V. EUROPÄISCHE PATENTE ALS STREITGEGENSTAND IN VERSCHIEDENEN RECHTSORDNUNGEN
1. Danisco/Novozymes (EP 1 804 592)
DK – Dänemark
Dänischer Gerichtshof vom 25. Mai 2012 – Danisco A/S (inzwischen Teil von DuPont) v. Novozymes A/S
Schlagwort: Neuheit – erfinderische Tätigkeit
Im Streitpatent (EP 1 804 592) wurde ein Verfahren zur Herstellung einer Futtermittelzusammensetzung in Form von dampfbehandeltem, pelletiertem Futter beansprucht. Das Verfahren nach Anspruch 1 umfasste die Schritte Mischen von Futtermittelbestandteilen mit Körnchen, die einen Kern und eine Ummantelung umfassten, wobei der Kern ein Enzym umfasste, sowie Dampfbehandeln und Pelletieren der Zusammensetzung, dadurch gekennzeichnet, dass "die Ummantelung ein Salz umfasste, welches eine konstante Feuchtigkeit bei 20 °C von über 60 % hatte." Novozymes machte eine Verletzung des Patents geltend, während Danisco vorbrachte, dass das Streitpatent wegen mangelnder Neuheit nichtig sei. Am 7. Juli 2011 widerrief die Einspruchsabteilung des EPA das Patent aufgrund mangelnder Neuheit gegenüber einem bestimmten, als "Jacobsen" bezeichneten Dokument des Stands der Technik.
Das Gericht stellte fest, dass die Salze Calciumcarbonat und Magnesiumsilikat in der Ummantelung der Enzymkörnchen enthalten sein können, die in der als "Jacobsen" bezeichneten Entgegenhaltung beschrieben sind, und sich die Parteien darin einig sind, dass die Ansprüche des Streitpatents nicht neu wären, wenn sich herausstellte, dass Calciumcarbonat und/oder Magnesiumsilikat bei 20 °C eine konstante Feuchtigkeit von über 60 % haben. Der Gerichtshof hielt es für wahrscheinlich, dass Calciumcarbonat bei 20°C eine messbare konstante Feuchtigkeit von über 60 % und unter 100 % hat.
Aus diesem Grund und weil weder aus der Definition der konstanten Feuchtigkeit im Streitpatent noch aus der Beschreibung des Patents mit ausreichender Klarheit hervorgehe, dass die unter Anspruch 1 des Streitpatents fallenden Salze eine bestimmte – nicht näher definierte – Löslichkeit und Hygroskopizität aufweisen müssen, befand der Gerichtshof, dass es für einen Fachmann naheliegend wäre, dass zumindest Calciumcarbonat sich als Ummantelungssalz gemäß Streitpatent eignen würde. Auf dieser Grundlage entschied der Gerichtshof, dass das Streitpatent in der erteilten Fassung gegenüber "Jacobsen" nicht neu war.
Darüber hinaus hielt die Einspruchsabteilung die Hilfsanträge von Novozymes für nicht erfinderisch gegenüber dem Stand der Technik. Die Parteien holten Zeugenaussagen ihrer jeweiligen Sachverständigen ein, die jedoch abweichende Meinungen vertraten. Der Gerichtshof konnte keine gesicherte Grundlage dafür finden, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung, der zufolge die hilfsweise eingereichten Anspruchssätze nicht erfinderisch sind, nicht korrekt war. Das Gericht urteilte, dass die hilfsweise vorgelegten Anspruchssätze nicht erfinderisch sind und Novozymes keine Rechtsverletzung nachweisen konnte.
Anmerkung des Herausgebers: Die Beschwerdekammer bestätigte den Widerruf mit ihrer Entscheidung T 1839/11 vom 31. Juli 2012 nur zwei Monate nach dem Urteil des dänischen Gerichtshofs.
NL – Niederlande
Rechtbank 'S-Gravenhage vom 22. Juni 2011 – Danisco v. Novozymes
Schlagwort: Neuheit – erfinderische Tätigkeit
Das streitige Patent (EP 1 804 592) beansprucht ein Verfahren zum Herstellen einer Futtermittelzusammensetzung mittels Dampfpelletierung. Anspruch 1 ist auf ein solches Verfahren gerichtet, das die folgenden Schritte umfasst: Mischen von Futtermittelbestandteilen mit einen Kern und eine Ummantelung umfassenden Körnchen, wobei der Kern ein Enzym umfasst, Dampfbehandeln der Zusammensetzung und Pelletieren der Zusammensetzung, wobei das kennzeichnende Merkmal darin besteht, dass "die Ummantelung ein Salz umfasst, welches eine konstante Feuchtigkeit bei 20 °C von über 60 % hat". Danisco beantragte den Widerruf des Patents u. a. wegen angeblich mangelnder Neuheit und erfinderischerTätigkeit. Novozymes erhob Widerklage wegen angeblicher Verletzung.
Zur Begründung des Einwands mangelnder Neuheit wurde ein bestimmtes Dokument aus dem Stand der Technik mit der Bezeichnung "Jacobsen" angeführt. Darin wurde ausdrücklich ein Verfahren beschrieben, das bis auf das kennzeichnende Merkmal dem im Patent beanspruchten Verfahren entsprach. Vor Gericht wurde jedoch vorgebracht, dass auch dieses Merkmal offenbart sei, weil in Jacobsen als Ummantelung die Salze Magnesiumsilikat oder Calciumcarbonat beansprucht würden, die bei 20 °C eine konstante Feuchtigkeit von über 60 % aufwiesen.
Das Gericht räumte ein, dass das in Jacobsen genannte Calciumcarbonat, das bei 20 °C eine konstante Feuchtigkeit von fast 100 % erreicht, so wie im fraglichen Patent beansprucht eine konstante Feuchtigkeit von über 60 % habe. Dies bedeute jedoch nicht, dass das charakteristische Maß dieses Patents in Jacobsen auch unmittelbar und eindeutig offenbart sei. Eine solche Argumentation ließe außer Acht, wie der Fachmann anhand seines allgemeinen Fachwissens das kennzeichnende Merkmal von Anspruch 1 des Patents verstehen würde. Im Hinblick auf die Neuheit sollte der Anspruch eines Patents im Zusammenhang mit der Beschreibung und den Zeichnungen gelesen werden.
Das Gericht gelangte zu dem Schluss, dass Jacobsen kein anspruchsgemäßes Salz offenbare. Der Fachmann würde Anspruch 1 des Patents, der die Bestimmung der "konstanten Feuchtigkeit" eines Salzes verlange, so verstehen, dass er sich auf ein lösliches Salz mit einer gewissen Hygroskopizität beziehe, denn die "konstante Feuchtigkeit" sei ein Fachterminus, der nur für derartige Salze von Belang sei. Das in Jacobsen verwendete Salz sei jedoch nicht löslich und eigne sich deshalb nicht zur Bestimmung der konstanten Feuchtigkeit.
Zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit wandte das Gericht den Aufgabe-Lösungs-Ansatz an. Als objektiv zu lösende technische Aufgabe ermittelte es die Bereitstellung einer verbesserten Enzymaktivität/-stabilität bei der Dampfpelletierung und erklärte das Patent für erfinderisch. Im Stand der Technik werde in einem Dokument das Aufbringen einer Salzummantelung und in einem anderen die Anwendung eines Verfahrens beschrieben. Das Gericht sah aber in keinem der Dokumente einen Anhaltspunkt für das jeweils andere und befand, dass die gedankliche Kombination beider Dokumente auf einer rückschauenden Betrachtung beruhe. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der durchschnittliche Fachmann vom nächstliegenden Stand der Technik aus zu der Lösung einer Salzummantelung wie im streitigen Patent gelangt wäre. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass das Patent von Novozymes rechtsgültig war und von Danisco verletzt worden war.
