ENTSCHEIDUNGEN DER PRÜFUNGS- UND EINSPRUCHSABTEILUNGEN
Erteilung des Europäischen Patents 0 169 672 (Krebsmaus/Harvard)
I. Vorbemerkung
Die vom Harvard College am 24.6.1985 eingereichte Anmeldung eines Verfahrens zur Schaffung genetisch manipulierter Tiere, mit der u. a. auch Schutz für ein transgenes Tier begehrt wurde, war durch Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 14. Juli 19891zunächst mit der Begründung zurückgewiesen worden, das EPÜ schließe die Patentierung von Tieren als solchen aus.
Die vom Anmelder dagegen eingelegte Beschwerde hatte Erfolg und führte zur Zurückweisung der Sache an die Prüfungsabteilung (T 19/90-3.3.2 vom 3.10.1990)2. Die zuständige Technische Beschwerdekammer des EPA war zu der Aufassung gelangt, das EPÜ schließe von der Patentierung nur bestimmte Gruppen von Tierarten aus, nicht aber Tiere als solche. Es sei jedoch in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob die Erfindung nicht gegen die öffentliche Ordnung und die guten Sitten im Sinne von Artikel 53a) EPÜ verstoße. Insbesondere seien die Leiden der Tiere und Gefahren für die Umwelt gegen den Nutzen für die Menschheit aus dieser Erfindung abzuwägen.
Unter Berücksichtigung der von der Beschwerdekammer gegebenen rechtlichen Beurteilung hat die Prüfungsabteilung die Anmeldung erneut geprüft und nach sorgfältiger Abwägung am 4. Oktober 1991 die Erteilung des Patents in Aussicht gestellt (Mitteilung nach R. 51 (4) EPÜ). Wegen der besonderen Bedeutung des Falles hat die Abteilung dabei entgegen der sonst üblichen Praxis zu den wesentlichen Fragen der Patentfähigkeit der vorliegenden Erfindung schriftlich Stellung genommen. Der Beschluß zur Erteilung des Patents vom 3. April 1992 ist mit Veröffentlichung des Hinweises im Europäischen Patentblatt am 13. Mai 1992 wirksam geworden.
Im Hinblick auf die sorgfältige Überprüfung, der das Patent in den zu erwartenden Einspruchs- und Beschwerdeverfahren zu unterziehen sein wird, ist mit einer abschließenden Entscheidung in Sachen "Krebsmaus" aller Voraussicht nach erst in einigen Jahren zu rechnen.
II. Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 3. April 1992(Krebsmaus/ Harvard)
(Übersetzung)
Anmelder: President and Fellows of Harvard College
Stichwort: Krebsmaus/Harvard
Schlagwort: "Patentierbarkeit von Tieren - Tier und Tierart -Öffentliche Ordnung und gute Sitten" - "Rechte aus dem Patent"
Leitsätze
1. Säuger und Nager stellen eine taxonomischeKlassifikationseinheit dar, die höher anzusiedeln ist als dieBegriffe "animal variety", "race animale" und "Tierart" inArtikel 53 b) EPÜ; sie sind daher nicht nach diesem Artikel vomPatentschutz ausgeschlossen.
2. Artikel 52 (1) EPÜ beinhaltet einen allgemeinen Grundsatz derPatentierbarkeit, der nur dann nicht zur Anwendung kommt, wennandere gesetzliche Bestimmungen bestimmte Gegenstände von derPatentierbarkeit ausschließen.
3. Im Hinblick auf die Erfordernisse des Artikels 53 a) EPÜ mußjede einzelne Erfindung daraufhin untersucht werden, ob sie gegendie guten Sitten verstößt; mögliche schädliche Wirkungen undGefahren sind zu bewerten und gegen den Nutzen und die Vorzügeder Erfindung abzuwägen.
