiten (siehe z. B. Lenzing AG's European Patent (UK) [1997] RPC 245). Wie seien dann die Position und Aufgaben des EPA sowie seine Beziehung zum Vereinigten Königreich aufgrund des Patentgesetzes von 1977 im Hinblick auf die gerichtliche Zuständigkeit zu beurteilen?
Der Court of Appeal befand, dass in einem Fall, in dem die Handlungen einer internationalen Organisation als unabhängig von den Vertragsstaaten betrachtet werden können und ein Vertragsstaat daran weder beteiligt ist noch sie sich zu eigen macht, diesem Staat keine rechtliche Verantwortung im Sinne von Art. 1 EMRK für die Konsequenzen einer bestimmten Handlung zugeschrieben werden kann. Es wurde vorgebracht, dass das Vereinigte Königreich sich die Handlungen und Verfahren des EPA durch das Patentgesetz von 1977 zu eigen gemacht habe, das die Anerkennung der vom EPA nach diesen Verfahren erteilten Patente vorschreibe. Dadurch werde eine gerichtliche Zuständigkeit im Sinne von Art. 1 EMRK begründet (sog. "jurisdictional link") und das Erteilungsverfahren des EPA der Gerichtsbarkeit der englischen Gerichte im Nebenverfahren unterworfen.
Der Court of Appeal widersprach dieser Auffassung. Das Vereinigte Königreich als Vertragsstaat sei de facto weder am Prüfungs- bzw. Erteilungsverfahren für das Patent 908 beteiligt noch dafür verantwortlich. Zuständig sei allein das EPA, das bei der Ausübung seiner Erteilungsbefugnis faktisch und rechtlich unabhängig vom Comptroller und vom UKIPO sei. Gemäß Art. 77 (1) erlangen europäische Patente mit der Veröffentlichung im Europäischen Patentblatt unmittelbar Wirkung nach nationalem Recht. Der Comptroller habe lediglich eine administrative Funktion. Die Tatsache, dass sich die Befugnisse des EPA nach dem EPÜ aus einem Verzicht des Vereinigten Königreichs auf hoheitliche Befugnisse ableitet, reicht nicht aus, um eine gerichtliche Zuständigkeit nach Art. 1 zu begründen (s. Behrami v. France [2007] 45 EHRR SE10 und Boivin v. 34 Mitgliedstaaten des Europarats, 9. September 2008, EGMR 2008). Die Delegation von Befugnissen und Aufgaben an eine internationale Organisation ist nicht an sich unvereinbar mit Art. 1, und der unabhängige Rechtsstatus der Organisation, der durch den Vertrag entstand, wurde für die Zwecke der gerichtlichen Zuständigkeit anerkannt. Der Court of Appeal hielt die Anerkennung der Gültigkeit und Wirkung von europäischen Patenten im nationalen Recht nach s. 77 nicht für ausreichend, um eine gerichtliche Zuständigkeit zu begründen. Vielmehr erkenne das Vereinigte Königreich damit die Befugnisse des EPA als unabhängig errichtete und funktionierende Behörde an. Gestünde man den englischen Gerichten eine allgemeine Befugnis zu, die Gültigkeit der Erteilungen aufgrund von nicht im EPÜ genannten Gründen zu überprüfen, so würde man damit das gesamte System für die Erteilung europäischer Patente massiv untergraben und gegen die vertraglichen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs nach dem EPÜ verstoßen.
Art. 6 sei in dieser Sache lediglich insofern relevant, als über die Frage der Justiziabilität selbst entschieden werden müsse. Er erstreckt sich nicht darauf, materielle Rechte zur Anfechtung der Gültigkeit des Patents 908 zu schaffen, die im nationalen Recht nicht existierten.
NL – Niederlande
Bezirksgericht Den Haag vom 19. Dezember 2013 – Unilever N.V. v. Procter & Gamble
Schlagwort : Entscheidungen der Beschwerdekammern – nationale Verfahren
Unilever ist die Inhaberin des niederländischen Teils von EP 1 361 172. Das Patent offenbart eine wasserlösliche Verpackung, die ein Waschmittel zur Freisetzung bei Auflösung der Verpackung enthält.
