BERICHTE NATIONALER RICHTER
IT Italien
IT Italien - Gabriella MUSCOLO - Richterin an der Fachkammer für geistiges Eigentum des Gerichts Rom - Jüngste Entwicklungen in der italienischen Rechtsprechung
A. Leitsatz
Parteien: Farmaprof s.r.l. und Bormioli Rocco e Figli s.p.a. gegen General Plastics s.r.l.
Gericht: Gericht Rom – Tribunale di Roma
Urteilsdatum: 9. September 2004
Amtlicher Urteilstitel: Sentenza del Tribunale di Roma, 9 settembre 2004
Wesentliche Ergebnisse:
1. Bei der Auslegung der Ansprüche und Beschreibung eines Patents kann Artikel 1362 ff. des italienischen Zivilgesetzbuches (d. h. die Bestimmungen über die Vertragsauslegung) nicht analog angewandt werden, vielmehr sind die Bestimmungen des Wettbewerbsrechts in Anwendung zu bringen, indem die Interessen der Erfinder denen der Wettbewerber gegenübergestellt werden, die die Grenzen des jeweiligen Rechts kennen müssen, wenn sie in der Branche rechtmäßig agieren wollen.
2. Die Frage nach dem Umfang der Ansprüche ist im Zusammenhang mit der Auslegung des Patents zu sehen, und die dafür relevanten Aussagen (die die Ansprüche einschränken können) sind der im Patentamt vorliegenden Patentschrift zu entnehmen, und diese sind zu berücksichtigen, auch wenn sie erklärenden Charakter haben.
3. Das US-amerikanische "prosecution history estoppel" ist auf das italienische oder die europäischen Patentsysteme nicht anwendbar, da die Patente nach den Bestimmungen des Europäischen Patentübereinkommens und seines Protokolls auszulegen sind.
4. Wie bei Verträgen sieht die Abtrennbarkeitsregel eine Patentauslegung vor, die dem Neuheitscharakter der beanspruchten Erfindung den Vorzug gegenüber dem Stand der Technik einräumen kann.
5. Bei der Prüfung, ob zwei Erfindungen identisch sind, wird zunächst untersucht, ob die funktionellen und strukturellen Elemente der beiden Erfindungen hinsichtlich der Lösung des technischen Problems übereinstimmen: Es liegt keine Verletzung vor, wenn mit der zweiten Erfindung ein anderes Problem als bei der ersten Erfindung gelöst wird.
6. Eine äquivalente Verletzung liegt vor, wenn der angebliche Patentverletzer das gleiche technische Problem löst, das mit der patentierten Erfindung gelöst wird und dabei funktionelle oder strukturelle Änderungen vornimmt, die für einen Durchschnittsfachmann offenkundig sind.
7. Bei einer abhängigen Erfindung handelt es sich um die Lösung eines technischen Problems, die aus der Erfindung folgt, von der sie abhängig ist.
8. Die Höhe des Schadenersatzes wegen unrechtmäßiger Nutzung einer abhängigen Erfindung kann dem Betrag der Lizenzgebühren entsprechen, den der Patentinhaber der ersten Erfindung erhalten hätte, wäre eine Lizenz für die Erfindung erteilt worden.
Stichwörter: Patente – Schadenersatz – Äquivalenzlehre – Patentauslegung – prosecution history estoppel - Abtrennbarkeit
B. Sachverhalt
Farmaprof s.r.l. ("FP") – der Zessionar eines Patents für Kunststoffverschlüsse für medizinische Einmaldosis-Phiolen ("Liberati-Patent") – und Bormioli Rocco e Figli s.p.a. ("BR") – Lizenznehmer von FP für die Herstellung der Verschlüsse – verklagten General Plastics s.r.l. ("GP") – Hersteller der Verschlüsse, die, wie behauptet wird, das Liberati-Patent verletzen, und ebenfalls Inhaber eines Patents für Kunststoffverschlüsse, das während des laufenden Verfahrens erteilt wurde ("GP-Patent") – auf:
(1) Erklärung der Verletzung des Liberati-Patents;
(2) Einstellung der Produktion und des Verkaufs von GP-Verschlüssen;
(3) Erklärung der Ungültigkeit des GP-Patents und nachrangige Erklärung, dass die im GP-Patent offenbarte Erfindung von der Erfindung abhängt, die Gegenstand des Liberati-Patents ist;
(4) Schadensersatzfestlegung in einem gesonderten Verfahren;
(5) Vernichtung der Verschlüsse;
(6) Veröffentlichung des Urteils.
