ERÖFFNUNG DES SYMPOSIUMS UND BEGRÜßUNGSANSPRACHEN
Peter MESSERLI
Vizepräsident GD 3
Ihre Exzellenz, sehr geehrter Herr Präsident des Obersten Gerichtshofs, sehr geehrte Damen und Herren,
in meiner Eigenschaft als Vizepräsident, der für die Generaldirektion "Beschwerde" des Europäischen Patentamts zuständig ist, möchte ich Sie ganz herzlich zu diesem Symposium begrüßen. Uns erwartet ein sehr interessantes Programm, und wir können uns auf die Zusammenarbeit in den nächsten Tagen freuen, die sicher für jeden von uns bereichernd sein wird. Als Überleitung von dieser Eröffnung zum Arbeitsprogramm möchte ich kurz darauf eingehen, was sich seit dem letzten Richtersymposium bei den Beschwerdekammern getan hat.
Lassen Sie mich mit einigen Zahlen beginnen.
Im Jahr 2009 verzeichneten die (mittlerweile 28) Beschwerdekammern 2 503 Verfahrenseingänge, was einer Zunahme um 3,4 % gegenüber dem Vorjahr entspricht; erledigt wurden 1 939 Beschwerden - eine Steigerung um 7,0 % gegenüber 2008.
In diesem Jahr wurden die Beschwerdekammern bis Ende Juli mit 1 632 neuen Fällen befasst, und sie schlossen 1 141 Fälle ab. Diese Beschwerdezahlen deuten darauf hin, dass sich die Wirtschaftskrise bislang noch nicht auf die Tätigkeit der Beschwerdekammern niedergeschlagen hat. Die hohe Zahl der Verfahrenseingänge ist aber auch durch die zahlreichen Zurückweisungen von Anmeldungen im Bereich der computerimplementierten Erfindungen bedingt.
Nun möchte ich mich der Großen Beschwerdekammer zuwenden, die mit dem Inkrafttreten des EPÜ 2000 eine neue Aufgabe übernommen hat und nun auch über Anträge auf Überprüfung entscheidet. Das neue Verfahren erlaubt den Beteiligten, einen solchen Antrag an die Große Beschwerdekammer zu richten, wenn ein schwerwiegender Verfahrensmangel vorliegt oder eine Straftat die Entscheidung einer Beschwerdekammer beeinflusst haben könnte. Seit der Einführung des Verfahrens Ende 2007 sind insgesamt 45 derartige Anträge eingegangen; in den meisten davon wird ein schwerwiegender Verstoß gegen das rechtliche Gehör geltend gemacht. Verglichen mit der großen Zahl von über 4 000 Entscheidungen, die die Beschwerdekammern in diesem Zeitraum erlassen haben, sind 45 Anträge relativ wenig - und dies sehe ich als Zeichen für die hohe Qualität der Entscheidungen der Beschwerdekammern.
In der überwiegenden Mehrzahl der - inzwischen 31 - erledigten Fälle wurden die Anträge auf Überprüfung als offensichtlich unzulässig oder unbegründet verworfen. In einer Sache aber (R 7/09) befand die Große Beschwerdekammer den Antrag für zulässig. Sie stellte einen schwerwiegenden Verstoß gegen Artikel 113 EPÜ fest, da die Beschwerdebegründung dem Antragsteller nicht übermittelt worden war und dieser somit keine Möglichkeit hatte, zu den Gründen der Entscheidung Stellung zu nehmen, die Gegenstand der Überprüfung war.
Wie Sie wissen, ist die Kerntätigkeit der Großen Beschwerdekammer die Entscheidung von Vorlagefragen zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt. Solche Fragen können von den Beschwerdekammern oder, im Falle abweichender Rechtsprechung der Beschwerdekammern, vom Präsidenten des EPA vorgelegt werden. Im Jahr 2008 hat die Große Beschwerdekammer eine Entscheidung erlassen und im Jahr 2009 nur zwei Zwischenentscheidungen in Verfahrensfragen. Dieses Jahr dagegen sind schon vier Entscheidungen ergangen.
Im Folgenden möchte ich die Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer über Vorlagefragen aus den letzten beiden Jahren kurz zusammenfassen. Auf diese Entscheidungen werde ich nur knapp eingehen, weil die meisten davon im späteren Verlauf dieses Symposiums ausführlicher behandelt werden.