P&G US, Henkel AG & Co und Reckitt Benckiser (UK) hatten gegen das Patent Einspruch eingelegt. In der Folge wurde das Patent beschränkt, indem in Anspruch 1, wo das Waschmittel als "eine Flüssigkeit oder ein Gel" beschrieben wurde, die Formulierung "oder ein Gel" gestrichen wurde. Außerdem wurde in der Beschreibung das Herstellungsverfahren für die wasserlösliche Verpackung gestrichen, dafür aber ein Abschnitt über die Form der Verpackung hinzugefügt. Die Einspruchsabteilung stellte fest, dass das Patent gegenüber dem Stand der Technik erfinderisch war.
P&G US legte gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung Beschwerde ein.
2003 hatte P&G mit der Markteinführung von Produkten begonnen, unter anderem von Ariel-Waschmittelkapseln, die offenbar mithilfe von Thermoformung hergestellt wurden, was zu Verletzungsvorwürfen wie in dem vorliegenden Verfahren geführt hat.
P&G argumentierte, dass der Fall für ein einstweiliges Verfügungsverfahren zu komplex und der potenzielle Schaden für die Marktposition von P&G erheblich sei, wobei binnen ganzer sechs Monate mit einer Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer des EPA gerechnet werden könne. Das Gericht kam zu einem anderen Schluss und entschied, dass der Fall für ein einstweiliges Verfahren geeignet sei.
P&G brachte daraufhin vor, dass eine ernsthafte, nicht zu vernachlässigende Möglichkeit bestehe, dass das Patent von der Beschwerdekammer widerrufen werde. Das Gericht prüfte die von P&G vorgebrachten Gründe für einen Widerruf, fand sie aber nicht überzeugend und entschied angesichts des Ergebnisses des Einspruchsverfahrens, dass keine ernsthafte, nicht zu vernachlässigende Möglichkeit eines Widerrufs bestehe. So befand das Gericht, dass die Ariel-Pods das Patent von Unilever verletzten.
Anmerkung des Herausgebers : Die Technische Beschwerdekammer widerrief in ihrer Entscheidung T 1799/12 vom 26. März 2014 das Patent, weil der Gegenstand der Ansprüche über den Inhalt der Stammanmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausging.
3. Aussetzung des nationalen Patentverfahrens
GB – Vereinigtes Königreich
Supreme Court vom 3. Juli 2013 – Virgin Atlantic Airways Ltd v. Zodiac Seats UK Ltd [2013] UKSC 46
Schlagwort: res judicata – Parallelverfahren – Aussetzung des Verfahrens
Virgin forderte Schadenersatz für die Verletzung eines europäischen Patents, das nicht mehr in der Form existierte, in der es angeblich verletzt worden war. Die Beschwerdekammer des EPA hatte es dahin gehend geändert, dass mit Wirkung vom Tag der Erteilung alle relevanten Ansprüche, die sie wegen mangelnder Neuheit für nichtig befand, gestrichen wurden. Virgin brachte vor, dass sie dennoch Anspruch auf Schadenersatz habe, weil die englischen Gerichte vor Ergehen der Kammerentscheidung das Patent für rechtsgültig befunden und den Einwand wegen mangelnder Neuheit zurückgewiesen hätten – diese Schlussfolgerung und die Feststellung der Rechtsgültigkeit seien ungeachtet der späteren rückwirkenden Entscheidung der Kammer rechtskräftig. Ein ähnliches Argument sei vor dem Court of Appeal in den Fällen Coflexip SA v. Stolt Offshore MS Ltd (No 2) [2004] FSR 708 und Unilin Beheer BV v. Berry Floor NV [2007] FSR 635 (s. 2. Auflage "Rechtsprechung aus den Vertragsstaaten des EPÜ" 2004 – 2011, ABl. SA 3/2011, S. 265) erfolgreich gewesen. Im aktuellen Streitfall sei der Court of Appeal zum selben Schluss gekommen.
