AUS DEN VERTRAGS- / ERSTRECKUNGSSTAATEN
DE Deutschland
Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 8. Juli 1999
(M 29 K 97.8476)*
Stichwort: "Nationale Überprüfung von EPA-Entscheidungen II"1
Artikel 19 (4), 24 (1) Grundgesetz (GG);
§ 20 2) Gerichtsverfassungsgesetz (GVG);
§§ 40, 173 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)
Artikel 1, 2, 4, 5, 8, 19, 21 ff., 99, 102, 106 ff. EPÜ; Artikel 3 (1), (4) Protokoll über Vorrechte und Immunitäten
Schlagwort: "Entscheidungen der Organe des EPA sind keine Akte deutscher öffentlicher Gewalt - Rechtsschutzsystem des EPÜ genügt den Anforderungen des deutschen Grundgesetzes"
Leitsätze
1. Der Widerruf eines europäischen Patents mit Wirkung für Deutschland durch eine Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts als Organ der Europäischen Patentorganisation ist ein Hoheitsakt einer zwischenstaatlichen Einrichtung und kein Akt der Ausübung deutscher öffentlicher Gewalt. Gegen ihn ist daher der Rechtsweg zu den deutschen Gerichten, einschließlich des Verwaltungsrechtswegs, nicht gegeben.
2. Darüber hinaus genügen das Rechtsschutzsystem des Europäischen Patentübereinkommens und die Besetzung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts dem Mindeststandard des Artikels 19 (4) GG.
Sachverhalt und Anträge
Mit (...) Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München beantragte der Kläger:
"Der Bescheid der Einspruchsabteilung der Bekl.2 (...) in der Gestalt der Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.3.2 vom 12.3.1997 (T 976/93- 3.3.2) wird aufgehoben, soweit das europäische Patent Nr. 158090 mit Wirkung für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland widerrufen worden ist."
Die Beklagte (...) berief sich auf die ihr zustehende Gerichtsbefreiung als internationale Organisation. (...)
Die Zulässigkeit der Klage (...) begründete der Kläger wie folgt: Der Verwaltungsrechtsweg sei hier gemäß § 40 VwGO gegeben, da die Bekl. zwar eine internationale Organisation (...) sei, der Grundrechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG jedoch dadurch nicht ausgeschlossen sei, (...) da das Rechtsschutzsystem des EPÜ nicht mit der deutschen Judikative vergleichbar sei. Die nach dem EPÜ für die Entscheidung über den Widerruf des Patents zuständige Beschwerdekammer habe (...) nicht die Struktur eines Gerichts und sei daher als Verwaltungsorgan zu bewerten. Gegen eine Entscheidung eines Verwaltungsorgans stehe dem Kl. der Rechtsweg nach Art. 19 Abs. 4 GG und § 40 VwGO zu.
Die Bekl. führte aus, (...). Sie berufe sich auf die ihr zustehende Gerichtsbefreiung nach § 20 Abs. 2 GVG. Das richtige Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Europäischen Patentamts sei die Beschwerde zur Beschwerdekammer der Europäischen Patentorganisation. (...) Da sich die Bekl. (...) im Kernbereich ihrer satzungmäßigen Aufgaben bewege, stehe ihr Autonomie zu und dementsprechend die Befreiung von staatlicher Gewalt gemäß Art. 8 EPÜ i. V. m. Art. 3 des Privilegienprotokolls. Zudem weise die Beschwerdekammer der Bekl. ohne weiteres die Anforderungen an Rechtsprechungsorgane auf.
Dieser Argumentation hielt der Kl. entgegen, daß (...) seit der Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) die Prüfung des Minimalstandards elementarer Verfahrensgerechtigkeit auch durch deutsche Gerichte möglich sein müsse.
Dem hielt die Bekl. entgegen, (...) die Beschwerdekammer sei eine - auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für ausreichend erachtete - von der Organisation unabhängige Instanz. (...)
Aus den Gründen
Die Klage ist (...) unzulässig; die Bekl. unterliegt im vorliegenden Fall nicht der deutschen Gerichtsbarkeit.
Gemäß § 173 VwGO i. V. m. § 20 Abs. 2 GVG erstreckt sich die deutsche Gerichtsbarkeit nicht auf Personen, die nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts, aufgrund Völkerrechtsvereinbarungen oder sonstiger Rechtsvorschriften von ihr befreit sind. Die Befreiung von der nationalen, der deutschen, Gerichtsbarkeit folgt aus Art. 8 EPÜ i. V. m. Art. 3 des Protokolls über die Vorrechte und Immunitäten der Europäischen Patentorganisation. Gemäß Art. 3 Abs. 1 und 4 des genannten Protokolls (...) erstreckt sich die Immunität von der nationalen Gerichtsbarkeit auf den "Rahmen ihrer amtlichen Tätigkeit". Unter "amtlicher Tätigkeit" der Organisation sind alle Tätigkeiten zu verstehen, die für ihre im Übereinkommen selbst vorgesehene Verwaltungsarbeit und technische Arbeit unbedingt erforderlich sind. Das Gericht hat keine Zweifel, daß hierunter auch die streitgegenständlichen Entscheidungen der Einspruchsabteilung sowie der Technischen Beschwerdekammer der Bekl. gehören (vgl. nur Art. 1 ff., 99 EPÜ). Der Widerruf von Europäischen Patenten gehört ebenso wie die Erteilung derselben zum Kernbereich des im Europäischen Patentübereinkommen definierten Tätigkeitsfelds der Bekl. Es liefe dem Sinn und Zweck der Ermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG entgegen, wenn eine internationale Organisation im Kernbereich ihrer Autonomie Gefahr liefe, divergierender Rechtsprechung nationaler Gerichte zu unterliegen. Dadurch wäre die Funktionsfähigkeit der zwischenstaatlichen Einrichtung beeinträchtigt (vgl. hierzu BayVGH, Az.: 7 B 92.2689, S. 12 - Europäische Schule; vgl. auch EGMR, NJW 1999, 1173).
Die Europäische Patentorganisation ist eine zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne von Art. 24 Abs. 1 GG. Ihr sind durch völkerrechtlichen Akt unmittelbar Hoheitsrechte in bezug auf die Erteilung wie auch den Widerruf von Europäischen Patenten eingeräumt worden (Art. 1, 2, 4, 102 EPÜ). Die Organisation besitzt nach Art. 5 EPÜ den Status einer eigenen Rechtspersönlichkeit und wird gemäß Art. 4 Abs. 2 durch das Europäische Patentamt und den Verwaltungsrat als Organe repräsentiert. Als Untergliederung des Europäischen Patentamts sieht Art. 19 EPÜ die Einspruchsabteilungen, Art. 22 EPÜ die Großen Beschwerdekammern, die Art. 106 ff. EPÜ das Beschwerdeverfahren gegen Entscheidungen der Eingangsstelle, der Prüfungsabteilung, der Einspruchsabteilung und der Rechtsabteilung vor, Art. 113 ff. EPÜ Verfahrensrechte der Beteiligten für diese Verfahren.
Wenn sich somit der Widerruf eines Europäischen Patents in Form der Entscheidung der Beschwerdekammer gemäß Art. 102, 106 und 111 EPÜ als Akte von Untereinheiten des Europäischen Patentamts, seinerseits Organ der Europäischen Patentorganisation, und dies ausweislich der Normen des EPÜ als Tätigkeit im autonomen Kernbereich der Tätigkeit einer internationalen Organisation erweist, ist der Widerruf von Europäischen Patenten jedenfalls kein Akt der Ausübung deutscher öffentlicher Gewalt, bezüglich derer die Rechtschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG gelten kann. Unter Art. 19 Abs. 4 GG fallen nicht Hoheitsakte zwischenstaatlicher Einrichtungen. Akte solcher Einrichtungen werden nicht auch dadurch zu Akten deutscher öffentlicher Gewalt, daß sie unter Mitwirkung deutscher Staatsgewalt entstanden sind (hier etwa Art. 1 Nr. 3 des Gesetzes über internationale Patentübereinkommen vom 21. Juni 1976, BGBl. II 1976, 649 ff.). Art. 24 Abs. 1 GG gestattet es der Bundesrepublik, Hoheitsgewalt auf solche zwischenstaatlichen Einrichtungen auch dann zu übertragen, wenn der Rechtsschutz gegen Akte derselben hinter dem Standard des Art. 19 Abs. 4 GG zurückbleibt. Auch eine subsidiäre Zuständigkeit deutscher Gerichte verlangt Art. 19 Abs. 4 GG (...) nicht (Maunz-Dürig-Herzog, GG. Rdn. 48 zu Art. 19; BVerfG, NJW 1982, 507 und 512). Unterschreitet der Rechtsschutz im Rahmen der zwischenstaatlichen Einrichtungen den rechtsstaatlich unverzichtbaren Grundstandard, so verletzt die Beteiligung der Bundesrepublik in einer solchen Einrichtung nicht Art. 19, sondern Art. 24 Abs. 1 GG. Im vorliegenden Fall, in dem es um die Überprüfbarkeit eines Aktes der Bekl. als zwischenstaatliche Einrichtung, nicht jedoch um das zitierte Zustimmungsgesetz geht, liegt für das Gericht unzweifelhaft kein Akt deutscher Gewalt vor.
Unabhängig von der Beurteilung des Einspruchssystems des Europäischen Patentübereinkommens am Maßstab des zitierten Mindeststandards (...) kann auch die von der Kl.-Seite zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu keiner anderen Bewertung führen. Zum einen befaßt sich die sogenannte "Maastricht-Entscheidung" vom 12.10.1993 unter Hinweis auf den sog. "Solange II"-Beschluß vom 22.10.1986 auf die Ausübung von Hoheitsgewalt einer supranationalen Organisation im Bereich der Gewährleistung von Grundrechten der rechtsunterworfenen Bürger, wohingegen es das Gericht für gerechtfertigt ansieht, im vorliegenden Fall davon auszugehen, daß sich der Kl. mit der Anmeldung eines Europäischen Patents freiwillig in Rechtsbeziehungen zur Bekl. begeben hat. Andererseits geht es im vorliegenden Fall auch nicht um das Einwirken europäischen Rechts in das nationale Verwaltungs(gerichts)verfahren. (...)
Schließlich hat auch das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Beschluß (...) weder eine Auffangzuständigkeit deutscher Gerichte für Akte zwischenstaatlicher Organisationen postuliert noch ein selektives Prüfungsrecht bzw. eine Prüfungspflicht deutscher Gerichte im Einzelfall. Dies gilt insbesondere dann, wenn - wie hier - sich die Bekl. auf die ihr zustehende Immunität nach § 20 Abs. 2 GVG berufen kann. Die zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts würde mißverstanden, wenn gegen Akte internationaler Organisationen, die unstreitig keine Akte deutscher Gewalt sind, gleichsam zweifacher (nämlich hier der des EPÜ sowie der des deutschen Verwaltungsrechts) Rechtsschutz gegeben wäre.
Das Gericht hat keine Zweifel, daß das Rechtsschutzsystem, das Art. 106 und 113 ff. EPÜ i. V. m. der Ausführungsordnung zum Übereinkommen über die Erteilung Europäischer Patente beschreiben, dem Mindeststandard des Art. 19 Abs. 4 GG genügt. Es bestehen für das Gericht auch keine Zweifel, daß die von der Kl.-Seite gerügte Besetzung der Beschwerdekammer nach Art. 21 und 22 EPÜ nicht diesen Erfordernissen genügen würde, da insbesondere Art. 23 und 24 EPÜ die Unabhängigkeit der Mitglieder der Kammern ausdrücklich gewährleisten. (...)
DE 1/00
* Amtliche Leitsätze und Auszug aus den Gründen der Entscheidung, die vollständig veröffentlicht sind in GRUR Int. 2000, 77.
1 Nationale Überprüfung von EPA Entscheidungen / UK High Court of Justice - Queen's Bench Division und Patents Court v. 20.12.96, in Lenzing AG's European Patent, R.P.C. 1997, 245; GRUR Int. 1997, 1010.
2 Europäische Patenorganisation (vertreten durch den Präsidenten des Europäischen Patentamts).