Das im Jahr 1985 erteilte Liberati-Patent umfasste vier Ansprüche, die Kunststoffverschlüsse beschreiben, mit denen sich Phiolen leicht und sicher öffnen lassen. Herr Liberati trat das Patent dann an das Unternehmen FP ab, das die Lizenz für das Erzeugnis an BR, einen Hersteller von Phiolen vergeben hat.
GP, einem Unternehmen, das Kunststoffartikel herstellt, wurden für ähnliche Phiolenverschlüsse mehrere Gebrauchsmuster und ein Patent (1996, das GP-Patent) erteilt. Gegenstand des GP-Patents ist ein Verschluss mit einem Innenband, das verhindert, dass über den Verschluss Feuchtigkeit und Staub in die Phiole eindringen.
FP und BR behaupten, dass die von GP verkauften Verschlüsse das Liberati-Patent verletzen und dem GP-Patent der Neuheitscharakter fehlt, den das Liberati-Patent besitzt, beziehungsweise, dass dieses sekundär vom Liberati-Patent abhängig ist.
GP behauptet hingegen, dass das Liberati-Patent aufgrund mangelnder Neuheit ungültig sei, da die Erfindung von mehreren Patenten und Gebrauchsmustern vorweggenommen worden sei, verwehrte sich gegen die behauptete Patentverletzung und die Ungültigkeit seines Patents und erhob Widerklage auf Erklärung der Gültigkeit des GP-Patents.
C. Rechtliche Würdigung
[1] In einem ersten vorläufigen Urteil bestätigte das Gericht die Gültigkeit des Liberati-Patents und traf dann nach einer eingehenden Prüfung der Angelegenheit eine Entscheidung.
[2] Der Sachverständige des Gerichts wurde gefragt, ob
(1) die im Liberati-Patent offenbarte Erfindung Neuheit aufweist,
(2) die im GP-Patent offenbarte Erfindung Neuheit aufweist,
(3) die strukturellen und funktionellen Elemente der im Liberati-Patent offenbarten Erfindung in den von GP verkauften Verschlüssen wiederzufinden sind,
(4) die im GP-Patent offenbarte Erfindung von der im Liberati-Patent offenbarten Erfindung abhängig ist.
Die Antworten des Sachverständigen zur ersten Frage flossen in das anfängliche vorläufige Urteil zur Gültigkeit des Liberati-Patents ein.
Was die zweite Frage anbetrifft, so bestätigte der Sachverständige die Gültigkeit der im GP-Patent offenbarten Erfindung aufgrund der folgenden wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Patenten: Die im Liberati-Patent offenbarte Erfindung umfasste das im GP-Patent offenbarte Band nicht, das verhindert, dass über den Verschluss Feuchtigkeit und Staub in die Phiole eindringen, und bei der im Liberati-Patent offenbarten Erfindung konnte der Verschluss nicht auf die Phiole aufgebracht werden, wenn der seitliche Streifen gerissen war, wohingegen dies beim GP-Patent möglich ist.
Hinsichtlich der dritten Frage bekräftigte der Sachverständige, dass die Verschlüsse des GP-Patents aufgrund der beiden strukturellen Elemente, welche die Erfindungen unterscheiden, keine äquivalente Verletzung der im Liberati-Patent offenbarten Erfindung darstellen.
Zur vierten Frage lieferte der Sachverständige keine konkrete Antwort.