Lord Sumption zufolge hatte sich der Court of Appeal bei seiner Schlussfolgerung von einer Reihe von Fällen leiten lassen, darunter Poulton v. Adjustable Cover and Boiler Block Co [1908] 2 Ch 430, Coflexip und schließlich Unilin, in denen entschieden worden sei, dass ein Patentinhaber, dessen Patent für rechtsgültig erklärt wurde, Anspruch auf Schadenersatz für die Verletzung seines Patents hat, obgleich dieses später mit Rückwirkung zum Erteilungstag wegen Nichtigkeit widerrufen wurde. Zurück geht dieser Grundsatz auf die Sache Coflexip, die seiner Meinung nach falsch entschieden worden sei. In der Entscheidung Unilin, die der Entscheidung Coflexip gefolgt sei, habe Lord Justice Jacob festgestellt, die dort gezogene Schlussfolgerung diene der Rechtssicherheit, erstens weil die Beteiligten so schon frühzeitig eine rechtskräftige Entscheidung eines englischen Gerichts über die Rechtsgültigkeit erhielten, und zweitens weil eine einstweilige Verfügung betreffend künftige Verletzungen aufgehoben würde, wenn das Patent später vom EPA widerrufen oder geändert werde. Lord Sumption fand dies nicht überzeugend – die Entscheidung in Coflexip stelle nicht etwa Rechtssicherheit her, sondern mache vielmehr den Ausgang abhängig davon, welches der beiden gleichzeitig befassten Gerichte sein Verfahren zuerst abschließe. Seine eigene Schlussfolgerung sei vielmehr die folgende: wenn ein englisches Gericht ein (englisches oder europäisches) Patent für rechtsbeständig und verletzt erkläre und dieses Patent später (in England oder vor dem EPA) rückwirkend widerrufen oder geändert werde, dürfe der Beklagte im Rahmen der Schadenersatzfeststellung auf den Widerruf oder die Änderung vertrauen.
Lord Sumption stellte darüber hinaus Folgendes fest: wäre er zu dem Schluss gelangt, dass der Beklagte daran gehindert werde, sich auf den Widerruf oder die Änderung des Patents zu berufen, sobald das Gericht dieses für rechtsgültig befunden habe, so hätte dies maßgebliche Auswirkungen auf die Frage, ob das englische Verfahren ausgesetzt werden solle, bis im parallelen Einspruchsverfahren vor dem EPA eine Entscheidung ergangen sei. Das englische Verfahren hätte dann unbedingt ausgesetzt werden müssen, damit die Entscheidung des EPA nicht durch Anwendung des Grundsatzes der Rechtskraftwirkung gegenstandslos würde. Es wäre somit schwierig gewesen, die in Glaxo Group Ltd v. Genentech Inc [2008] Bus LR 888 (s. 2. Auflage "Rechtsprechung aus den Vertragsstaaten des EPÜ" 2004 – 2011, ABl. SA 3/2011, S. 262) vorgegebene Linie beizubehalten, dass das englische Gericht normalerweise die Aussetzung seines eigenen Verfahrens ablehnen solle, wenn es wahrscheinlich sei, dass es die Frage der Rechtsgültigkeit deutlich früher klären werde.
In seiner beipflichtenden Stellungnahme vertrat Lord Neuberger die Auffassung, dass frühere Gerichte die gesetzlichen Bestimmungen zu Patenten nicht gebührend berücksichtigt hätten, die die Natur eines Patents und die Auswirkungen seines Widerrufs reflektierten. Die Gerichte hätten daher die spätere Entscheidung über den Widerruf des Patents lediglich als späteren Beschluss eines anderen Gerichts in einem anderen Verfahren zwischen anderen Beteiligten behandelt. Der Patents Act 1977 und das EPÜ bewirkten jedoch, dass der Widerruf nicht nur zwischen den Beteiligten Wirkung entfalte. Durch den Widerruf würden dem Patentinhaber rückwirkend die Rechte aberkannt, die ihm das Patent gegenüber aller Welt verliehen habe.
Der Klage wurde daher stattgegeben und die Entscheidungen in den Fällen Poulton und Coflexip wurden aufgehoben. Ferner war der Supreme Court der Auffassung, dass die im Fall Glaxo vorgegebene Linie durch den Patents Court und den Court of Appeal überprüft werden sollte.
Anmerkung der Herausgebers: s. nächste Zusammenfassung.