Anmerkung des Herausgebers: Am 5. August 2011 hat die Einspruchsabteilung des EPA das Patent in vollem Umfang widerrufen. Dem folgte die Beschwerdekammerentscheidung T 1839/11 vom 31. Juli 2012, mit der die Beschwerde von Novozymes zurückgewiesen und der Widerruf des Patents rechtskräftig gemacht wurde.
2. Quetiapin (EP 0 907 364)
BE – Belgien
Bezirksgericht Antwerpen vom 20. Dezember 2013 – Sandoz v. AstraZeneca
Schlagwort : Retardformulierung – Entscheidungen anderer Gerichte – erfinderische Tätigkeit
Das Gericht stellte fest, dass vor verschiedenen nationalen Gerichten in Europa Nichtigkeitsklagen gegen das jeweilige nationale Familienmitglied des Patents von AstraZeneca angestrengt wurden. Auch wenn jeder nationalen Entscheidung die gleiche Bedeutung beizumessen und davon auszugehen sei, dass die aufgeworfenen Rechtsfragen in allen Ländern kompetent geprüft wurden, sei es doch bemerkenswert, dass selbst die Gerichte der in der Patentwelt als führend geltenden Länder zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangt seien (vgl. die Urteile aus den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich und Deutschland) und dass die Gerichte, die zu demselben Ergebnis gelangt seien, dies unterschiedlich begründet hätten.
Ob vor den einzelnen nationalen Gerichten dieselben Argumente vorgebracht worden seien, lasse sich nicht feststellen. Im vorliegenden Verfahren seien die Beklagten ganz anders vorgegangen als in England. Das Gericht habe keinen Zugriff auf die Vorbringen und Schriftstücke, die in den anderen nationalen Verfahren vorgetragen bzw. vorgelegt worden seien, und selbst wenn es Zugriff darauf hätte, stünde es ihm nicht zu, deren Beurteilung durch die anderen Gerichte zu bewerten. Daher habe es sich unabhängig von den parallelen Verfahren eine eigene Meinung gebildet.
Die objektive technische Aufgabe sei die Bereitstellung einer Quetiapinformulierung, die über einen längeren Zeitraum eine einheitliche und stabile Plasmakonzentration gewährleiste (d. h. eine einheitliche und konstante Freisetzungsrate), ohne dass die Verabreichungshäufigkeit erhöht werden müsse. Dies unterscheide sich von der objektiven technischen Aufgabe, wie die Beklagte sie definiert habe, der zufolge die Aufgabe in der Entwicklung eines neuen Arzneimittels bestehe, das den aktiven Wirkstoff Quetiapin zur Behandlung psychotischer Störungen auf eine bestimmte Weise freisetze. Dem konnte sich das Gericht nicht anschließen. Es wandte den Aufgabe-Lösungs-Ansatz auf der Basis seiner eignen Definition der objektiven technischen Aufgabe an und kam zu dem Schluss, dass sich der mit dieser objektiven technischen Aufgabe betraute Fachmann in Anbetracht der Hinweise aus dem Stand der Technik dazu entschlossen hätte, eine Retardformulierung unter Zuhilfenahme eines Geliermittels zu entwickeln, wie es im Patent genannt sei.
Dementsprechend entschied das Gericht, den belgischen Teil vom europäischen Patent 0 907 364 wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit für nichtig zu erklären.
DE – Deutschland
Bundespatentgericht vom 13. November 2012 (3 Ni 43/10 (EP), 3 Ni 24/11 (EP), 3 Ni 25/11 (EP) verbunden) – Quetiapin
Schlagwort: erfinderische Tätigkeit – Retard-Formulierung
Das europäische Patent (DE) 0 907 364, wurde für eine Retard-Formulierung des Psychosemedikatments Quetiapin (Seroquel XR genannt) erteilt. Der Wirkstoff Quetiapin, zeichnet sich durch eine antidopaminerge Wirkung aus und wird als Antipsychotikum oder zur Behandlung von Hyperaktivität eingesetzt. Die Klägerinnen machten geltend, die streitgegenständlichen Patentansprüche seien gegenüber dem zu berücksichtigenden Stand der Technik nicht neu. Zudem beruhe die mit dem Streitpatent geschützte Lehre nicht auf erfinderischer Tätigkeit. Das Patent wurde vom BPatG für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt da es dem Gegenstand des Streitpatents sowohl in der erteilten als auch in den hilfsweise verteidigten Fassungen gegenüber dem Stand der Technik an der erforderlichen erfinderischen Tätigkeit mangelte.
Das BPatG führte aus, dass zur Lösung der dem Streitpatent zu Grunde liegenden Aufgabe, der Fachmann unter anderem von einer bereits veröffentlichten Studie ausgehen konnte. Daraus ging hervor, dass die einmal tägliche Gabe eines Quetiapin sofort freisetzenden Arzneimittels zur Sicherstellung einer wirksamen Behandlung nicht ausreichen dürfte, die Reduzierung der Verabreichungshäufigkeit aber anzustreben sei um eine bessere Compliance bei an Schizophrenie leidenden Patienten zu erreichen. Die Anregung, zur Verwirklichung einer auf eine einmal tägliche Gabe reduzierten Verabreichungshäufigkeit eine Formulierung in Betracht zu ziehen, die auf einem anderen Freisetzungsprofil beruht als die bekannte, Quetiapin sofort freisetzende orale Darreichungsform, erhielt der Fachmann jedoch laut BPatG mit einer Pressemitteilung in der ihm zur Kenntnis gegeben wurde, dass beabsichtigt sei, eine einmal tägliche Dosierungsform für Quetiapin zu entwickeln. Mit dem Begriff „einmal tägliche Dosierungsform" verbindet der Fachmann Formulierungen, die den Wirkstoff über einen längeren Zeitraum freisetzen, d. h. Dosierungsformen, die in der Fachwelt als „Retard-Formulierungen" bezeichnet werden. Daher läge es für den Fachmann nahe eine Retard-Formulierung in Betracht zu ziehen, die zu einer verbesserten Compliance bei Patienten sowie einem gleichmäßigen Plasmaspiegel des Arzneistoffes führen sollte. Eine Retard-Formulierung in Betracht zu ziehen, lag somit nahe.
Die im strittigen Patentanspruch genannte Maßgabe, den Wirkstoff Quetiapin unter Verwendung eines Geliermittels zu formulieren, konnte gleichfalls keinen Beitrag zur Begründung der erfinderischen Tätigkeit leisten. Denn dem Fachmann war im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Darreichungsformen mit retardierter Wirkstofffreisetzung zum maßgeblichen Zeitpunkt aus dem Stand der Technik bekannt, dass sich Matrixsysteme auf der Grundlage von Geliermitteln wie Hydroxypropylmethylcellulosen für die Formulierung einer Vielzahl von Wirkstoffen unterschiedlichster Strukturen und damit auch Löslichkeiten eignen. Das BPatG war der Ansicht, dass der Streitpatentschrift an keiner Stelle Hinweise dahingehend zu entnehmen seien dass besondere, das durchschnittliche Können des Fachmannes übersteigende Maßnahmen zu ergreifen gewesen seien um Quetiapin entsprechend zu formulieren. Daher wurde eine erfinderische Tätigkeit verneint.
Anmerkung des Herausgebers: Zur Berufungsentscheidung s. unten.
DE – Deutschland
Bundesgerichtshof vom 13. Januar 2015 (X ZR 41/13) – Quetiapin
Schlagwort: erfinderische Tätigkeit – Retard-Formulierung
Am 13. Januar 2015 wies der Bundesgerichtshof (X ZR 41/13) die Berufung gegen die Entscheidung des Bundespatentgerichts zurück und bestätigte im Ergebnis, dass der Gegenstand des Streitpatents durch den Stand der Technik nahegelegt war. Er stellte jedoch fest, dass die vom Bundespatentgericht formulierte Aufgabe zu eng gewesen sei. Das dem Streitpatent zugrunde liegende Problem bestehe nicht, wie vom Bundespatentgericht angenommen darin, eine Formulierung des Wirkstoffs Quetiapin zur Verfügung zu stellen, die eine möglichst konstante Freisetzungsrate über einen möglichst langen Zeitraum hinweg ermöglicht, sondern vielmehr darin, eine Darreichungsform von Quetiapin zur Verfügung zu stellen, die zu einer verbesserten Wirkung führt. Im Leitsatz führte der BGH wie folgt aus: „Bei der Definition des technischen Problems, das einer Erfindung zugrunde liegt, darf nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass für den Fachmann die Befassung mit einer bestimmten Aufgabenstellung angezeigt war. Vielmehr ist das technische Problem so allgemein und neutral zu formulieren, dass sich die Frage, welche Anregungen der Fachmann durch den Stand der Technik insoweit erhielt, ausschließlich bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit stellt."
