BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen des Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten
Entscheidung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten vom 18. Juli 1997 - D 8/96
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | L. C. Mancini |
Mitglieder: | C. Holtz |
| J.-C. De Preter |
| L. C. de Bruijn |
| J. Neukom |
Stichwort:
Grenzfall
Artikel:
7 (3), 17 (1) der Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung für die beim EPA zugelassenen Vertreter
Regel:
3, 10 der Ausführungsbestimmungen 1994
Schlagwort:
Verfahren vor der Disziplinarkammer - Zulässigkeit - Beschwer Europäische Eigungsprüfung - Grenzfal
Leitsätze:
Eine Prüfung in Grenzfällen zur Feststellung, ob Bewerber zur Ausübung der Tätigkeit eines zugelassenen Vertreters vor dem Europäischen Patentamt geeignet sind, ist gemäß den Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung in der Fassung von 1994 (VEP 1994) sowie den dazugehörigen Ausführungsbestimmungen (ebenfalls von 1994) nicht möglich. Artikel 17 (1) VEP 1994 ist erschöpfend. Demnach muß ein Bewerber jede einzelne Prüfungsaufgabe bestehen, um die europäische Eignungsprüfung insgesamt zu bestehen. Die einzige Ausnahme von dieser Regelung ist in Regel 10 der Ausführungsbestimmungen 1994 festgelegt, die aufgrund des Artikels 17 (1) VEP 1994 ebenfalls erschöpfend ist und nur für Bewerber gilt, die erstmals an der Prüfung teilnehmen.
Sachverhalt und Anträge
I. Der Beschwerdeführer nahm 1994 erstmals an der europäischen Eignungsprüfung teil und erzielte dabei für die Prüfungsaufgabe A die Note 6, die Aufgabe B die Note 4, die Aufgabe C die Note 5 und die Aufgabe D die Note 5. 1995 wiederholte er die Prüfungsaufgaben A, C und D und erzielte die Note 3 für die Aufgaben A und C und die Note 5 für die Aufgabe D.
II. Die Prüfungskommission teilte dem Beschwerdeführer unter Bezugnahme auf die Ausführungsbestimmungen (ABl. EPA 1994, 595) zu den Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung (VEP) mit, daß er die Prüfung nicht bestanden habe. Auf dem Formblatt mit dem Ergebnis des Bewerbers bei der europäischen Eignungsprüfung 1995, Form EB/A-D/95/e, hatte die Prüfungskommission das Kästchen angekreuzt, wonach der Bewerber gemäß Artikel 17 (1) Satz 1 VEP in Verbindung mit Regel 14 der Ausführungsbestimmungen die Prüfung nicht bestanden hat, weil er eine oder mehrere Prüfungsaufgaben nicht bestanden hat.
III. Daraufhin legte der Beschwerdeführer Beschwerde ein und beantragte, daß die angefochtene Entscheidung aufgehoben, die europäische Eignungsprüfung für bestanden erklärt und die Prüfungsgebühr für 1996 zurückerstattet wird; hilfsweise beantragte er die Überprüfung seines Falls durch die Prüfungskommission.
IV. Die vom Beschwerdeführer zur Stützung seiner Beschwerde vorgebrachten Gründe und Argumente lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Es liege ein Verstoß gegen die geltenden Vorschriften vor, weil die Prüfungskommission keine Grenzfall-Prüfung vorgenommen habe, um festzustellen, ob der Beschwerdeführer zur Ausübung der Tätigkeit eines zugelassenen Vertreters vor dem EPA geeignet sei, was gemäß Regel 3 der Ausführungsbestimmungen 1994 der wesentliche Zweck der Prüfung sei. Dieser Zweck sei auch in Nummer I der Ausführungsbestimmungen 1991 zu Artikel 12 VEP 1991 verankert. Die von der Prüfungskommission angeführte wörtliche Auslegung des Artikels 17 (1) VEP 1994 in Verbindung mit Regel 14 der Ausführungsbestimmungen 1994 entspreche einer wörtlichen Auslegung des Artikels 12 (3) VEP 1991 in Verbindung mit der Nummer XII der Ausführungsbestimmungen 1993; danach habe ein Bewerber, der in einer der von ihm wiederholten Prüfungsaufgaben die Note 5 erzielt habe, die Prüfung unabhängig von der Bewertung der anderen Aufgaben in jedem Falle nicht bestanden. Weder Artikel 12 (3) VEP 1991 noch Artikel 17 (1) VEP 1994 dürfe aber wörtlich ausgelegt werden.