Die erste Frage, auf die das Gericht einging, betraf die in Anwendung zu bringenden Bestimmungen. Das Gericht befasste sich mit den Auslegungsregeln für Patente und befand, dass Artikel 1362 ff. des italienischen Zivilgesetzbuches (d. h. die Bestimmungen für die Vertragsauslegung) nicht analog auf die Auslegung der Ansprüche und Beschreibung eines Patents angewandt werden können. Vielmehr sind die Bestimmungen des Wettbewerbsrechts in Anwendung zu bringen, indem die Interessen der Erfinder den Interessen der Wettbewerber gegenübergestellt werden, die die Grenzen des jeweiligen Rechts kennen und wissen müssen, was ihnen im rechtlich zulässigen Rahmen erlaubt ist. Das Gericht befand ferner, dass für die Beseitigung dieses Schlupflochs im System nach der Rechtsanalogie (analogia juris) zu verfahren ist, um nach einer besseren Methode bei der Auslegung des Umfangs eines Anspruchs und der Patentschrift im Allgemeinen zu suchen. Die Frage nach dem Umfang der Ansprüche ist im Zusammenhang mit der Auslegung des Patents zu betrachten, und diesbezüglich sind die relevanten Aussagen (die die Ansprüche beschränken können) die Aussagen in der im Patentamt hinterlegten Patentschrift; und diese sind zu berücksichtigen, auch wenn sie erklärenden Charakter haben. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass das US-amerikanische "prosecution history estoppel" nicht auf das italienische oder die europäischen Patentsysteme anwendbar ist, da die Patente in diesen Ländern nach den Bestimmungen des Europäischen Patentübereinkommens und seines Protokolls auszulegen sind. Ergänzend erklärte das Gericht, dass für Verträge und Patente die Abtrennbarkeitsregel gleichermaßen gilt, die eine Patentauslegung vorsieht, bei der dem Neuheitscharakter der beanspruchten Erfindung Vorrang gegenüber dem Stand der Technik eingeräumt wird.
Die zweite Frage, mit der sich das Gericht befasste, betraf die Definition der Äquivalenzverletzung. Zunächst wurde festgestellt, dass die übliche Definition, nach der eine Äquivalenzverletzung eine Reproduzierung der essenziellen Elemente der neuen Eigenschaft ist, nicht ausreichend ist, da sie zu vage und zu erfinderfreundlich ist. Zweitens erachtet das Gericht die US-amerikanischen und deutschen Kriterien als ungeeignet, nach denen die Äquivalenzverletzung die Position des Erfinders schwächen beziehungsweise den Fortschritt der angewandten Forschung behindern kann.
Das Gericht unternahm dann den Versuch einer weiteren Definition, wobei es dem folgenden Grundsatz folgte. Bei der Prüfung, ob zwei Erfindungen äquivalent sind, ist zunächst die Identität der funktionellen und strukturellen Elemente der beiden Erfindungen hinsichtlich der Lösung des technischen Problems zu prüfen. Es liegt keine Verletzung vor, wenn die zweite Erfindung ein anderes Problem löst als die erste. Zweitens ist eine Äquivalenzverletzung dann gegeben, wenn der angebliche Patentverletzer das gleiche technische Problem, das mit der patentierten Erfindung gelöst wird, durch funktionelle oder strukturelle Änderungen löst, die für einen Durchschnittsfachmann offensichtlich sind.
Hinsichtlich der dritten in der Rechtssache gestellten Frage lieferte das Gericht eine Definition der abhängigen Erfindungen, indem sie eine abhängige Erfindung als eine innovative Lösung eines technischen Problems beschrieb, die sich aus der Erfindung, von der sie abhängt, ergibt.
Auf der Grundlage der vorstehenden Feststellungen urteilte das Gericht wie folgt:
(1) Die im GP-Patent offenbarte Erfindung hatte entsprechend den vorstehenden Erläuterungen Neuheits- und Originalitätscharakter.
(2) Der mit dem Liberati-Patent gewährte Schutzumfang entsprach dem durch das angeführte Beispiel gewährten Umfang, wobei sich die Erfindung von den für den Stand der Technik angeführten Beispielen unterschied.
(3) Die von GP verkauften Verschlüsse und die Erfindung, die Gegenstand des Liberati-Patents ist, unterschieden sich i) in der Position des Streifens und ii) darin, dass das Liberati-Patent kein Innenband besaß. Diese beiden strukturellen Unterschiede stellen, wie oben ausgeführt, einen funktionellen Unterschied dar.
(4) Ausgehend von den untersuchten Beweismitteln ist festzustellen, dass die im GP-Patent offenbarte Erfindung von der im Liberati-Patent offenbarten Erfindung abhängig war, da sie sich aus dem Wesen des Liberati-Patents ergibt.
(5) Das GP-Patent war gültig und stellte keine Verletzung dar.
(6) Schadenersatz wegen Nutzung einer abhängigen Erfindung ohne Genehmigung (d. h. eine Lizenz) ist in einem gesonderten Verfahren festzusetzen.
(7) Es bestand keine Notwendigkeit für die Vernichtung der GP-Verschlüsse und die Veröffentlichung des Urteils.