GB – Vereinigtes Königreich
Court of Appeal vom 21. November 2013 – IPCom GmbH v. HTC Co Europe Ltd [2013] EWCA Civ 1496
Schlagwort: Aussetzung des Verfahrens – gleichzeitig anhängige Verfahren
In dieser Berufungssache ging es darum, unter welchen Umständen ein Gericht im Falle eines kombinierten Verletzungs- und Nichtigkeitsverfahrens die Möglichkeit haben sollte, das Verfahren bis zum Abschluss eines gleichzeitig anhängigen Einspruchsverfahrens vor dem EPA auszusetzen. Die Richtigkeit der Vorgaben für die Aussetzung von Verfahren, die der Court of Appeal in Glaxo Group Ltd v. Genentech Inc [2008] EWCA Civ 23 (s. 2. Auflage "Rechtsprechung aus den Vertragsstaaten des EPÜ", 2004 – 2011, ABl. SA 3/2011, S. 262) aufgestellt hatte, wurde vom Supreme Court in Virgin Atlantic Airways Ltd v. Zodiac Seats UK Ltd [2013] UKSC 46 (s. oben) hinterfragt, und zwar sowohl im Lichte seiner Feststellung, dass der Widerruf bzw. die Änderung eines Patents durch das EPA rückwirkend gilt, als auch im Lichte seiner Aufhebung des in Unilin Beheer BV v. Berry Floor NV [2007] EWCA Civ 364 (s. 2. Auflage "Rechtsprechung aus den Vertragsstaaten des EPÜ", 2004 – 2011, ABl. SA 3/2011, S. 265) dargelegten Grundsatzes der "res judicata" (Rechtskraftwirkung).
Vor dem Hintergrund des Virgin-Urteils formulierte Lord Justice Floyd die Glaxo-Vorgaben wie folgt um:
1. Das in der Tat sehr weite Ermessen sollte im Sinne einer gerechten Abwägung der Interessen der Parteien unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls ausgeübt werden.
2. Dieses Ermessen steht dem Patents Court und nicht dem Court of Appeal zu. Es wäre nicht zu rechtfertigen, wenn der Court of Appeal in ein den Rechtsgrundsätzen entsprechendes erstinstanzliches Urteil eingreifen würde, das unter Berücksichtigung aller relevanten – und nur der relevanten – Tatsachen gefällt wurde.
3. Obwohl weder das EPÜ noch der Patents Act 1977 ausdrückliche Vorschriften zur Aussetzung eines nationalen Gerichtsverfahrens von Rechts wegen oder nach Ermessen enthält, liefern beide den Kontext und die Bedingungen für die Ermessensausübung.
4. Folglich ist zu beachten, dass die Möglichkeit gleichzeitiger Verfahren, in denen die Gültigkeit eines vom EPA erteilten Patents angefochten wird, dem durch das EPÜ geschaffenen System inhärent ist. Zu beachten ist auch, dass für Verletzungsfragen ausschließlich nationale Gerichte zuständig sind.
5. Wenn keine anderen Faktoren eine Rolle spielen, ist eine Aussetzung des nationalen Verfahrens die Standardoption. Es ist nicht sinnvoll, zwei parallele Verfahren zu führen, nur weil das EPÜ dies zulässt.
6. Die einer Aussetzung widersprechende Partei hat zu begründen, warum das Verfahren nicht ausgesetzt werden sollte. Letztlich ist dies eine Frage der gerechten Abwägung.
7. Ein entscheidender Faktor bei der Ermessensausübung besteht darin, in welchem Maße eine verwehrte Aussetzung eine Partei unwiderruflich eines Vorteils berauben würde, den die gleichzeitige Zuständigkeit des EPA und des nationalen Gerichts für sie hätte. Wenn also der Patentinhaber im Falle einer Fortsetzung des nationalen Gerichtsverfahrens Aussicht auf eine finanzielle Entschädigung hätte, die er auch bei einem anschließenden Widerruf des Patents nicht zurückzahlen müsste, wäre dies ein gewichtiges Argument für eine Aussetzung. Allerdings könnte die Tragweite dieses Faktors dadurch gemildert werden, dass eine entsprechende Rückzahlungsregelung angeboten würde.
8. Der Richter am Patents Court ist befugt, eine Aussetzung des nationalen Verfahrens abzulehnen, wenn die Sachlage dafür spricht, dass sich durch das britische Gerichtsverfahren erheblich früher eine gewisse Rechtssicherheit für Geschäftszwecke erreichen ließe als durch das Verfahren vor dem EPA. Zwar wird sich keine durchgängige Rechtssicherheit erzielen lassen, solange das Verfahren vor dem EPA noch nicht vollständig abgeschlossen ist, doch ist ein gewisses Maß an Sicherheit, das eher früher als später und besser irgendwo (z. B. im Vereinigten Königreich) als nirgendwo erzielt wird, in der Regel einer überall andauernden Unsicherheit vorzuziehen.