Gemäß Artikel 7 (3) VEP 1994 habe die Prüfungskommission a) jede Arbeit zu benoten und b) zu entscheiden, ob der Bewerber bestanden habe oder nicht. Während der Begriff "benoten" bedeute, daß die Prüfungskommission die von den Prüfungsausschüssen vergebenen Noten zu akzeptieren habe, weise der Ausdruck "entscheiden" darauf hin, daß die Prüfungskommission über einen gewissen Ermessensspielraum verfüge, um in Grenzfällen zu entscheiden, daß ein Bewerber die Prüfung bestanden habe, auch wenn nicht jede Aufgabe mit einer für das Bestehen der Prüfung erforderlichen Note 4 oder besser bewertet worden sei.
Außerdem habe die Prüfungskommission die Entscheidung D 1/93 außer acht gelassen, wonach in Grenzfällen abweichend von der wörtlichen Auslegung des Artikels 12 (3) VEP 1991 entschieden werden müsse, ob ein Bewerber zur Ausübung seiner Tätigkeit geeignet sei. In der Entscheidung D 1/93 habe die Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten ihr Abweichen von einer wörtlichen Auslegung mit Artikel 5 (3) VEP 1991 begründet, wonach die Prüfungskommission entscheide, ob ein Bewerber bestanden habe oder nicht. Da der Artikel 7 (3) VEP 1994 dem Artikel 5 (3) VEP 1991 entspreche, müsse dieser Ermessensspielraum auch für die Beurteilung von Bewerbern gelten, auf die die Vorschriften aus dem Jahr 1994 Anwendung fänden. Da die Bestimmung Nummer XII der Ausführungsbestimmungen 1993 wortwörtlich mit der entsprechenden Bestimmung aus dem Jahr 1991 (vgl. Artikel 12 (3) VEP 1991) übereinstimme, habe die Prüfungskommission die Entscheidung D 1/93 zu Recht auch auf Bewerber angewandt, die die Prüfung in den Jahren 1993 und 1994 wiederholt hätten. Parallel dazu sei Artikel 17 (1) VEP 1994 insofern nicht erschöpfend, als es dort nicht aufgeführte Fälle, d. h. Grenzfälle, geben könnte, in denen die Entscheidung im Ermessen der Prüfungskommission liege.
Da sich die Prüfungskommission in ihrer Entscheidung lediglich auf die nicht bestandenen Prüfungsaufgaben bezogen habe, sei sie ihrer Verpflichtung zur Begründung der Entscheidung nicht nachgekommen. Diese Unterlassung stelle einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
Die Gesamtsumme der Noten für die einzelnen Prüfungsaufgaben betrage 15; bei erstmaliger Teilnahme an der Prüfung hätte ein Bewerber mit die-sem Ergebnis bestanden. Außerdem wäre die Note 5 für die Aufgabe D durch die Note 3 für die beiden Aufgaben A und C ausgeglichen worden. Zum Bestehen der Aufgabe D hätten dem Beschwerdeführer (je nach Prüfer) nur 3 oder 4,5 Punkte gefehlt. Dieser Mangel werde durch die Aufgabe C _ rechtliche Aspekte _ bei weitem ausgeglichen, für die die Note 3 vergeben worden sei. Der Beschwerdeführer, der im Jahr 1994 erstmals an der Prüfung teilgenommen habe, habe nicht die Möglichkeit gehabt, die Prüfung in einzelnen Modulen abzulegen. Schon allein deshalb habe er Anspruch auf die in Grenzfällen übliche Prüfung des Gesamtergebnisses aus den beiden Eignungsprüfungen.