4. Ein Patent gibt kein positives Recht zur Benutzung derErfindung, sondern lediglich die Berechtigung, andere für einenbegrenzten Zeitraum von deren Benutzung auszuschließen. Es istSache des Gesetzgebers festzulegen, unter welchen Bedingungen einbestimmtes technisches Wissen eingesetzt werden darf, das denUmgang mit gefährlichen Materialien einschließt.
Entscheidungsformel
Nach Prüfung der Anmeldung Nr. 85 304 490.7 (Veröffentlichungs-Nr. 0 169 672) wird für die benannten Vertragsstaaten gemäß Artikel 97 (2) EPÜ ein europäisches Patent erteilt.
Stellungnahme zur Erteilung des Patents, die der Mitteilung nachRegel 51 (4) EPÜ beigefügt ist
1) Mit ihrer Entscheidung T 19/90 (ABl. EPA 1990, 476) hat die Technische Beschwerdekammer die vorliegende Patentanmeldung an die Prüfungsabteilung zurückverwiesen. Die Kammer entschied, daß die Zurückweisung der Patentanmeldung durch die Prüfungsabteilung auf der Grundlage der Artikel 53 b) EPÜ (nicht patentierbare Gegenstände) und Artikel 83 EPÜ (unzureichende Offenbarung) nicht gerechtfertigt war. Insoweit ist die Prüfungsabteilung durch die rechtliche Beurteilung der Beschwerdekammer, die der Entscheidung zugrunde liegt (ratio decidendi - Art. 111 (2) EPÜ), gebunden.
Die Kammer wies die Prüfungsabteilung an, im weiteren Prüfungsverfahren zu untersuchen, ob der Gegenstand der vorliegenden Anmeldung eine "animal variety", "race animale" oder "Tierart" im Sinne des Artikels 53 b) EPÜ ist, und stellte dazu folgendes fest: Sollte die Prüfungsabteilung zu dem Schluß kommen, daß der Gegenstand nicht unter einen dieser drei Begriffe fällt, dann stellt Artikel 53 b) EPÜ kein Patenthindernis dar.
Des weiteren wies die Kammer die Prüfungsabteilung an, zu untersuchen, ob Artikel 53 a) EPÜ für die vorliegende Erfindung ein Patenthindernis darstellt, wobei die Beantwortung dieser Frage nach Ansicht der Kammer hauptsächlich von einem sorgfältigen Abwägen der Leiden der Tiere und einer möglichen Gefährdung der Umwelt einerseits gegen den Nutzen der Erfindung für die Menschheit andererseits abhängt.
Angesichts der außerordentlichen Aufmerksamkeit, die die Öffentlichkeit dem vorliegenden Fall entgegenbringt, und der Bedeutung, die sie der Frage des Patentschutzes von Tieren im Hinblick auf die öffentliche Ordnung und die guten Sitten beimißt, hält es die Prüfungsabteilung für angebracht, ausnahmsweise bereits im Prüfungsverfahren eine Stellungnahme zu diesen Fragen abzugeben.
2) In der vorliegenden Patentanmeldung sind die einzigen Ansprüche, die Tiere betreffen, allgemein gefaßte Ansprüche auf nicht-menschliche "Säuger" und "Nager. Es stellt sich also die Frage, ob ihr Gegenstand unter den Begriff "animal variety" bzw. unter seine Entsprechungen in den beiden anderen Amtssprachen (s. oben) fällt. Obgleich der Begriff "animal variety" insbesondere im Hinblick auf den unterschiedlichen Wortlaut in den drei gleichermaßen verbindlichen Sprachen des EPÜ nicht völlig klar ist, kann mit Sicherheit festgestellt werden, daß Nager oder auch Säuger eine taxonomische Klassifikationseinheit darstellen, die weit höher anzusiedeln ist als der Begriff der Art ("Tierart"). Eine "animal variety" oder eine "race animale" stellt eine Untereinheit einer Art dar und ist daher taxonomisch unterhalb derselben einzuordnen. Daher fällt der Gegenstand der auf Tiere als solche gerichteten Ansprüche nicht unter die drei oben genannten Begriffe in Artikel 53 b) EPÜ.