9. Es ist statthaft, die Tatsache in die Erwägungen einzubeziehen, dass ein Abschluss des nationalen Verfahrens zwar nicht alle Fragen endgültig klärt, die Entscheidung einiger wichtiger Sachverhalte eine endgültige Beilegung des Rechtsstreits aber doch vorantreiben kann.
10. Ein wichtiger Faktor bei der Ermessensausübung ist die voraussichtliche Dauer des jeweiligen Verfahrens vor dem nationalen Gericht und dem EPA. Dies ist kein unabhängiger Faktor, sondern muss im Lichte dessen betrachtet werden, was den Parteien aus der Verzögerung und der Rechtsunsicherheit an Nachteilen entstehen könnte, sowie der Rechtssicherheit, die das nationale Verfahren bringen kann.
11. Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist das öffentliche Interesse an einer Beseitigung der Unsicherheit über die Gültigkeit der Ausschließlichkeitsrechte, die durch die Patenterteilung gewährt werden.
12. Bei der Abwägung ist es wichtig, dass der Gefahr unnötiger Kosten Rechnung getragen wird; in der Regel tritt dieser Faktor aber gegenüber den mit einer frühen Beilegung verbundenen geschäftlichen Vorteilen in den Hintergrund.
13. Die Anhörung zu einem Antrag auf Aussetzung sollte nicht zu einer "Miniverhandlung" der verschiedenen für deren Gewährung oder Ablehnung ausschlaggebenden Faktoren werden. Die Vorbringen der Parteien müssen zwar kritisch geprüft werden, dies aber auf einer relativ allgemeinen Ebene.
GB – Vereinigtes Königreich
Court of Appeal, 11. März 2014 – Samsung Electronics Co Ltd v. Apple Retail UK Ltd [2014] EWCA Civ 250
Schlagwort: Aussetzung des Verfahrens – Antrag auf Beschränkung oder Widerruf vor dem EPA
In dem Verletzungsverfahren betreffend komplexe, von Samsung gehaltene Patente, hatte der erstinstanzliche Richter die Patente für nichtig befunden und sie widerrufen aber deren Widerruf wegen eines anhängigen Berufungsverfahrens aufgeschoben. Samsung hatte eine Vertagung des Berufungsverfahrens beantragt, bis über seine beim EPA gestellten Anträge auf Änderung der Patentansprüche gemäß Art. 105a EPÜ entschieden sei ("Beantragung zentraler Änderungen").
Lord Justice Kitchin verwies darauf, dass mit dem EPÜ 2000 ein Verfahren eingeführt worden sei, das einem Patentinhaber die Möglichkeit einräume, die Ansprüche seines erteilten Patents beschränken oder das Patent vollständig widerrufen zu lassen, und dies für alle benannten Staaten (Art. 105a EPÜ). Dieses zentrale Änderungsverfahren solle einfach und recht zügig sein. Eine zentrale Änderung gelte als ab dem Tag der Patenterteilung wirksam, und zwar als ununterbrochen wirksam ab diesem Zeitpunkt (Art. 64 und 68 EPÜ). Das Patentgesetz von 1977 (in der geltenden Fassung) verleihe diesen Bestimmungen in seinem Art. 77 (4) Gültigkeit, dem zufolge eine gemäß dem EPÜ vorgenommene Änderung eines europäischen Patents, in dem das Vereinigte Königreich benannt sei, für die Zwecke des Patentgesetzes genauso wirksam sei, als ob die Patentschrift gemäß dem Patentgesetz geändert worden wäre. Das Patentgesetz von 1977 sehe also ausdrücklich die Möglichkeit paralleler Verfahren im Vereinigten Königreich und im EPA vor. Auch sei es nicht untersagt, eine zentrale Änderung zu beantragen, während ein Verletzungs- oder Widerrufsverfahren anhängig sei, oder dies im Zeitraum zwischen dem erstinstanzlichen Urteil und der Berufung zu tun.