V. Dem Präsidenten des Europäischen Patentamts und dem Präsidenten des Rats des Instituts der beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter wurde gemäß Artikel 12 der Vorschriften in Disziplinarangelegenheiten von zugelassenen Vertretern Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
VI. Der Vertreter des Präsidenten des Europäischen Patentamts gab folgende Erläuterungen zu dem mit den neuen Vorschriften aus dem Jahr 1994 eingeführten Verfahren ab:
Die Prüfungskommission könne die Benotung in Zweifel ziehen, das heißt, sie könne die von den Ausschüssen vorgeschlagenen Bewertungen und Noten ändern. Dabei würden die Prüfer _ insbesondere wenn es um die Note 5 gehe _ gefragt, wie viele Punkte zur Note 4 fehlten, damit die Prüfungskommission beurteilen könne, ob die Aufgabe unter Umständen noch als bestanden gewertet werden sollte. Der Neuregelung von 1994 liege die Absicht zugrunde, die Zahl der Prüfungen ohne Beeinträchtigung der Qualität weitmöglichst zu reduzieren. So sei sich die Prüfungskommission durchaus der Problematik bewußt, daß zu viele Bewerber die Prüfungen wiederholten. In dem _ hypothetischen _ Fall, daß ein Bewerber bei der Wiederholung der Prüfung für drei Aufgaben die Note "hervorragend", für die vierte Aufgabe aber eine 5 (insgesamt also die Noten 1 + 1 + 1 + 5) erziele, könne die Prüfungskommission den Vorsitzenden des Ausschusses fragen, ob anstelle dieser 5 auch eine 4 vergeben werden könnte. Bestünden die Prüfer darauf, daß die Leistungen des Bewerbers so schwach seien, daß die Prüfung nicht als bestanden gelten könne, so werde über die Note abgestimmt. Stünden jedoch die Noten erst einmal fest, so habe die Prüfungskommission keinen Ermessensspielraum mehr. Artikel 7 (3) VEP 1994 sei also genau entgegengesetzt zur Auffassung des Bewerbers auszulegen: Bei der Benotung gebe es einen gewissen Ermessensspielraum, nicht aber bei der Entscheidung, ob ein Bewerber die Prüfung bestanden habe oder nicht.
Entscheidungsgründe
1. Zulässigkeit
Die Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten hat zur Kenntnis genommen, daß der Beschwerdeführer die europäische Eignungsprüfung im Jahr 1996 bestanden hat. Damit stellt sich die Frage, ob er durch die angefochtene Entscheidung noch beschwert ist. Die Beschwerdekammer erkennt an, daß auch Bewerber, die die Prüfung vor Ergehen der Entscheidung in der Beschwerdesache bestehen, durchaus ein berechtigtes Interesse an der Überprüfung ihres Falles durch die Beschwerdekammer haben können (siehe z. B. Entscheidung D 3/91 vom 24. August 1992). Zum einen hätte ein Bewerber, dessen Beschwerde dazu führt, daß die Prüfung für bestanden erklärt wird, Anspruch auf die Rückzahlung der Beschwerdegebühr sowie etwaiger in der Zwischenzeit entrichteter Prüfungsgebühren. Zum anderen könnte es was möglicherweise schwerer wiegt dem beruflichen Ansehen und den wirtschaftlichen Verhältnissen des Bewerbers schaden, wenn er erst nach mehreren Anläufen in die Liste der beim EPA zugelassenen Vertreter aufgenommen wird. Somit gelangt die Kammer zu dem Schluß, daß der Beschwerdeführer tatsächlich ein berechtigtes Interesse an einer Überprüfung seines Falles hat. Da die Beschwerde die übrigen Bedingungen des Artikels 27 (2) VEP 1994 erfüllt, ist sie zulässig.
2. Entstehungsgeschichte der Vorschriften und ihrer Ausführungsbestimmungen
Die ersten Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung für die beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter wurden 1978 erlassen (VEP 1978, ABl. EPA 1978, 101). Darin waren die grundlegenden Bereiche festgelegt, in denen die Eignung der Bewerber geprüft werden sollte (Artikel 10 VEP 1978), wobei man sich schon von Anfang an für ein System mit vier getrennten Prüfungsaufgaben entschied. Die Prüfung bestanden hatten Bewerber, die für alle Prüfungsarbeiten die zum Bestehen ausreichende Bewertung erzielt hatten (Artikel 12 (2) VEP 1978). Bewerber, die für mindestens die Hälfte der Prüfungsarbeiten die zum Bestehen ausreichende Bewertung erzielt hatten, konnten dennoch die Prüfung bestehen, wenn die Prüfungskommission bei der Gesamtprüfung ihrer Arbeiten eine entsprechende Entscheidung traf (Artikel 12 (3) VEP 1978). Nach Artikel 5 (3) VEP 1978 war die Prüfungskommission verpflichtet, die Grenzfälle zu prüfen und zu entscheiden, ob der Bewerber bestanden hatte oder nicht. Im Jahr 1983 wurden neue Vorschriften erlassen, in denen diese Bestimmungen im wesentlichen unverändert beibehalten wurden.
Mit den am 7. Dezember 1990 verabschiedeten und in Kraft getretenen VEP 1991 wurde eine Neuregelung eingeführt, wonach Bewerber, die die Prüfung nicht bestanden hatten, unter bestimmten Voraussetzungen nur die ungenügenden Arbeiten zu wiederholen brauchten. Die Prüfung galt jedoch nur als bestanden, wenn der Bewerber jede einzelne Arbeit bestanden hatte (Artikel 12 (3) VEP 1991). Bewerber, die alle Aufgaben auf einmal ablegten, konnten die Prüfung weiterhin trotz einer oder zwei ungenügender Arbeiten bestehen, allerdings nur, wenn die in den Ausführungsbestimmungen zu Artikel 12 (2) b), d. h. in den Ausführungsbestimmungen 1991, Nummer VII (ABl. EPA 1991, 89), genau festgelegten Bedingungen erfüllt waren. Diese Bedingungen besagten unter anderem, daß in Fällen, in denen nur eine Aufgabe mit der Note 5 bewertet war, diese Note durch eine 3 oder eine bessere Note für eine andere Aufgabe – unabhängig von deren Themenbereich _ ausgeglichen werden konnte, während bei einer Bewertung von zwei Aufgaben mit der Note 5 ein Ausgleich nur möglich war, wenn die erste 5 für eine der Arbeiten A und B und die zweite 5 für eine der Aufgaben C und D vergeben und für die jeweils andere Aufgabe eine 3 oder eine bessere Note erzielt worden war. Dies zeigt, daß ein Bewerber in den beiden großen Themenbereichen der Prüfung eine ausreichende Eignung nachweisen mußte. Ungenügende Ergebnisse bei den Aufgaben A und B bzw. C und D konnten nicht untereinander ausgeglichen werden (außer in dem oben beschriebenen Fall, daß ein Bewerber nur eine Aufgabe nicht bestanden hat, die mit der Note 5 bewertet wurde). So könnte man sagen, daß die mittlerweile durch die VEP 1991 eingeführten zwei Module de facto bereits 1991 entstanden. Damit sollte offensichtlich gewährleistet werden, daß die Qualifikationen der Bewerber in jedem der beiden großen Themenbereiche noch angemessen waren.
1991 wurde die Gesamtprüfung der Leistungen der Bewerber in Grenzfällen, wie sie in den VEP 1978 und 1983 vorgesehen und in der Rechtsprechung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten anerkannt war, de facto abgeschafft. In der Entscheidung D 1/93 befand die Disziplinarkammer aber, daß es auch bei der Neuregelung noch Problemfälle geben könne, und entschied, der damalige Artikel 12 (3) VEP sollte dahingehend ausgelegt werden, daß es in Grenzfällen im Ermessen der Prüfungskommission liege zu entscheiden, ob der Bewerber zur Ausübung seiner Tätigkeit geeignet sei, obwohl er bei einer teilweisen Wiederholung der Prüfung eine Aufgabe nicht bestanden habe. Es ist jedoch festzuhalten, daß in jenem Fall der Bewerber 1991 erstmals an der Prüfung teilgenommen und 1992 zwei Aufgaben wiederholt hatte, wobei er eine davon nicht bestand. Somit ist die Entscheidung D 1/93 als Ausnahme aus den Anfängen der Neuregelung zu betrachten.
Mit Wirkung vom 1. Januar 1993 wurde mit der in die Ausführungsbestimmungen neu aufgenommenen Nummer XII klargestellt, daß ein Bewerber bei einer Teilprüfung diese nur besteht, wenn jede Prüfungsaufgabe mit der Note 4 oder besser bewertet wird.
Dieser Rückblick macht deutlich, daß die Einführung der Teilprüfung mit dem Wegfall der Gesamtprüfung in Grenzfällen einherging. Spätestens bei der Prüfung im Jahr 1993 mußte jeder Bewerber über die Neuregelung und ihre Funktionsweise informiert gewesen sein.
Der Beschwerdeführer behauptet, daß er nicht die Möglichkeit gehabt habe, die Prüfung in Modulen abzulegen, und deshalb Anspruch auf diese in Grenzfällen vorgenommene Gesamtprüfung habe. Tatsächlich war er aber berechtigt, im Jahr 1994 lediglich ein Modul der Prüfung abzulegen. Diejenigen Bewerber, die sich für die Prüfung im Jahr 1994 angemeldet hatten, wurden von der Prüfungskommission mit Schreiben vom 20. Dezember 1993 davon unterrichtet, daß Bewerber, die erstmals an der Prüfung teilnähmen, noch die Möglichkeit hätten, die Prüfung in zwei Modulen abzulegen, wenn sie dies der Prüfungskommission vor dem 21. Januar 1994 mitteilten. Dies war möglich, weil Artikel 14 VEP, der das Ablegen der Prüfung in Modulen vorsieht, bereits ab dem 10. Dezember 1993 Anwendung fand (Artikel 2 (2) VEP, ABl. EPA 1994, 7).
3. VEP 1994
Mit den neuen Vorschriften _ VEP 1994 _, die am 9. Dezember 1993 vom Verwaltungsrat verabschiedet wurden und am 1. Mai 1994 in Kraft traten, gehörte das frühere System der Gesamtprüfung in Grenzfällen endgültig der Vergangenheit an. In den Vorarbeiten zu den VEP 1994 (CA/84/93) wird unter Artikel 17 darauf hingewiesen, daß nach dem neuen System grundsätzlich für jede Prüfungsarbeit eine ausreichende Bewertung erzielt werden muß. Nach Auffassung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten kann dies nur bedeuten, daß ein Ausgleich oder eine "Prüfung in Grenzfällen" nicht möglich ist, es sei denn, dies ist ausdrücklich vorgesehen. Alle diesbezüglichen Ausnahmen sind in Regel 10 der Ausführungsbestimmungen 1994 aufgeführt, die im wesentlichen dieselben klaren Bedingungen enthalten wie die Ausführungsbestimmungen 1991. Der Schwerpunkt der Regelung hatte sich jedoch schon 1991 von der "Gesamtprüfung" zum reinen Ausgleich von Noten unter bestimmten Voraussetzungen hin verlagert. Die Schlußfolgerung des Beschwerdeführers, wegen des nahezu identischen Wortlauts der Nummer XII der Ausführungsbestimmungen 1993 und der entsprechenden Bestimmung in den VEP 1994 müsse sich die Prüfung in Grenzfällen auch auf das jetzige System erstrecken, ist daher nicht richtig.
4. Auslegung der Artikel 17 (1) und 7 (3) VEP sowie der Regeln 3 und 10 der Ausführungsbestimmungen 1994 Der Beschwerdeführer behauptet, daß die Regel 10 nicht erschöpfend sei und auch in der Fassung von 1994 Raum für die Prüfung in Grenzfällen lasse.
Regel 10 ergibt sich aus der der Prüfungskommission vom Verwaltungsrat durch Artikel 17 (1) VEP 1994 eingeräumten Befugnis. Dieser Artikel sieht ausdrücklich vor, daß Bewerber die Prüfung bestanden haben, wenn sie für jede Prüfungsaufgabe eine ausreichende Bewertung erzielen oder wenn sie bei erstmaliger Able-gung der Prüfung die nach den Ausführungsbestimmungen erforderlichen Mindestnoten erreichen. Damit ist Artikel 17 (1) VEP in sich erschöpfend und läßt nur Raum für zwei Möglichkeiten, die Prüfung zu bestehen: Entweder besteht der Bewerber jede einzelne Prüfungsaufgabe oder _ wenn er die Prüfung zum ersten Mal ablegt _ er erfüllt die Voraussetzungen nach Regel 10 der Ausführungsbestimmungen 1994. Die Regel 10 der Ausführungsbestimmungen 1994 kann daher nicht so ausgelegt werden, daß sie Raum für eine über ihren Wortlaut hinausgehende Auslegung läßt.
Artikel 17 VEP hat als übergeordnete Vorschrift Vorrang vor der Regel 3 der Ausführungsbestimmungen 1994. Somit ist die Regel 3 nur als Hinweis für die Prüfer zu sehen, wie sie bei der Bewertung der Arbeiten vorgehen sollen, und darf nicht so ausgelegt werden, daß sie im Widerspruch zu den VEP steht. Darüber hinaus stellt die Regel 3 keine Rechtsvorschrift im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern vielmehr eine allgemeine Richtschnur für die Prüfer dar. So enthalten die Regeln 3 bis 7 Anweisungen an die Mitglieder der Prüfungsausschüsse, die eine einheitliche Bewertung der Prüfungsarbeiten sicherstellen sollen (siehe Artikel 16 VEP 1994). Auf der Ebene der VEP ist das Ziel der Prüfung in Artikel 12 VEP dargelegt, der eine Übersicht über die Gebiete enthält, in denen der Bewerber umfassende Kenntnisse aufweisen muß. Wie ersichtlich, steht jede Aufgabe für einen Themenbereich, damit die einschlägige Eignung des Bewerbers festgestellt werden kann.
Die vom Beschwerdeführer angeführte Auslegung des Artikels 7 (3) VEP widerspricht dem oben dargelegten Ziel der neuen VEP 1994 wie auch dem Zweck der Bewertung der Arbeiten und den Aufgaben der Prüfungskommission, wie sie sich aus den VEP als Ganzes ergeben. Wie vom Vertreter des Präsidenten des Amts erläutert, ist zwar bei der Benotung der einzelnen Arbeiten ein gewisser Ermessensspielraum gegeben, nicht aber bei der Entscheidung, ob ein Bewerber die Prüfung bestanden hat oder nicht. Da diese Auslegung dem Sinn und Zweck der neuen Regelung entspricht und nicht im Widerspruch zu einer höherrangigen Vorschrift oder einem Rechtsgrundsatz steht, gelangt die Disziplinarkammer zu dem Schluß, daß bei einer Teilwiederholung der Prüfung kein Raum für eine Prüfung im Grenzfall gegeben ist.
5. Relevanz der Entscheidung D 1/93
Angesichts der oben dargelegten Entstehungsgeschichte und der Auslegung der neuen Vorschriften kann das Prinzip der Gesamtprüfung in Grenzfällen, das nach der Entscheidung D 1/93 auf Bewerber angewandt wurde, die die Prüfungen in den Jahren 1991 und 1992 ablegten, auf eine Teilwiederholung der Prüfung im Jahr 1995 keine Anwendung finden. Die Entscheidung D 1/93 ist somit als Ausnahme zu sehen, die in der ersten Zeit nach Einführung der Neuregelung für einen gewissen Spielraum sorgte. Selbst unter der Annahme, daß die Entscheidung D 1/93 wie der Beschwerdeführer vorbringt dazu geführt hätte, daß Bewerber, die die Prüfung in den Jahren 1993 und 1994 ablegten, im Rahmen einer Ausnahmeregelung des Prüfungsausschusses die Prüfung bestanden, kann sie nicht auf Bewerber ausgedehnt werden, die erst 1995 einzelne Prüfungsaufgaben wiederholten. Die Begründung und das Ergebnis der Entscheidung D 1/93 sind somit für den vorliegenden Fall nicht relevant.
6. Verfahrensfehler
Daraus ergibt sich, daß die Prüfungskommission mit dem Erlaß einer unbegründeten Entscheidung keinen wesentlichen Verfahrensfehler beging.
7. Kombinierte Punkte
Ferner folgt daraus, daß die Gesamtpunktezahl, die der Beschwerdeführer bei einer Kombination der jeweils besten Noten aus den Prüfungen der Jahre 1994 und 1995 erzielte, für das Prüfungsergebnis nicht relevant ist, weil der Bewerber die in Artikel 17 (1) VEP genannten Voraussetzungen für das Bestehen der Prüfung nicht erfüllte. Die für die Aufgaben C und D erzielten Noten sind für die Beschwerde ebenfalls nicht relevant, weil die für die Teilwiederholung der Prüfung geltenden Bestimmungen keinen Ausgleich vorsehen.
8. Schlußfolgerungen
Aus diesen Gründen kann dem Antrag, die europäische Eignungsprüfung für bestanden zu erklären oder die Sache zur Überprüfung an die Prüfungskommission zurückzuverweisen, nicht stattgegeben werden. Somit ist auch der Antrag auf Rückzahlung der Prüfungsgebühr für 1996 abzuweisen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.