3) Bei der Beurteilung der Frage, ob die beanspruchte Erfindung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstößt, sind folgende patentrechtliche Grundsätze zu beachten:
- Ein Patent verleiht seinem Inhaber nicht das positive Recht, die Erfindung zu nutzen, sondern berechtigt ihn nur dazu, andere für einen begrenzten Zeitraum von ihrer Nutzung auszuschließen. Falls der Gesetzgeber der Ansicht ist, daß bestimmtes technisches Wissen nur unter eingeschränkten Bedingungen verwendet werden soll, so obliegt diesem der Erlaß entsprechender Gesetze.
- Artikel 52 (1) EPÜ beinhaltet einen allgemeinen Grundsatz der Patentierbarkeit, der nur dann nicht zur Anwendung kommt, wenn andere gesetzliche Bestimmungen bestimmte Gegenstände von der Patentierbarkeit ausschließen. Derartige Ausnahmen sind eng auszulegen.
- Die Entwicklung neuer Technologien ist normalerweise mit neuen Risiken verbunden; diese Erfahrung hat die Menschheit in der Vergangenheit häufig gemacht. Die Erfahrung hat aber auch gezeigt, daß diese Risiken nicht allgemein zu einer negativen Einstellung gegenüber neuen Technologien führen sollten. Die Risiken sind vielmehr sorgfältig gegen die positiven Aspekte abzuwägen. Das Ergebnis dieser Überlegungen sollte bei der Entscheidung darüber, ob die neue Technologie eingesetzt wird, ausschlaggebend sein. Wenn höhere Lebensformen bei dieser neuen Technologie eine Rolle spielen, muß neben diesen Risiken auch berücksichtigt werden, welcher Schaden solchen Lebensformen möglicherweise zugefügt wird. Damit erhebt sich die Frage nach den guten Sitten. Erfindungen, die im Zusammenhang mit neuen Technologien gemacht werden und die nach dem EPÜ patentiert werden sollen, müssen den Erfordernissen des Artikels 53 a) EPÜ Rechnung tragen. Dementsprechend ist jede einzelne Erfindung daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen die guten Sitten verstößt. Außerdem sind mögliche schädliche Wirkungen und Gefahren zu bewerten und gegen den Nutzen und die Vorzüge der Erfindung abzuwägen.
- Demnach sind biotechnologische Erfindungen und insbesondere Erfindungen auf dem Gebiet der Gentechnik nicht generell vom Patentschutz ausgeschlossen.
4) Im vorliegenden Fall spielen drei unterschiedliche Interessenlagen eine Rolle, die gegeneinander abzuwägen sind. Einerseits hat die Menschheit ein grundlegendes Interesse daran, weitverbreitete und gefährliche Krankheiten zu heilen. Andererseits muß die Umwelt vor der unkontrollierten Verbreitung unerwünschter Gene geschützt werden. Als dritter Aspekt kommt hinzu, daß Grausamkeiten gegenüber Tieren vermieden werden müssen. Die beiden letztgenannten Aspekte können es durchaus rechtfertigen, daß eine Erfindung als sittenwidrig und daher als nicht patentierbar angesehen wird, wenn deren Vorteile, d. h. der Nutzen für die Menschheit, die negativen Aspekte nicht aufwiegen können. In diesen Zusammenhang gehören insbesondere die folgenden Überlegungen:
(i) Die Nützlichkeit der vorliegenden Erfindung für die Menschheit kann nicht bestritten werden. Krebs stellt in vielen Ländern der Welt eine der häufigsten Todesursachen dar und verursacht große Leiden. Daher ist jeder Beitrag zur Entwicklung neuer und verbesserter Krebstherapien beim Menschen ein Nutzen für die Menschheit und muß folglich allgemein als wertvoll und wünschenswert betrachtet werden. Die Gesetzgebung in den Vertragsstaaten läßt Tierversuche mit bestimmten Beschränkungen und vorbehaltlich behördlicher Genehmigungen zu.