Die Einreichung und Verfolgung des Antrags auf zentrale Änderung durch Samsung könne daher nicht als Verfahrensmissbrauch charakterisiert werden, wie von Apple behauptet, oder als Vorgehen, mit der sich das Gericht aus einem anderen Grund befassen könne. Diese Auffassung stütze auch die jüngste Entscheidung des Supreme Court in der Sache Virgin Atlantic Airways Ltd v. Zodiac Seats UK Ltd [2013], UKSC 46 (s. oben) in dem Folgendes festgestellt worden sei: Urteilt ein englisches Gericht, dass ein (englisches oder europäisches) Patent gültig ist und verletzt wurde, und wird das Patent später rückwirkend (in England oder im EPA) widerrufen oder geändert, so hat der Beklagte das Recht, sich bei einer Schadenersatzforderung auf den Widerruf oder die Änderung zu berufen.
In allen vor dem Gericht angeführten Fällen habe gleichzeitig ein Verfahren in England und ein Einspruchsverfahren vor dem EPA stattgefunden; bislang habe sich das Gericht noch nicht mit den Auswirkungen einer zentralen Änderung befassen müssen, die nach der Gerichtsverhandlung vorgenommen worden sei. Es gebe jedoch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der Niederlande in der Sache C07.085HR, das genau diese Situation betreffe. In dieser Sache habe Scimed argumentiert, dass die Änderung aufgrund eines Antrags auf zentrale Änderung rückwirkend in Kraft trete. Der Oberste Gerichtshof habe dem zugestimmt und festgestellt, dass das Patent in seiner geänderten Form zu behandeln sei. Dementsprechend habe er die Sache an das Berufungsgericht zurückverweisen. Die Entscheidung in der Sache Scimed sei für das englische Gericht zwar nicht bindend, dennoch handle es sich hier um ein Gericht, dessen Urteilen laut Schutz (UK) Ltd v. Werit (UK) Ltd [2013] UKSC 16 eine hohe Bedeutung beigemessen werden sollte.
Die Tatsache, dass vor dem EPA ein Einspruchsverfahren oder ein Verfahren zur zentralen Änderung anhängig sei, hindere ein nationales Gericht nicht daran, Patentansprüche in ihrer bestehenden Form zu beurteilen und zu widerrufen, auch wenn sie aufgrund des EPA-Verfahrens Bestand haben könnten (Beloit Technologies Inc v. Valmet Paper Machinery Inc [1997] RPC 489). Im vorliegenden Fall sei die Anordnung zum Widerruf jedoch ausgesetzt worden, und solange diese Aussetzung gelte, blieben die Patente in Kraft und könnten geändert werden. Das Gericht stellte fest, dass weder das EPÜ noch das Patentgesetz von 1977 Bestimmungen enthielten, die Samsung zum jetzigen Zeitpunkt davon abhalten könnten, seine Anträge zu stellen und zu verfolgen, und wenn ihnen stattgegeben werde, seien sie rückwirkend in allen benannten Staaten wirksam.
Lord Justice Kitchin wies ausdrücklich darauf hin, dass das jüngste Urteil des Court of Appeal in IPCom GmbH & Co v. HTC Europe Co Ltd [2013] EWCA Civ 1496 (s. oben) eine andere Frage betreffe, nämlich die Umstände, unter denen ein Gericht eine Aussetzung des Verletzungs- und Nichtigkeitsverfahrens im Vereinigten Königreich bis zum Abschluss eines gleichzeitig anhängigen Einspruchsverfahrens vor dem EPA gewähren sollte. Im vorliegenden Fall sei das Gericht um eine Vertagung ersucht worden mit der Begründung, dass das Ergebnis der Anträge auf zentrale Änderung innerhalb relativ kurzer Zeit und sehr wahrscheinlich vor einer endgültigen Entscheidung im aktuellen Fall vorliegen würde. Dem Antrag auf Vertagung wurde daher stattgegeben.
GB – Vereinigtes Königreich
Patents Court vom 11. und 24. Juli 2014 – Actavis Group PTC EHF v. Pharmacia LLC [2014], EWHC 2265 (Pat) und [2014] EWHC 2611 (Pat)
Schlagwort: Aussetzung des Verfahrens
In diesen zwei Urteilen wurden die vom Court of Appeal in IPCom GmbH v. HTC Europe Co Ltd [2013] EWCA Civ 1496 umformulierten Vorgaben für die Aussetzung von Verfahren (s. oben) angewandt.
