BERICHTE NATIONALER RICHTER
NL Niederlande
NL Niederlande - Rian KALDEN - Vizepräsident, District Court, Den Haag - Mundipharma Pharmaceuticals gegen Sandoz/Zulässigkeit eines Disclaimers1 - Mundipharma Pharmaceuticals B.V. gegen Sandoz B.V., Aufnahme/Zulässigkeit eines Disclaimers - Gericht Den Haag, Niederlande, 7. April 2010, Rechtssache 340373/09-2029
Sachverhalt
Das strittige Patent betrifft Rezepturen für die kontrollierte Freisetzung von Oxycodon, eines Schmerzmittels. Die kontrollierte Freisetzung erfolgt über eine Matrix zur kontrollierten Freisetzung oder einen die Wirkstofffreisetzung kontrollierenden Überzug. Das Patent beruhte auf einer Teilanmeldung. Die Stammanmeldung beanspruchte eine Acrylharzmatrix zur kontrollierten Wirkstofffreigabe als bevorzugte Ausführungsform. Um sich von der Stammanmeldung zu unterscheiden und eine doppelte Patenterteilung zu vermeiden, enthält das strittige Patent einen Anspruch, der eine Dosierungsmatrix für eine kontrollierte Freisetzung umfasst, bei der es sich nicht um eine Acrylharzmatrix handelt.
Stellungnahme des Beklagten
Die Gültigkeit dieses Anspruchs wurde angefochten, da er eine Erweiterung enthalte. Der Beklagte behauptete, dass der Disclaimer als solcher in der eingereichten Anmeldung nicht offenbart wurde, da – ganz im Gegenteil – die ausgeschlossene Ausführungsform als Teil der Erfindung in der Anmeldung enthalten war (auch als "positive" Offenbarung bezeichnet) – sogar als bevorzugte Ausführungsform – und nicht als etwas, das auszuschließen ist ("negative" Offenbarung).
Deshalb müsse der Disclaimer im Sinne der Entscheidung G 1/03 als nicht offenbarter Disclaimer betrachtet werden. Der Disclaimer falle nicht unter die in der Entscheidung G 1/03 der Großen Beschwerdekammer genannten Kriterien. Die in G 1/03 als zulässig eingestuften Disclaimer seien solche, die den Kriterien nach Art. 54 Absatz 3 und Absatz 4 (Stand der Technik), Art. 54 Absatz 2 (zufällige Offenbarung und Nichtpatentfähigkeit aus nichttechnischen Gründen), entsprechen. Die Entscheidung G 1/03 gehe nicht auf die Verhinderung der doppelten Patentierung ein.
Ferner wurde angeführt, dass der Disclaimer eine technische Bedeutung habe, da er die Verwendung einer Acrylharzmatrix ausschließt, während bei der eingereichten Anmeldung eine Acrylharzmatrix zu bevorzugen ist.
Rechtslage
Unter den Technischen Beschwerdekammern gibt es unterschiedliche Auffassungen zur Auslegung der Entscheidung G 1/03. Die Frage, bei der die Meinung der Mitglieder der Kammern auseinandergeht, ist die, ob ein Disclaimer, der einen Gegenstand ausschließt, der als Teil der Erfindung in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart wird (als "positiv offenbart" bezeichnet), als nicht offenbarter Disclaimer, auf den G 1/03 zutrifft, zu betrachten ist.
Entscheidung
Das Gericht in Den Haag vertritt die Auffassung, dass es sich nur dann um einen "nicht offenbarten Disclaimer" im Sinne der Entscheidung G 1/03 handeln kann, wenn weder der Disclaimer noch der Gegenstand des Disclaimers (d. h. der ausgeschlossene Gegenstand) aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar ist. Anders ausgedrückt bedeutet das: Der Disclaimer gilt nur dann als "nicht offenbart", wenn der Gegenstand des Disclaimers weder im positiven noch im negativen Sinne in der ursprünglichen Anmeldung offenbart wurde.
Die Gründe für diese Entscheidung entsprechen mehr oder weniger den Begründungen der Entscheidungen T 1107/06 und T 1139/00:
Die Große Beschwerdekammer befasste sich in der Entscheidung G 1/03 mit der Thematik der Disclaimer im Rahmen der ihr gestellten Fragen. Die Vorlagen an die Kammer, die zur Entscheidung G 1/03 geführt haben, sind erfolgt, nachdem festgestellt wurde, dass aus der Anmeldung in der eingereichten Fassung kein Disclaimer herleitbar ist – weder im positiven Sinne, d. h. als eine Ausführungsform der Erfindung, noch im negativen Sinne als ein in der Erfindung ausgeschlossenes Merkmal.
Diese Feststellung ist im Wortlaut der ersten Antwort der Entscheidung G 1/03 wiederzufinden, die sich eng an die Fragestellung anlehnt:
Ein Disclaimer kann nicht schon deshalb abgelehnt werden, weil weder der Disclaimer noch der durch ihn aus dem beanspruchten Bereich ausgeschlossene Gegenstand aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar ist.
Das Gericht in Den Haag erkennt durchaus an, dass die Aufnahme eines Disclaimers in einen Anspruch – dessen Gegenstand vorher positiv offenbart wurde – die technische Lehre der Anmeldung ändern und somit eine Verletzung von Artikel 123 Absatz 2 darstellen kann. In seiner Entscheidung ging das Gericht davon aus, dass der Fachkundige im vorliegenden Fall erkennt, dass der Gegenstand ausgeschlossen wird, da er in der Stammanmeldung enthalten ist, zu der dieses Patent als Teilpatent gehört. Somit beruhe der Disclaimer auf rein rechtlichen Gründen und stelle keine Änderung der technischen Merkmale des Patents in der eingereichten Fassung dar. Folglich könne auch weder geschlussfolgert werden, dass der Patentinhaber durch die Aufnahme des Disclaimers einen ungerechtfertigten Vorteil erlangt, noch dass die Interessen Dritter beeinträchtigt werden. Somit liege keine Verletzung von Artikel 123 Absatz 2 vor.
Parallelverfahren
Das Berufungsgericht des Vereinigten Königreichs gelangte in einem parallelen Verfahren zu ähnlichen Schlussfolgerungen, wenn diese auch auf einer leicht abweichenden Beweisführung beruhen.
In der vom Gericht in Den Haag entschiedenen Rechtssache war ferner ein Einspruchsbeschwerdeverfahren vor dem EPA in München anhängig. Von diesem wurde ein Antrag, die Frage der Großen Kammer vorzulegen, ob ein Disclaimer zur Abgrenzung des Gegenstands einer Teilanmeldung vom Gegenstand einer Stammanmeldung zulässig ist, abschlägig entschieden.
Vorlage an die Große Beschwerdekammer
Erst unlängst hat eine Technische Beschwerdekammer die Frage, ob ein Disclaimer eine Verletzung von Artikel 123 Absatz 2 EPÜ darstellt, wenn sein Gegenstand als eine Ausführungsform der Erfindung in der eingereichten Anmeldung offenbart wurde, an die Große Beschwerdekammer verwiesen. Der Entscheidung zur Rechtssache G 2/10 sehen wir mit großem Interesse entgegen.
1 Veröffentlicht in Niederländisch und in einer (nicht amtlichen) englischen Übersetzung auf www.eplawpatentblog.com.