(ii) Die Anmelderin hat dargelegt, daß der Bedarf an Versuchstieren bei Verwendung der erfindungsgemäßen Tiere im Vergleich zu entsprechenden konventionellen Versuchen sinkt. Mit der vorliegenden Erfindung läßt sich also das Leiden der Tiere insgesamt verringern.
(iii) Ferner ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, ob auf diesem Gebiet Alternativen zu Tierversuchen existieren, die genauso zuverlässig sind und daher von den Gesundheitsbehörden anerkannt werden. Hierbei sollte auch die Meinung der Wissenschaft über die Bedeutung von Tierversuchen in der Krebsforschung berücksichtigt werden. Diese Einschätzung kommt in einem Überblick von A. Berns in Current Biology, Bd. 1, 1991, Seite 28 sehr gut zum Ausdruck, der zu dem Schluß gelangt, daß Krebsmäuse wirkungsvoll zum Nachweis von kooperierenden Genen bei der Tumorentstehung eingesetzt werden können.
Folglich steht fest, daß gegenwärtig in der Krebsforschung Tierversuche als unverzichtbar angesehen werden.
(iv) Im Hinblick auf die "mögliche Gefährdung der Umwelt" hat die Prüfungsabteilung untersucht, welchen Zweck die vorliegende Erfindung verfolgt und welche Gefahr von ihrer zweckgebundenen Ausführung ausgehen kann. Offensichtlich besteht der Zweck der Erfindung in der Bereitstellung von Tieren für Versuche, die ausschließlich von Fachpersonal unter kontrollierten Bedingungen im Labor durchgeführt werden sollen. Es ist keine Freisetzung in die Umwelt beabsichtigt. Daher ist das Risiko einer unkontrollierten Freisetzung praktisch auf vorsätzlichen Mißbrauch oder auf eklatante Unkenntnis seitens des die Versuche durchführenden Laborpersonals beschränkt. Die bloße Tatsache, daß derartige unkontrollierbare Vorfälle denkbar sind, kann keinen wesentlichen Einfluß auf die Entscheidung über die Patenterteilung haben.
Der Ausschluß vom Patentschutz kann nicht lediglich damit gerechtfertigt werden, daß eine Technologie gefährlich ist. Es gibt zahlreiche Beispiele für Erfindungen, deren Patentierbarkeit nie in Frage gestellt worden ist, obwohl sie nicht ohne strenge Sicherheitsvorkehrungen benutzt werden können. Beispielsweise ist die Arbeit mit bestimmten Krankheitserregern nur unter stark eingeschränkten Bedingungen zulässig; die Freisetzung dieses Materials in die Umwelt muß durch geeignete Maßnahmen ausgeschlossen werden. Trotzdem können derartige Arbeiten zu patentierbaren Erfindungen führen.
Es ist nicht Aufgabe des Europäischen Patentamtes, sondern der zuständigen staatlichen Behörden, den Umgang mit gefährlichem Material zu regeln.
(v) Zusammenfassend kommt die Prüfungsabteilung zu dem Ergebnis, daß die vorliegende Erfindung nicht als gegen die guten Sitten oder die öffentliche Ordnung verstoßend angesehen werden kann. Die Bereitstellung eines zur Krebsforschung einsetzbaren Versuchstieres, das zu einer Verringerung von Tierversuchen führt, wobei die Gefahren des Umgangs mit den Tieren gering sind, kann allgemein als nutzbringend für die Menschheit angesehen werden. Deshalb sollte ein Patent für die vorliegende Erfindung nicht auf der Grundlage des Artikels 53 a) EPÜ verweigert werden.
(vi) Es soll hier betont werden, daß die oben aufgeführten Überlegungen ausschließlich für den vorliegenden Fall gelten und daß andere transgene Tiere betreffende Fälle denkbar sind, bei denen man unter Anwendung des Artikels 53 a) EPÜ zu einem anderen Ergebnis kommt.