Die Beklagte (Pharmacia) hatte eine Aussetzung des Nichtigkeitsverfahrens bis zur endgültigen Entscheidung im parallelen Einspruchsverfahren vor dem EPA beantragt, wo es um ähnliche Nichtigkeitsgründe ging. Die Klägerin (Actavis) hatte Einspruch gegen den Antrag erhoben mit dem Argument, dass eine Verfahrensaussetzung abgelehnt werden sollte, weil das Verfahren in England erheblich früher abgeschlossen würde als das vor dem EPA, und sich dadurch zumindest im Vereinigten Königreich eine gewisse Rechtssicherheit für Geschäftszwecke erreichen lasse, was eine Beilegung vorantreiben könne. Zur Stützung ihres Antrags auf Aussetzung bot Pharmacia an, a) sich um eine Beschleunigung des Verfahrens vor dem EPA zu bemühen, b) bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem EPA keine Unterlassungsverfügung gegen Actavis oder deren Kunden zu beantragen und c) nur Schadensersatz in Höhe von 1 % des Nettoumsatzes zu fordern, den Actavis im Zeitraum von Beginn bis Abschluss des Verfahrens vor dem EPA erziele, wenn das Patent sowohl vom EPA als auch von den englischen Gerichten als gültig angesehen werde.
Justice Arnold verwies auf die vom Court of Appeal in IPCom umformulierten Vorgaben. Nach der gängigen Praxis sei, wie in IPCom unter den Nummern 5 und 6 dargelegt, eine Aussetzung des nationalen Verfahrens die Standardoption, und Actavis müsse begründen, warum das Verfahren nicht ausgesetzt werden sollte.
Nach Ansicht von Justice Arnold seien die konkurrierenden Erwägungen fein ausbalanciert. Dennoch kam er zu dem Schluss, dass mehr gegen eine Aussetzung spreche, und zwar insbesondere die Tatsache, dass das Verfahren vor dem EPA gerade erst begonnen habe. Auch wenn eine Beschleunigung dieses Verfahrens wahrscheinlich sei, könne sie nicht garantiert werden. Selbst im Falle einer Beschleunigung dürfte das Verfahren bis zu seinem Abschluss mindestens drei Jahre dauern und möglicherweise sogar erheblich länger. Das Verfahren in England werde dagegen innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen. Daher sei dies ein Fall, bei dem der zeitliche Rahmen der Verfahren dafür spreche, dass sich durch das englische Gerichtsverfahren früher eine gewisse Rechtssicherheit für Geschäftszwecke erreichen lasse als durch das Verfahren vor dem EPA (IPCom, Nrn. 8 und 10). Die Zusagen von Pharmacia gingen nicht weit genug. Während der Aussetzung werde die Rechtsunsicherheit für Geschäftszwecke dadurch zwar weitgehend eliminiert, und Actavis habe die Gewissheit, während der Verfahrensaussetzung am Markt agieren zu können, anstatt sich auf einen Anspruch im Rahmen gegenseitiger Schadensersatzzusagen verlassen zu müssen. Doch dadurch werde die Unsicherheit nicht ausgeräumt, die von der Möglichkeit ausgehe, dass Actavis beispielsweise in fünf Jahren durch eine Unterlassungsverfügung vom Markt ausgeschlossen werden könnte und normalen Schadenersatz zahlen oder seine Gewinne der letzten beiden Jahre offenlegen müsse. Diese Unsicherheit würde sich unweigerlich nachteilig auf die Investitionsentscheidungen von Actavis auswirken.
Nach Auffassung von Justice Arnold wurde die Ablehnung der Aussetzung auch dadurch gestützt, dass eine Entscheidung des englischen Gerichts eine endgültige Beilegung vorantreiben könne (IPCom, Nr. 9) und ein öffentliches Interesse an einer Entscheidung über die Gültigkeit des Patents bestehe (IPCom, Nr. 11). Die Gefahr unnötiger Kosten sei ein Faktor, der für eine Aussetzung spreche, jedoch durch die wirtschaftliche Unsicherheit aufgewogen werde (IPCom, Nr. 12).
Nachdem der Urteilsentwurf den Parteien zugegangen war, bot Pharmacia zwei weitere Zusagen an: Sie werde i) während der Laufzeit des Patents im Vereinigten Königreich keine Unterlassungsverfügung gegen Actavis oder deren Kunden im Zusammenhang mit dem Pramipexol-Retardarzneimittel von Actavis beantragen und ii) nur Schadensersatz in Höhe von 1 % des Nettoumsatzes fordern, den Actavis während der Laufzeit des Patents im Vereinigten Königreich erziele, wenn das Patent letztendlich vom EPA als gültig und von den englischen Gerichten als gültig und verletzt angesehen werde.