Drei Entscheidungen - G 2/06, G 1/07 und G 2/08 - betreffen Patentierungsausschlüsse im Bereich von Biotechnologie und Medizin. Im Jahr 2008 entschied die Große Beschwerdekammer in G 2/06 (ABl. EPA 2009, 306) zum Thema Stammzellen, dass Regel 28 c) EPÜ die Patentierung von Ansprüchen auf Erzeugnisse verbietet, die - wie in der Anmeldung beschrieben - zum Anmeldezeitpunkt ausschließlich durch ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig mit der Zerstörung der menschlichen Embryonen einhergeht, aus denen die Erzeugnisse gewonnen werden, selbst wenn dieses Verfahren nicht Teil der Ansprüche ist. Auch befand sie, dass es nicht relevant ist, dass nach dem Anmeldetag dieselben Erzeugnisse auch ohne Rückgriff auf ein Verfahren hergestellt werden konnten, das zwangsläufig mit der Zerstörung menschlicher Embryonen einhergeht. Zudem wies die Große Beschwerdekammer in dieser Entscheidung den Antrag, dem Europäischen Gerichtshof die besagten Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, als unzulässig zurück.
G 1/07 betrifft den Ausschluss von Verfahren zur chirurgischen Behandlung von der Patentierbarkeit. Die Große Beschwerdekammer entschied unter anderem, dass ein Verfahren, bei dessen Durchführung die Erhaltung des Lebens und der Gesundheit des menschlichen oder tierischen Körpers von Bedeutung ist und das einen invasiven Schritt aufweist oder umfasst, der einen erheblichen physischen Eingriff am Körper darstellt, dessen Durchführung medizinische Fachkenntnisse erfordert und der mit einem wesentlichen Gesundheitsrisiko verbunden ist, als ein Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers nach Artikel 53 c) EPÜ vom Patentschutz auszuschließen ist.
In G 2/08 geht es um die Verwendung eines bekannten Arzneimittels bei der Behandlung einer bestimmten Krankheit. Die Große Beschwerdekammer befand, dass Artikel 54 (5) EPÜ nicht ausschließt, dass ein Arzneimittel, dessen Verwendung bei der Behandlung einer Krankheit bereits bekannt ist, zur Verwendung bei einer anderen therapeutischen Behandlung derselben Krankheit patentiert wird. Die Patentierbarkeit ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn das einzige nicht im Stand der Technik enthaltene Anspruchsmerkmal eine Dosierungsanleitung ist. Außerdem kann nach Artikel 54 (5) EPÜ nun zweckgebundener Stoffschutz für jede weitere spezifische Anwendung eines bekannten Arzneimittels in einem Verfahren zur therapeutischen Behandlung gewährt werden. Vor diesem Hintergrund entschied die Große Beschwerdekammer, dass entsprechende Ansprüche jetzt nicht mehr in der sogenannten schweizerischen Anspruchsform abgefasst werden dürfen.
Unter dem Aktenzeichen G 3/08 hat die Amtspräsidentin der Großen Beschwerdekammer verschiedene Fragen vorgelegt, die das Patentierungsverbot von Computerprogrammen als solchen betreffen. Diese Vorlage befand die Große Beschwerdekammer für unzulässig. Zu einer der Fragen stellte sie zwar unter anderem fest, dass in der Frage, ob ein Anspruch für ein Programm auf einem computerlesbaren Medium zwingend unter das Patentierungsverbot fällt, zwischen zwei Entscheidungen der Beschwerdekammern Divergenzen bestehen, dies jedoch auf einer legitimen Weiterentwicklung der Rechtsprechung beruht und keine Abweichung begründet, die eine Vorlage rechtfertigen würde.
Schließlich entschied die Große Beschwerdekammer in G 4/08 wie folgt: Wenn eine internationale Patentanmeldung nach dem PCT in einer Amtssprache des EPA eingereicht und veröffentlicht wurde, ist es nicht möglich, beim Eintritt in die europäische Phase eine Übersetzung der Anmeldung in eine der beiden anderen Amtssprachen des EPA einzureichen, die dann zur Verfahrenssprache wird.
Derzeit sind vor der Großen Beschwerdekammer fünf Vorlagefragen anhängig.
G 2/07 betrifft ein nicht mikrobiologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen, das die Schritte der Kreuzung und Selektion von Pflanzen umfasst, und in diesem Zusammenhang die Frage, ob ein solches Verfahren dem Patentierungsverbot von im Wesentlichen biologischen Verfahren entgeht, nur weil es als weiteren Schritt oder als Teil eines der Schritte der Kreuzung und Selektion ein zusätzliches technisches Merkmal enthält. Dieses Verfahren wurde mit G 1/08 verbunden, das sich praktisch mit demselben Thema befasst. Landläufig werden die beiden Fälle mitunter als Broccoli- bzw. Tomatenfall bezeichnet.
Im Juli dieses Jahres fand eine mündliche Verhandlung statt, und es ist davon auszugehen, dass die Entscheidung noch vor Jahresende ergehen wird.
Im Jahr 2009 legte die Juristische Beschwerdekammer der Großen Beschwerdekammer die folgende Frage vor, die nun als G 1/09 anhängig ist: Ist eine Anmeldung nach einer Zurückweisungsentscheidung einer Prüfungsabteilung noch bis zum Ablauf der Beschwerdefrist anhängig, wenn keine Beschwerde eingelegt worden ist? Der Ausgang dieser Sache ist für die Frage relevant, bis wann eine Teilanmeldung eingereicht werden kann.
G 1/10 betrifft den Antrag eines Patentinhabers auf Berichtigung des Erteilungsbeschlusses. Dabei geht es hauptsächlich um die Frage, ob ein derartiger Antrag zulässig ist, wenn er erst nach Einleitung des Einspruchsverfahrens gestellt wurde.
Die bislang letzte Frage, die der Großen Beschwerdekammer vorgelegt wurde, betrifft Disclaimer. In G 2/10 fragt eine Technische Beschwerdekammer, ob ein Disclaimer eine Verletzung von Artikel 123 (2) EPÜ darstellt, wenn sein Gegenstand als eine Ausführungsform der Erfindung in der eingereichten Anmeldung offenbart wurde.
Nun möchte ich mich ganz kurz einem eher praktischen Thema zuwenden, das ich bereits auf früheren Symposien angesprochen habe, nämlich der Möglichkeit nicht nur für Beteiligte, sondern auch für nationale Gerichte, vor denen Patentverletzungs- oder Nichtigkeitsverfahren anhängig sind, eine Beschleunigung des Verfahrens vor den Beschwerdekammern oder den Einspruchsabteilungen zu beantragen. Von dieser Möglichkeit wird bislang nur selten Gebrauch gemacht, und deshalb möchte ich Sie nochmals daran erinnern. Die Beschwerdekammern sind für solche Anträge recht offen, und ich halte mein Angebot aufrecht: Wenn Sie nicht genau wissen, vor welcher Kammer Ihre Sache anhängig ist, können Sie diesen Antrag an mich richten, und ich werde ihn an die zuständige Kammer bzw. - im Falle von Einspruchsverfahren - an die zuständige Generaldirektion des EPA weiterleiten.
Nichts Neues ist bei einem anderen Thema zu vermelden, auf das ich ebenfalls schon auf früheren Symposien verwiesen habe, nämlich beim Projekt der organisatorischen Verselbstständigung und der Herauslösung der Beschwerdekammern aus dem Europäischen Patentamt. Die Umsetzung dieses Projekts macht eine Änderung des EPÜ und damit eine Diplomatische Konferenz erforderlich, und eine solche Diplomatische Konferenz scheint in allernächster Zukunft nicht in Sicht.
Lassen Sie mich meine Ausführungen mit einigen Worten zu den neuesten Informationsprodukten der GD 3 "Beschwerde" des EPA abschließen. Vor Kurzem wurde die 6. Auflage unseres Werks "Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts" in den drei Amtssprachen des EPA veröffentlicht, das einen umfassenden und systematischen Überblick über die Rechtsprechung der Beschwerdekammern gibt. Es umfasst die bis Ende 2009 ergangenen Entscheidungen und die wichtigsten Entscheidungen aus den ersten beiden Monaten des Jahres 2010, und ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir Ihnen allen in Kürze ein Exemplar zusenden werden. Neben dieser Veröffentlichung ist die jährliche Sonderausgabe "Rechtsprechung" des Amtsblatts des EPA zu nennen, die Zusammenfassungen ausgewählter Entscheidungen der Beschwerdekammern aus dem letzten und auch dem laufenden Jahr enthält und alle auf dem Laufenden hält, die die Entwicklungen in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern regelmäßig verfolgen möchten. Die diesjährige Sonderausgabe erscheint im Oktober.
Neben diesen Papierveröffentlichungen möchte ich auf unsere DVD-Reihe ESPACE® LEGAL verweisen, die zweimal jährlich aktualisiert wird und alle seit 1979 ergangenen Entscheidungen umfasst. Nicht zu vergessen ist auch die Website des EPA (www.epo.org), wo Sie alle Entscheidungen kostenlos finden.
Ihre Exzellenz, sehr geehrter Herr Präsident des Obersten Gerichtshofs, sehr geehrte Damen und Herren, damit bin ich am Ende angelangt. Ich möchte Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit danken und Sie alle einladen, an den lebhaften Diskussionen der nächsten Tage teilzunehmen.