GB – Vereinigtes Königreich
Patents Court vom 22. März 2012 – Teva UK Ltd v. AstraZeneca AB [2012], EWHC 655 (Pat)
Schlagwort: erfinderische Tätigkeit – parallele Verfahren
Gegenstands des Patents von AstraZeneca war eine Retardformulierung für das Neuroleptikum Quetiapin. Teva hatte behauptet, dass das Patent gegenüber einem Stand der Technik (Gefvert et al.) naheliegend und deswegen nichtig sei.
Der Richter wandte den üblichen strukturierten Ansatz für die Prüfung eines angeblichen Naheliegens an, der in Windsurfing International Inc v. Tabur Marine (Great Britain) Ltd [1985], RPC 59 aufgestellt und in Pozzoli v. BDMO SA, EWCA Civ 588 bestätigt worden war (vgl. auch 2. Auflage "Rechtsprechung aus den Vertragsstaaten des EPÜ", 2004 – 2011, ABl. SA 3/2011, S. 124). Unbestritten war, dass in Gefvert keine Retardformulierung offenbart war.
Aus den weiteren von beiden Parteien vorgebrachten Beweismitteln und Argumenten schloss der Richter, dass das Fachteam aus Gefvert folgern würde, dass die einmal tägliche Verabreichung von 450 mg einer sofort freisetzenden Formulierung nicht wirksam wäre. Eine einmal tägliche Verabreichung würde es aber für erstrebenswert halten. Zur Erreichung dieses Ziels kämen sowohl eine Retardformulierung als auch eine höhere Dosis einer sofort freisetzenden Formulierung als naheliegende Möglichkeiten in Betracht. Das Fachteam würde sich nicht von der Entwicklung einer Retardformulierung abhalten lassen, und ebenso wenig würde seine Erfolgserwartung negativ beeinflusst. Der Richter befand daher, dass das Fachteam davon ausgehen würde, mithilfe von HPMC erfolgreich eine Retardformulierung von Quetiapin herstellen zu können. Die Lösung sei also naheliegend.
Das Bezirksgericht Den Haag hatte (in der Sache 397921/HA ZA 11-1977 vom 12. März 2012) über eine parallele Klage von Sandoz auf Nichtigerklärung des niederländischen Teils des Patents entschieden und das Vorbringen von Sandoz zurückgewiesen, wonach das Patent gegenüber Gefvert naheliegend sei. Zusammenfassend war das niederländische Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass eine ausreichende Wirksamkeit von Quetiapin ohne schwerwiegende Nebenwirkungen noch nicht belegt sei und der Durchschnittsfachmann nur eine sehr begrenzte Motivation habe, diese konkrete Substanz zur Herstellung einer Retardformulierung zu verwenden. Auch hätte der Fachmann keine hohen Erfolgserwartungen gehabt, eine ausreichend wirksame Retardformulierung von Quetiapin entwickeln zu können.
Der Richter bedauerte, dass die Rechtsgültigkeit ein und desselben Patents von unterschiedlichen europäischen Gerichten widersprüchlich beurteilt wurde. Das niederländische Urteil verdiene Beachtung und sei gebührend berücksichtigt worden. Trotzdem seien die Urteile aus folgenden Gründen unterschiedlich ausgefallen:
1. Den Gerichten hätten unterschiedliche Beweismittel vorgelegen. Die Verhandlung vor dem niederländischen Gericht habe nur einen Tag gedauert, und es seien keine Sachverständigen ins Kreuzverhör genommen worden.
2. Auch wenn offenbar vor jedem Gericht großenteils dieselben Publikationen und Lehrbücher angezogen worden seien, habe es doch gewisse Unterschiede gegeben.
3. Das niederländische Gericht habe dem Patent das Prioritätsrecht abgesprochen und sich dementsprechend auf mehrere nach dem Prioritätstag veröffentlichte Publikationen gestützt. Vor dem britischen Gericht sei die Priorität nicht angefochten worden.
4. Die Vorbringen vor jedem Gericht seien andere gewesen.
5. In Anbetracht der ihm vorliegenden Beweismittel und Vorbingen habe sich der britische Richter weder hinsichtlich der Motivation noch hinsichtlich der Erfolgserwartung den Schlussfolgerungen des niederländischen Gerichts anschließen können.
6. Das niederländische Gericht habe offenbar der Tatsache keine Bedeutung beigemessen, dass die im Patent beschriebenen Probleme illusorisch seien und die von AstraZeneca geltend gemachten Hindernisse ("lions in the path") im Patent nicht genannt seien.
Anmerkung des Herausgebers: Die Entscheidung des Patents Court wurde aufrechterhalten (s. nächste Zusammenfassung).
GB – Vereinigtes Königreich
Court of Appeal vom 30. April 2013 – AstraZeneca AB v. Hexal [2013] EWCA Civ 454
Schlagwort: erfinderische Tätigkeit – Rolle des Court of Appeal – parallele nationale Entscheidungen
In diesem Fall hatte der Court of Appeal über eine Berufung gegen das Urteil von Justice Arnold in der Sache Teva v. AstraZeneca [2012] EWHC 655 (Pat) (s. oben) zu entscheiden. Dieser hatte das Patent auf Retardformulierungen für das Antipsychotikum Quetiapin mit der Begründung für nichtig erklärt, dass der betreffende Anspruch gegenüber dem Stand der Technik und dem allgemeinen Fachwissen naheliegend sei.
Bei der Entscheidung der ersten Instanz, die Berufung zuzulassen, spielten unter anderem die vor Gerichten anderer Länder anhängigen Verfahren zur Rechtsgültigkeit von Familienmitgliedern des Streitpatents eine Rolle. Nach der Anhörung im Berufungsverfahren informierten die Parteien das Gericht über weitere Entwicklungen in anderen Rechtsordnungen.
Lord Justice Mummery stellte fest, dass der Court of Appeal glücklicherweise nicht darüber entscheiden müsse, ob die Urteile anderer Gerichte in anderen Rechtsordnungen richtig oder falsch seien, sondern lediglich darüber, ob die Entscheidung von Justice Arnold in Anbetracht der ihm vorliegenden Beweismittel und Vorbingen falsch gewesen sei. Es sei nicht Aufgabe des Court of Appeal, nochmals über die Frage des Naheliegens zu befinden. Ebenso wenig sei es seine Aufgabe, eine erneute Erörterung der gesamten Sache von Grund auf zuzulassen, um dann die Beweismittel in dieser – multifaktoriellen – Problematik neu zu würdigen und die erstinstanzliche Entscheidung möglicherweise durch eine gegenteilige Bewertung der Sachverhalte zu ersetzen. Über die Frage des Naheliegens müsse der Richter der ersten Instanz im Wesentlichen anhand der Sachlage, einer graduellen Bewertung und seines Gesamteindrucks entscheiden. Er müsse die Beweislage als Ganzes würdigen und auf dieser Grundlage zu einem Urteil gelangen. Eine Feststellung des Naheliegens wolle der Court of Appeal nicht antasten, es sei denn, dem Richter wäre ein grundsätzlicher Rechtsfehler unterlaufen oder seine Entscheidung wäre aus einem anderen Grund eindeutig falsch.
Zudem habe der Richter der ersten Instanz richtig daran getan, das niederländische Urteil mit Bedacht zu prüfen, das ihm als eine dasselbe Patent betreffende, aber zu einem anderen Ergebnis gelangende Entscheidung zur Kenntnis gebracht worden war. Dabei handle es sich aber um einen anderen Fall, der von anderen Richtern auf der Grundlage anderer Beweismittel und Vorbringen entschieden worden sei. Weder sei der Richter an dieses Urteil gebunden, noch müsse er begründen, warum seine Entscheidung anders ausfalle.
Der Court of Appeal befand daher, dass Justice Arnold bei seiner Entscheidung über das Naheliegen von Anspruch 1 kein grundsätzlicher Rechtsfehler unterlaufen war und seine Entscheidung auch nicht aus einem anderen Grund eindeutig falsch war. Die Einschätzung der Richters werde durch zahlreiche Beweismittel untermauert. Seine Schlussfolgerung sei aufgrund der ordnungsgemäßen Anwendung seiner korrekten Auslegung der einschlägigen Grundsätze des Patentrechts auf die ihm anhand der Beweismittel präsentierte Sachlage gerechtfertigt. Es sei nicht Aufgabe des Court of Appeal, sich in eine detaillierte Neubewertung bestimmter Tatsachenfeststellungen zur Frage des Naheliegens verwickeln zu lassen, für die es eine gewisse Beweisgrundlage gebe. Die Berufung wurde abgewiesen.
NL – Niederlande
Berufungsgericht Den Haag vom 10. Juni 2014 – Accord v. AstraZeneca
Schlagwort: erfinderische Tätigkeit – Fachmann – Erfolgserwartung
AstraZeneca ist Inhaberin des europäischen Patents 0 907 364 auf eine Retardformulierung mit dem Wirkstoff Quetiapin (Seroquel), der zur Behandlung von Schizophrenie, bipolaren Erkrankungen und Depressionen eingesetzt wird.
Das Berufungsgericht Den Haag widerrief das Patent wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit und hob damit die Entscheidung des Gerichts erster Instanz auf.
Das Gericht befand, dass keine erfinderische Tätigkeit vorliegt, wenn der Durchschnittsfachmann die Aufgabe angesichts des nächstliegenden Stands der Technik mit der beanspruchten Vorgehensweise nicht nur gelöst haben könnte, sondern auch gelöst haben würde. Eine Erfindung ist nicht nur dann naheliegend, wenn ihre Ergebnisse klar hervorsehbar sind, sondern auch dann, wenn realistisch mit einem Erfolg gerechnet werden kann, d. h. der Fachmann mit Grund absehen kann, dass ein Forschungsprojekt innerhalb akzeptabler Fristen erfolgreich abgeschlossen sein wird (s. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 7. Auflage 2013, Kapitel I.D.7). Die bloße "Hoffnung auf gutes Gelingen" reicht nicht aus. Der Fachmann hat Zugang zu allem, was zum "Stand der Technik" gehört, und verfügt über die "üblichen Mittel und Fähigkeiten für routinemäßige Arbeiten und Versuche". Er nimmt eine konservative Haltung ein, geht keine unkalkulierbaren Risiken ein und führt alle Routineversuche durch (s. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 7. Auflage 2013, Kapitel I.D.8). Sinnvoll kann die Überlegung sein, ob Versuche zeitraubend und/oder komplex wären oder ob nur Routineversuche erforderlich wären (s. "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 7. Auflage 2013, Kapitel I.D.8).
Das Gericht definierte den Durchschnittsfachmann als Gruppe bestehend aus einem Facharzt für psychische Erkrankungen (Psychiater) und einem Formulierungsexperten.
Für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit war nach Auffassung des Gerichts das Dokument Gefvert (1995) als nächstliegender Stand der Technik heranzuziehen, weil es ebenfalls die klinische Anwendung von Quetiapin mit sofortiger Wirkstofffreisetzung in der Praxis beschrieb. Darin wurden sowohl der Stoff Quetiapin als auch seine pharmakologischen Eigenschaften als atypisches Neuroleptikum offenbart.
Das Gericht stellte fest, dass die vom Fachmann zu lösende Aufgabe darin bestand, eine Quetiapin-Formulierung (zur oralen Verabreichung) zu entwickeln, mit der stabile und erwünschte Plasmawerte bei einer niedrigeren Dosierungsfrequenz erreicht werden können. Bei der Entscheidung, ob diese Aufgabe gelöst wurde, war es unerheblich, ob der Fachmann motiviert war, eine Quetiapin-Formulierung zu entwickeln, und wenn ja, ob die Notwendigkeit einer niedrigeren Dosierungsfrequenz bestand. Motivation könnte bei der Entscheidung eine Rolle spielen, ob der Fachmann eine bestimmte Vorgehensweise für seinen Versuch gewählt hätte, die Aufgabe zu lösen, aber dies ist eine andere Frage als die, ob der Fachmann überhaupt motiviert war, die Aufgabe zu lösen.
Nach Auffassung des Gerichts war der Fachmann auf jeden Fall motiviert, eine Retardformulierung von Quetiapin zu entwickeln, da es am Prioritätstag zahlreiche Hinweise gab, die als Grundlage für die Erwartung dienen konnten, dass Quetiapin wirksam war (oder sein würde), während kein Grund zu der Annahme bestand, dass der Fachmann wegen möglicher Risiken von der Entwicklung der Formulierung abgehalten würde.
Die Erfindung war daher für den Fachmann naheliegend.
3. Olanzapin (EP 0 454 436)
AT – Österreich
Oberster Patent- und Markensenat vom 29. Juni 2011 (Op 3/11)
Schlagwort: Auswahlerfindungen
Das Streitpatent (EP 0 454 436) betraf eine Verbindung mit dem Namen Olanzapin zur Verwendung als Antipsychotikum.
Im Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren hielt der Oberste Patent- und Markensenat (OPM) zum Begriff der „Auswahlerfindung" fest, dass damit die Auswahl bestimmter Bereiche aus einem bereits bekannten größeren Bereich im Sinne eines Herausgreifens eines gewisse Besonderheiten aufweisenden Beispiels, dessen herausragende Eigenschaften zuvor nicht bekannt waren, bezeichnet wird. Eine Auswahlerfindung ist dann neu, wenn aus einem größeren Bereich des Standes der Technik der ausgewählte Teilbereich jedes der drei folgenden Kriterien erfüllt (OPM Op 5/05):
1. der ausgewählte Teilbereich ist im Vergleich zu dem bekannten Bereich eng,
2. der ausgewählte Teilbereich hat genügend Abstand von konkreten, im Stand der Technik offenbarten Beispielen und von den Eckwerten des bekannten Bereichs
3. der ausgewählte Teilbereich ist kein willkürlicher Ausschnitt des Standes der Technik, dh keine bloße Ausführungsform des Standes der Technik, sondern eine andere Erfindung (gezielte Auswahl, neue technische Lehre), das Herausgreifen eines gewisse Besonderheiten aufweisenden Beispiels, dessen herausragende Eigenschaften zuvor nicht bekannt waren.
Das vorveröffentlichte Dokument Beilage 3 enthielt eine große Zahl von Benzodiazepinen mit einer Markush-Formel, unter die auch Olanzapin fällt.
Zu Kriterium 2 sprach der OPM aus, dass – falls man im vorliegenden Fall überhaupt vom Abstand zwischen zwei benachbarten Verbindungen sprechen kann – gerade bei der pharmazeutischen Verwendung von chemischen Substanzen die Wirkung bei (auch bloß geringfügigen) Änderungen an Substituenten nicht vorhersehbar ist. Der Austausch einer Ethyl- durch eine Methylgruppe kann die Wirksamkeit bzw. das Wirksamkeitsspektrum eines Arzneimittels etwa deutlich ändern. Daraus folgt, dass auch bei strukturell sehr ähnlichen Substituenten nicht zwingend auf eine ähnliche pharmazeutische Wirkung geschlossen werden kann. Kriterium 2, also ein ausreichender Abstand von Olanzapin zu den Verbindungen der Beilage 3, war daher erfüllt.
Zu Kriterium 3 führte der OPM aus, dass die unerwartete und überraschend exzellente Wirkung von Olanzapin (Eignung als potenzielles Neuroleptikum schon bei geringer Dosierung; keine extrapyramidalen Nebenwirkungen; kein Auftreten von Agranulozytose; geringeres Auftreten von erhöhten Leberenzymwerten) nur im Streitpatent hervorgehoben und der Beilage 3 nicht zu entnehmen war. Damit war auch das dritte Kriterium für eine Auswahlerfindung, nämlich die unerwartete Wirkung von Olanzapin, verwirklicht.
NL – Niederlande
Berufungsgericht Den Haag vom 27. September 2011 – Eli Lilly v. Ratiopharm
Schlagwort: Neuheit – Fehler im Stand der Technik – Auswahlerfindung
Eli Lilly ist Inhaberin eines Patents (EP 0 454 436) betreffend Olanzapin, den Wirkstoff eines Arzneimittels, das bei der Behandlung von Störungen des zentralen Nervensystems zum Einsatz kommt.
Ratiopharm beantragte, den niederländischen Teil des Patents für nichtig zu erklären, weil Olanzapin bereits in einer Studie offenbart worden sei. Der Titel der Studie stimmte nicht mit der darin dargestellten Strukturformel überein, die wiederum von der Strukturformel von Olanzapin abwich. Ratiopharm argumentierte, dieser Unterschied sei ein offensichtlicher Fehler, den der Fachmann auf Anhieb erkennen und korrigieren würde. Olanzapin sei damit unmittelbar und eindeutig in der Studie offenbart.
Das Berufungsgericht Den Haag kam zu folgendem Schluss: Selbst wenn der Fachmann erkennen würde, dass die Studie offenkundig fehlerhaft ist, würde er die angeführten Verweise konsultieren, um die "technische Realität" zu überprüfen, und dann feststellen, dass die Offenbarung von Flumezapin (nicht Olanzapin) beabsichtigt war. Die Studie war somit nicht neuheitsschädlich.
Das Gericht stellte außerdem fest, dass der Aufgabe-Lösungs-Ansatz auch bei der Beurteilung, ob eine Auswahlerfindung erfinderisch ist, anzuwenden ist und befand, dass der Fachmann Olanzapin nicht auswählen würde, weil der nächstliegende Stand der Technik (selbst bei Zusammenschau mit anderen Dokumenten) keine Hinweise darauf enthält, dass Olanzapin die gewünschte Kombination von Eigenschaften aufweist, nämlich eine gute Wirkung als Antipsychotikum ohne bestimmte Nebenwirkungen.
Im Ergebnis bestätigte das Gericht die Rechtsbeständigkeit des Patents.
ES – Spanien
Siehe "Oberster Gerichtshof (Zivilkammer) vom 10. Mai 2011 (309/2011) – Laboratorios Cinfa et al. v. Eli Lilly and Company Ltd" unter Kapitel VI.4. "Vorbehalt zum EPÜ".
4. Okklusionsvorrichtung (EP 0 808 138)
GB – Vereinigtes Königreich
Siehe "Patentgericht vom 22. Juli 2014 – AgaMedical Corporation v. Occlutech (UK) Ltd [2014] EWHC 2506 (Pat) unter Kapitel I.C.1. "Stand der Technik".
NL – Niederlande
Oberster Gerichtshof (Hoge Raad) vom 25. Mai 2012 – AGA v. Occlutech
Schlagwort: Anspruchsauslegung
AGA ist Inhaberin des europäischen Patents 0 808 138, das auf eine Okklusionsvorrichtung erteilt wurde, die bei der Behandlung von strukturellen Herzerkrankungen einschließlich struktureller Herzfehler zum Einsatz kommt. Die medizinische Vorrichtung umfasst ein Metallgewebe aus geflochtenen Metalllitzen, das durch zwei Klemmen zum Festklemmen der Litzen an entgegengesetzten Enden der Vorrichtung gekennzeichnet ist. Occlutech stellt hantelförmige medizinische Vorrichtungen zum Verschließen von Herzscheidewanddefekten her, die nur eine einzige Klemme an einem Ende der Vorrichtung umfassen.
In den Vorinstanzen war entschieden worden, dass Occlutechs Patent nicht das Patent von AGA verletze, weil es nicht in dessen Schutzbereich falle. Das Festklemmen an entgegengesetzten Enden der Vorrichtung sei ein wesentliches Anspruchsmerkmal. Derartige wesentliche Merkmale dürften nicht zu breit ausgelegt werden, es sei denn, die Beschreibung und die Zeichnungen lieferten dafür klare Hinweise. Das Berufungsgericht hatte entschieden, dass es in der Beschreibung oder den Zeichnungen keine Anhaltspunkte für AGAs Auslegung gebe, die auch nicht mit dem Wortlaut der Ansprüche vereinbar war und der zufolge der erfinderische Gedanke auch Vorrichtungen mit nur einer Klemme einschloss.
Der Oberste Gerichtshof der Niederlande wies die Berufung zurück und schloss sich dem Urteil des Berufungsgerichts an. Er befand, dass die Auslegung eines Patents generell sehr eng mit Tatsachenbewertungen verknüpft sei. Das bedeute, dass der Gerichtshof, wenn er mit einer Berufung befasst werde, die Richtigkeit der Auslegung nur begrenzt überprüfen könne. Seiner Auffassung nach könne Art. 69 EPÜ in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls über die Anwendung von Art. 69 EPÜ herangezogen werden, um den Schutzumfang eines Patents ebenso wie das Wesen der Erfindung und den dem Wortlaut der Ansprüche zugrunde liegenden Gedanken zu ermitteln. Er konnte keine Fehler in der Auslegung des Berufungsgerichts finden, wonach Vorrichtungen mit Klemmen auf nur einer Seite nicht in den Schutzbereich fallen.
Anmerkung des Herausgebers: Zur angefochtenen Entscheidung siehe 2. Auflage "Rechtsprechung aus den Vertragsstaaten des EPÜ" 2004 – 2011, ABl. SA 3/2011, S. 251.
SE – Schweden
Bezirksgericht Stockholm vom 4. März 2011 – Occlutech GmbH v. AGA Medical Corporation, AGA Medical Corporation v. Occlutech International AB und Tor Peters (verbundene Rechtssachen)
Schlagwort: Auslegung der Patentansprüche – Schutzumfang
AGA ist Inhaberin des europäischen Patents 0 808 138 für Schweden, das eine medizinische Vorrichtung betrifft. Nach Auffassung von AGA hatte Occlutech das Patent verletzt, die Verletzungsklage wurde jedoch vom Bezirksgericht zurückgewiesen. In seinem Urteil musste das Gericht über den Schutzumfang des Patents entscheiden.
AGA brachte vor, dass die Erfindung eine medizinische Vorrichtung betreffe, die breit gefächerte Verwendungsmöglichkeiten habe und auch zur Behandlung von Septumdefekten des Herzens bestimmt sei. Laut Beschreibung ist der Zweck der Erfindung, "eine zuverlässig wirkende Embolisationsvorrichtung zu schaffen, die sowohl ohne Schwierigkeiten entfaltet als auch präzise in einem Gefäß eingesetzt werden kann". AGA machte geltend, dass das Patent jede kollabierbare Vorrichtung umfasse, die für medizinische Zwecke verwendet werden kann; es sei nicht auf bestimmte Behandlungsarten begrenzt und schließe die Behandlung von Septumdefekten nicht aus. Ferner decke die Erfindung nach Auffassung von AGA auch Vorrichtungen mit nur einer Klemme ab. Occlutech argumentierte, dass der Patentanspruch auf Embolisationsvorrichtungen beschränkt sei.
Das Gericht stellte fest, dass nach § 39 des schwedischen Patentgesetzes der Umfang des Patentschutzes durch die Patentansprüche bestimmt wird. Anhaltspunkte für die Auslegung der Ansprüche bietet die Beschreibung. Im vorliegenden Fall gehe aus der Beschreibung eindeutig hervor, dass die betreffende Vorrichtung eine Embolisationsvorrichtung umfasse. Anhaltspunkte können auch aus anderen Quellen abgeleitet werden, z. B. dem Erteilungsverfahren. So kann die Erwiderung eines Anmelders auf eine amtliche Mitteilung ebenfalls eine bestimmte Auslegung des Patents stützen. Im vorliegenden Fall ist das Erteilungsverfahren vor dem EPA, d. h. das Verfahren bis zur Erteilung des Patents, von Bedeutung für die Auslegung des Merkmals. Während des Prüfungsverfahrens hatte der Anmelder den Patentanspruch mit der folgenden Erklärung geändert: "Um diese Unterscheidung gegenüber dem Stand der Technik klarzustellen, haben wir in Anspruch 1 dennoch das Merkmal aufgenommen, wonach an beiden Enden der Vorrichtung Klemmen zum Zusammenklemmen der Litzen angebracht sind. So wird die Form der Vorrichtung klar umrissen und festgelegt, dass die äußeren Enden nicht hervorstehen können, sondern zusammengezogen sind, um die erforderliche hantelförmige entfaltete Konfiguration zu bilden." Das Bezirksgericht befand, dass dies ganz klar bedeutet, dass die Vorrichtung an beiden Enden eine Klemme aufweisen muss.
Das Bezirksgericht fand keine Anhaltspunkte dafür, dass die Erfindung eine medizinische Vorrichtung betraf, die breit gefächerte Verwendungsmöglichkeiten hat und auch zur Behandlung von Septumdefekten des Herzens bestimmt ist. Aus der Beschreibung des Patents ging klar hervor, dass die betreffende Vorrichtung, wie von Occlutech geltend gemacht, eine Embolisationsvorrichtung umfasste. Andere Analysen standen dem nicht entgegen. Das Bezirksgericht stellte fest, dass die medizinische Vorrichtung im Sinne des Patents eine Embolisationsvorrichtung ist und, dass das Patent nicht verletzt sei.
5. Calcipotriol (EP 0 679 154)
DE – Deutschland
Bundesgerichtshof vom 15. Mai 2012 (X ZR 98/09)- Calcipotriol-Monohydrat
Schlagwort: erfinderische Tätigkeit – angemessene Erfolgserwartung
Die Erfindung betraf Calcipotriol-Monohydrat, eine neue kristalline Form von Calcipotriol. Calcipotriol-Monohydrat weist laut Streitpatent gegenüber dem aus dem Stand der Technik bekannten, wasserfreien Calcipotriol überlegene technische Eigenschaften und überlegene Stabilitätseigenschaften auf.
Nach Ansicht des BGH beruhte das Auffinden und Bereitstellen des Calcipotriol-Monohydrats nicht auf erfinderischer Tätigkeit (Art. 56 EPÜ).
Die Beklagte hatte vorgebracht, dass man weder im Jahr 1993 (Prioitätszeitpunkt) noch heute die Bildung kristalliner Formen und damit auch die Bildung von Hydraten vorhersehen konnte und kann. Nach Ansicht des BGH kommt es jedoch auf die Vorhersehbarkeit bestimmter Ergebnisse für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht notwendigerweise an. Maßgeblich ist, ob der Fachmann aus dem Stand der Technik eine Anregung erhalten hat, dort beschriebene Maßnahmen aufzugreifen und sie auf einen bekannten Stoff anzuwenden. Dabei kann die Überlegung Bedeutung gewinnen, ob sich aus diesen Maßnahmen eine angemessenen Erfolgserwartung für die Lösung des sich stellenden technischen Problems ergab (BGH vom 6. März 2012 – X ZR 50/09; BGH vom 10. September 2009 – Escitalopram; schweiz. Bundesgericht vom 27. März 1995 – Manzana II; EPA T 60/89 vom 1. August 1990 – Fusionsproteine).
Diese Anforderungen waren im Streitfall erfüllt. Aus den im Urteil besprochenen Entgegenhaltungen (betreffend Stoffe, die Calcipotriol strutkurell ähneln) hatte der Fachmann die Anregung erhalten, die dort beschriebenen Maßnahmen – Lösung des Feststoffes in organischem Lösungsmittel unter Zugabe von Wasser – zu ergreifen und auf Calcipotriol anzuwenden; als Ergebnis hätte er Calcipotriol-Monohydrat erhalten. Die Durchführung dieser Maßnahmen wäre im vorliegenden Fall auch mit einer angemessenen Erfolgserwartung verbunden gewesen; auch stellte sich der einzubringende Aufwand – Einsatz von organischem Lösungsmittel und Wasser – in Beziehung zu einem zu erwartenden Ergebnis als verhältnismäßig dar.
IT – Italien
Ordentliches Gericht (Tribunale Ordinario di Torino) vom 11. Februar 2011 (1415/20119 – Sandoz v Leo Pharma – Calcipotriol-Monohydrat
Schlagwort: erfinderische Tätigkeit
In diesem Nichtigkeitsverfahren folgte das Gericht dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz der Beschwerdekammern. Es stellte fest, dass die mit dem streitgegenständlichen Patent zu lösende objektive technische Aufgabe in der geringen Stabilität zu sehen war, die das Calcipotriol in wasserfreier kristalliner Form aufwies, wenn es einem wässrigen Medium ausgesetzt wurde (beispielsweise bei der Herstellung in Creme- oder Gelformulierungen oder in Wasser enthaltenen Medien).
Die beanspruchte Lösung des Problems sollte in der Verwendung einer neuen kristallinen Form der Verbindung, der Monohydratform, bestehen, die der wasserfreien Form gegenüber überlegene Stabilitätseigenschaften aufweise.
Das Patent lehrte diesbezüglich, das Monohydrat durch Auflösen von kristallinem oder nichtkristallinem (amorphem) wasserfreiem Calcipotriol in einem organischen Lösungsmittel unter Zugabe von Wasser und ggf. eines nichtpolaren Lösungsmittels herzustellen.
Das Gericht hielt das Patent für nicht erfinderisch. Es kam zu dem Schluss, dass der Fachmann angesichts des technischen Problems der geringen Stabilität der wasserfreien kristallinen Form eines Vitamin-D3-Analogons wie Calcipotriol dazu veranlasst worden wäre, sich um seine Lösung zu bemühen, indem er nach einer anderen kristallinen Form derselben Substanz sucht. Die technische Aufgabe, nach einer kristallinen Form, die stabiler als die bekannte (wasserfreie) war, zu suchen, hätte vom Fachmann auf der Grundlage des bekannten Stands der Technik gelöst werden können. Die Suche nach stabileren kristallinen Formen habe nämlich für die Pharmaunternehmen zur Routinetätigkeit gehört. Der Fachmann habe gewusst, dass die kristalline Hydratform stabiler als die entsprechende wasserfreie Verbindung sei. Er hätte daher den Stand der Technik, der dem Calcipotriol sehr ähnliche chemische Verbindungen zum Gegenstand hatte und in denen die Verfahren zur Gewinnung der kristallinen Monohydratform beschrieben worden seien, in Betracht gezogen um das technische Problem der geringen Stabilität des wasserfreien Calcipotriols zu lösen.
NL – Niederlande
Berufungsgericht Den Haag vom 9. April 2013 – Sandoz v. Leo Pharma
Schlagwort: erfinderische Tätigkeit – Aufgabe-Lösungs-Ansatz – Fachmann – Erfolgserwartung
In diesem Verletzungsfall wurde die Gültigkeit des Patents von Leo Pharma für eine "Neue kristalline Form einer dem Vitamin D analogen Verbindung" (Arzneimittel zur topischen Behandlung von Psoriasis, das den Wirkstoff "Calcipotriol" enthält) geprüft.
Ausschlaggebend für die Entscheidung war die Frage der erfinderischen Tätigkeit. Obwohl er sich nicht immer eignet, konnte der Aufgabe-Lösungs-Ansatz in diesem Fall zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden. Die Parteien waren sich darin einig, dass der nächstliegende Stand der Technik WO 834 ist, in dem Calcipotriol in kristalliner (Anhydrat-)Form erstmalig beschrieben wurde. Das Gericht definierte die objektive technische Aufgabe wie folgt: Wie kann die Lagerstabilität von Calcipotriol in einer zur therapeutischen Verwendung geeigneten Form gegenüber derjenigen des bekannten Calcipotriol-Anhydrats verbessert werden? Dies entspricht der objektiven technischen Aufgabe, die im italienischen Verfahren formuliert wurde (s. oben). Das deutsche Gericht ermittelte eine zweiteilige Aufgabe, bei der ein Teil die Verbesserung der Lagerstabilität war (s. oben).
Das Berufungsgericht prüfte, ob es für den Durchschnittsfachmann zum Prioritätszeitpunkt (15. Januar 1993) angesichts des in WO 834 offenbarten kristallinen Calcipotriol-Anhydrats naheliegend war, nach einer kristallinen Form von Calcipotriol zu suchen, die zur therapeutischen Verwendung geeignet und bei der Lagerung stabiler ist (d. h. sich weniger stark zersetzt) als das Anhydrat, und ob er dabei auf Calcipotriol-Monohydrat gestoßen wäre.
Das Gericht befand, dass das Patent aus den folgenden Gründen nicht erfinderisch ist:
Der Fachmann auf dem Gebiet der Vitamin-D-Derivate ist ein Team, das aus einem mit topischen Formulierungen erfahrenen Formulierungsexperten und einem Experten für analytische Arzneimittelchemie besteht.
Anfang der 1990er-Jahre war dieser Fachmann in einem Umfeld tätig, in dem die Bedeutung der Suche nach (Pseudo-)Polymorphen von Wirkstoffen bei der Arzneimittelentwicklung bekannt war. Der Fachmann wusste, dass sich die Polymorphie auf die Eigenschaften eines Wirkstoffs, einschließlich seiner Bioverfügbarkeit sowie seiner (unterschiedlichen Formen von) Stabilität auswirkt. Ob Anfang 1993 eine umfassende Studie der Polymorphie zum Standardverfahren (insbesondere in Bezug auf Vitamin-D-Derivate) gehörte, ist hier unerheblich. Wichtig ist, dass der Fachmann mit der Forschung zur Polymorphie und deren Bedeutung vertraut war.
Das Gericht stellte fest, dass der Fachmann nach anderen kristallinen Formen von Calcipotriol mit potenziell besserer Lagerstabilität gesucht hätte.
Die Tatsache, dass – wie Leo Pharma vorgebracht hat – der Ausgang eines solchen Polymorphietests nicht theoretisch vorhersehbar ist, hätte den Fachmann nicht von der Durchführung solcher Tests abgehalten, zumal die Tests einfach und relativ billig sind. Aus WO 834 war bereits bekannt, dass Calcipotriol kristallisiert werden kann, und der Fachmann wusste, dass ein Monohydrat aus den drei im Stand der Technik beschriebenen, dem Vitamin D analogen und in ihrer Struktur dem Calcipotriol ähnlichen Verbindungen gebildet werden kann, und dass dies sehr einfach durchzuführen ist. Die Erfolgsaussichten waren für den Fachmann ausreichend, um mit den Tests zu beginnen. Der Fachmann hätte deshalb zum Prioritätszeitpunkt Calcipotriol-Monohydrat herstellen können.
SE – Schweden
Bezirksgericht Stockholm vom 20. Mai 2011 – Leo v. Sandoz
Schlagwort: Erfinderische Tätigkeit – Neuheit
Leo ist Inhaberin des europäischen Patents Nr. 0 679 154. Sandoz hatte vorgebracht, dass dieses Patent wegen mangelnder Neuheit und mangelnder erfinderischer Tätigkeit nichtig sei. Bezüglich der Neuheit gegenüber dem "Aknepatent" (WO 91/12 807 A) und dem "Basispatent" (EP 0 227 826 B) hatte Sandoz vorgetragen, dass der Fachmann bei der Ausführung der Lehre des "Aknepatents" zwangsläufig zu einer Zusammensetzung gelangen würde, die Calcipotriol-Monohydrat enthalte. Das Gericht erklärte, dies würde voraussetzen, dass die wasserfreie Form von Calcipotriol anhand anderer Verfahren als den zum Zeitpunkt der Einreichung des "Aknepatents" (1991) bekannten hergestellt würde. Zudem gehe aus den Aussagen der Sachverständigen hervor, dass es nach der Entdeckung und Reproduktion einer bestimmten Kristallform praktisch unmöglich sei, eine Kontamination durch Keime dieser neuen Kristallform zu verhindern. Somit könne nicht ausgeschlossen werden, dass die in den Vergleichsversuchen verwendete wasserfreie Form durch Kristallkeime des Monohydrats kontaminiert gewesen sei.
Bezüglich der erfinderischen Tätigkeit legte das Gericht als Stand der Technik die aus dem "Basispatent" bekannte wasserfreie Calcipotriol-Form zugrunde. Die in der Anmeldung beschriebene Aufgabe betreffe die Notwendigkeit, die Kristallgröße mittels eines Kugelmühlen-Feuchtmahlverfahrens zu kontrollieren. Laut der Beschreibung habe sich das Feuchtmahlverfahren bei Verwendung der im "Basispatent" beschriebenen wasserfreien Kristallform als schwierig erwiesen. Die Schwierigkeiten rührten zum einen daher, dass die Kristalle schwer zu befeuchten seien, und zum anderen daher, dass sie während des Mahlprozesses einen stabilen Schaum entwickelten, was die Erzielung einer geeigneten, kleinen und einheitlichen Partikelgröße erschwere. Die für die Formulierung der Aufgabe relevanten Unterschiede zwischen der wasserfreien Form und dem Monohydrat beträfen also die Eigenschaften beim Feuchtmahlen. Diese seien im Fall des Monohydrats günstiger, weil sich die Kristalle leichter befeuchten ließen und sich während des Mahlens kein stabiler Schaum bilde, sodass die Kristallgröße kontrolliert werden könne. Vor diesem Hintergrund müsse die objektive technische Aufgabe wie folgt formuliert werden: Bereitstellung einer Calcipotriolsuspension, die zur Verwendung in pharmazeutischen Zusammensetzungen für die Herstellung von Cremes und Gelen geeignet ist.
Die Lösung dieser Aufgabe bestehe in der Verwendung des Monohydrats von Calcipotriol, dessen Kristallform eine Kontrolle der Partikelgröße durch Feuchtmahlen erlaube. Die nächste Frage sei, ob der Stand der Technik am Prioritätstag den Fachmann veranlasst hätte, diese Aufgabe durch die Herstellung von Calcipotriol-Monohydrat zu lösen. Anders ausgedrückt, ob es im Stand der Technik einen Anreiz für den Fachmann gegeben hätte, der ihn zu dieser Lösung der Aufgabe geführt hätte, bzw. ob es für den Fachmann in Anbetracht des Stands der Technik naheliegend gewesen wäre, zu versuchen, Calcipotriol-Monohydrat herzustellen, um die Aufgabe zu lösen? Aus Sicht des Gerichts war dies nicht der Fall.
Das Gericht erklärte, das Streitpatent ziele darauf ab, ein spezielles Problem der Schaumbildung einer Kristallsuspension von Calcipotriol zu lösen, und im Stand der Technik habe es keinen Hinweis darauf gegeben, dass sich dies durch Herstellung eines Monohydrats erreichen lasse. Das Gericht war nicht der Meinung, dass der Fachmann – z. B. zur Verbesserung der Stabilität der wasserfreien Form oder wegen der Schaumbildung während des Kugelmühlen-Feuchtmahlverfahrens mit einer wässrigen Mahlflüssigkeit – ohnehin untersucht hätte, ob Calcipotriol ein Monohydrat bilde. Das Gericht erachtete auch die Möglichkeit der spontanen Bildung eines Calcipotriolhydrats in einer (wässrigen) Suspensionscreme, die nach Aussage von Sandoz aus thermodynamischen Gründen zwangsläufig auftrete, nicht als ausreichende Motivation für den Fachmann, zu untersuchen, ob sich Hydrate bilden könnten oder nicht. Sandoz hatte mehrere Dokumente für die drei Vitamin-D-Analoga angeführt, bei denen das Monohydrat die einzige stabile Kristallform sei. Das Gericht befand jedoch, dass die Kristalleigenschaften ähnlicher Stoffe keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Kristalleigenschaften eines konkreten Stoffs – im vorliegenden Fall die Benetzbarkeit – zuließen. Der Fachmann hätte diesen Dokumenten also keine entsprechenden Hinweise entnommen. Anstatt nach neuen Kristallformen von Calcipotriol zu suchen, hätte er versucht, die Bedingungen für das Feuchtmahlverfahren zu ändern.
6. St Gobain/Knauf (EP 0 399 320)
BE – Belgien
Berufungsgericht Lüttich vom 19. September 2013 (2011/RG/1503) – Saint-Gobain v. Knauf
Schlagwort: Schutzbereich – Auslegung von Ansprüchen
Die Firma Saint-Gobain ist Inhaberin des europäischen Patents 0 399 320. Der streitige Patentanspruch betrifft die Verwendung von Glasfasern.
Das Gericht verweist auf die Verfahren vor französischen Gerichten; insbesondere habe das TGI Paris die Klage von Saint-Gobain Isover als unzulässig verworfen und die von Knauf beantragte Nichtigerklärung abgelehnt (in diesem Punkt wurde das Urteil durch Entscheidung des Berufungsgerichts Paris vom 16. Mai 2014 geändert, s. nächste Zusammenfassung).
Die ursprünglich eingereichte Fassung der Patentanmeldung – insbesondere von Anspruch 1 – wurde im Laufe des Erteilungsverfahrens mehrfach geändert, bis die endgültige Fassung feststand, die Knauf entgegengehalten wurde. Das Berufungsgericht stellt fest: Wenn Firmen wie Saint-Gobain im Laufe des Verfahrens von sich aus beschließen, Änderungen in einem Patentanspruch vorzunehmen, so muss diesen Änderungen ihr gesamter Bedeutungsumfang zukommen.
Saint-Gobain behauptet, dass der Fachmann, wenn er die exakte Bedeutung des Begriffs "Durchmesser" einer Population von Fasern in Anspruch 1 zu klären hätte, diesen Begriff technisch richtig als "mittleren Durchmesser" verstehen würde, da ein Anspruch grundsätzlich niemals eng oder wortwörtlich, sondern immer anhand der Beschreibung und der Zeichnungen auszulegen sei. Der Appellationshof stellt jedoch fest, dass Saint-Gobain damit eine Auslegung von Anspruch 1 ihres Patents vertritt, die darauf hinausläuft, die von ihr selbst vorgenommene Änderung geflissentlich zu übergehen, indem sie sich für die implizite Wiederaufnahme des Begriffs "mittleren" stark macht, den sie im Laufe des Verfahrens vor dem EPA gestrichen hatte, während sie den Begriff "mittleren" in Anspruch 2 beibehalten hatte.
Durch die Streichung des Begriffs "mittleren" in Anspruch 1 des Patents wurde der Schutzbereich eingeschränkt. Es kann nicht zugelassen werden, dass Saint-Gobain unter dem Deckmantel der Anspruchsauslegung zurückrudert, um den Schutzbereich wiederzuerlangen, den sie aus freien Stücken aufgegeben hat. Bei dieser Auslegung von Anspruch 1 wird nicht "entfaltet", was darin bereits im Ansatz enthalten war, sondern versucht, durch eine Änderung zum vorherigen Zustand und zum weiteren Schutzbereich zurückzukehren; dies ist nach Art. 123 (3) EPÜ ausdrücklich untersagt.
Im Rahmen der Prüfung der Patentverletzung stellt das Berufungsgericht klar, dass die Äquivalenzlehre nicht dazu verwendet werden darf, das wiederzuerlangen, worauf der Patentinhaber im Patenterteilungsverfahren selbst verzichtet hat.
FR – Frankreich
Berufungsgericht Paris vom 16. Mai 2014 (12/06678) – Knauf v. St Gobain
Schlagwort: Glasfasern – Nichtigkeit des europäischen Patents – unzureichende Beschreibung – Erweiterung des Gegenstands
Das Gericht erklärte, dass Saint-Gobain in Belgien und Deutschland Verletzungsverfahren gegen Knauf angestrengt habe und es sich im vorliegenden Fall um die Verletzungsklage bezüglich Anspruch 1 des französischen Teils des europäischen Patents Nr. 0 399 320 handle.
Das Patent trägt die Bezeichnung "Glasfasern mit erhöhter biologischer Verträglichkeit". Das Gericht zeigte zunächst ausführlich auf, wie sich der Kenntnisstand über die karzinogenen Eigenschaften von Asbest entwickelt hat, und erklärte, die Persistenz in der Lunge sei von der Zusammensetzung und der Größe der Staubfasern abhängig.
Unter dem "Fachmann" war ein Team aus einem Chemiker mit guten Kenntnissen auf dem Gebiet der Mineralwollefasern und einem Pathologen/Toxikologen zu verstehen.
Das Gericht erklärte, dass der Fachmann nicht wisse, ob es zweckmäßiger sei, Fasern mit einem geringeren Durchmesser zu verwenden, wie es in der Beschreibung ausdrücklich angegeben sei, oder Fasern mit einem größeren Durchmesser, worauf die Eigenschaften hindeuteten, die den Fasern in den Ansprüchen 1 und 2 zugeschrieben würden. Bezüglich des Durchmessers der Fasern bestehe eine Unstimmigkeit. Außerdem seien die Ausdrücke "die kein karzinogenes Potenzial haben" oder "die keine karzinogenen Eigenschaften aufweisen", bei denen es sich um funktionelle Definitionen der Erfindung handle, nicht hinreichend definiert, weil das Patent keine Definition dazu enthalte und auf keinerlei Norm hinweise. Die im Patent beschriebenen Tests lägen außerhalb seines Gebiets. Schließlich erklärte das Gericht, dass alle Lehren des Patents für sich genommen die Erfindung nicht so deutlich und vollständig offenbarten, dass sie von einem Fachmann ausgeführt werden könnte.
Knauf warf Saint Gobain Erweiterungen der ursprünglichen Anmeldung vor und insbesondere die Aufnahme nur eines Teils des Anspruchs 3 aus der ursprünglich eingereichten Fassung in Anspruch 1 sowie die Streichung des Verweises auf den mittleren Durchmesser der Fasern. Bezüglich der teilweisen Aufnahme des Anspruchs 3 machte Saint Gobain daraufhin geltend, dass die Änderung im Verfahren vor der Einspruchsabteilung vorgenommen worden sei; dort sei sie akzeptiert worden, weil sie nicht gegen Art. 123 EPÜ verstoße. Das Gericht befand, dass die als wesentlich dargestellten Merkmale erheblich verändert worden seien. Der Fachmann könne nicht erkennen, dass in der Patentanmeldung eine Korrelation zwischen der Zusammensetzung und dem mittleren Durchmesser der Fasern bestand, und es hätte ihn nichts dazu angeregt, die Fasern und ihren Durchmesser zu kombinieren.
Nach der Prüfung des Vorgebrachten hob das Gericht das Urteil des Landgerichts Paris vom 11. Dezember 2011 auf und erklärte das europäische Patent Nr. 0 399 320 wegen unzulässiger Erweiterung und unzureichender Beschreibung für nichtig.