Nach einer weiteren Anhörung stellte Justice Arnold im zweiten Urteil fest, dass die zusätzlich angebotenen Zusagen die wirtschaftliche Unsicherheit im Wesentlichen eliminierten. Actavis beabsichtige, sein generisches Produkt in ganz Europa einzuführen, und wolle daher die durch den Bestand des Patents bedingte wirtschaftliche Unsicherheit schnellstmöglich in ganz Europa ausräumen. Außerdem trug Actavis vor, eine frühe Entscheidung werde eine Beilegung des Rechtsstreits zwischen den Parteien auf gesamteuropäischer Ebene vorantreiben. Schließlich, so Actavis, zeigten die Haltung und die Zusagen von Pharmacia, dass es sich um ein schwaches Patent handle, und es bestehe ein starkes öffentliches Interesse daran, dass schwache Patente von den Gerichten schnellstmöglich überprüft würden.
Justice Arnold befand, dass die von Actavis angeführten Argumente gegen eine Aussetzung sprächen. Unter Berücksichtigung der Vorgaben in IPCom und aller in diesem Urteil dargelegten Faktoren urteilte er jedoch, dass die Gesamtbilanz nun für eine Aussetzung spreche.
4. Vorbehalt zum EPÜ: Umfang des spanischen Vorbehalt nach Artikel 167 (2) a) EPÜ 1973
ES – Spanien
Oberster Gerichtshof (Zivilkammer) vom 10. Mai 2011 (309/2011) – Laboratorios Cinfa et al. v. Eli Lilly and Company Ltd
Schlagwort: Vorbehalt zum EP – Patentierbarkeit von Arzneimitteln nach Artikel 167 (2) a) EPÜ – Umfang des Vorbehalts
Das Berufungsgericht Barcelona hatte in seiner Entscheidung vom 17. Januar 2008 (s. 2. Auflage "Rechtsprechung aus den Vertragsstaaten des EPÜ" 2004 – 2011, ABl. SA 3/2011, S. 199) eine Klage auf Feststellung der Nichtverletzung sowie auf Nichtigerklärung von Anspruch 5 des europäischen Patents 0 454 436 auf die pharmazeutische Zusammensetzung Olanzapin abgewiesen. Die Klägerinnen hatten geltend gemacht, dass die betreffende Patentanmeldung vor dem 7. Oktober 1992 eingereicht worden und aufgrund des spanischen Vorbehalts zum EPÜ unwirksam sei. Das Gericht befand, dass die Wirkungen des spanischen Vorbehalts zum Europäischen Patentübereinkommen bezüglich chemischer Erzeugnisse und Arzneimittel (Art. 167 (2) a) EPÜ 1973) durch die Anwendung der Art. 27 (1) und 70 (2) des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS-Übereinkommen) aufgehoben worden seien.
Der Oberste Gerichtshof bestätigte die Entscheidung des Berufungsgerichts. Er wies darauf hin, dass der Umfang des Vorbehalts zum EPÜ nach Art. 167 (2) a) EPÜ, wonach Patente für chemische Erzeugnisse und Arzneimittel während ihrer Geltungsdauer unwirksam sind oder für nichtig erklärt werden können, in Spanien nicht voll ausgeschöpft wurde. So umfasste der von Spanien gemachte Vorbehalt weder Nahrungsmittel (sondern nur chemische Erzeugnisse und Arzneimittel) noch die Bestimmung zur Nichtigerklärung. Im spanischen Vorbehalt hieß es nur "keine Wirkung in Spanien". Daher konnte die geforderte Nichtigerklärung von Anspruch 5 nicht zugelassen werden. Außerdem befand das Gericht, dass Art. 167 (5) Satz 2 EPÜ 1973 ("Der Vorbehalt bleibt während der gesamten Geltungsdauer dieser Patente wirksam.") nicht mehr auf Patente angewandt werden konnte, die vor dem 7. Oktober 1992 erteilt und wirksam geworden sind, weil der Grundsatz der Nichtdiskriminierung nach Art. 27 (1) TRIPS Vorrang haben musste (Patente sind für Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erhältlich, sowohl für Erzeugnisse als auch für Verfahren, vorausgesetzt, dass sie neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind).