ARBEITSSITZUNG
Das einheitliche Patentgericht
Marie COURBOULAY
Stellvertretende Vorsitzende, 3. Kammer, Tribunal de Grande Instance von Paris
Die unterschiedliche Praxis der nationalen Gerichte: eine Herausforderung für das Einheitliche Patentgericht
I. Was wird aus der Entscheidung über eine Patentverletzung bei einer nachträglichen Aufhebung des Patents?
Französische Praxis
Wird das Patent, aufgrund dessen eine Patentverletzung rechtskräftig festgestellt wurde, widerrufen oder für nichtig erklärt, so gibt es keine Möglichkeit, diese Entscheidung zu revidieren, und sie muss dennoch vollstreckt werden.
Dem Grundsatz, dass die Entscheidung über die Nichtigkeit des Patents erga omnes wirkt und auf den Tag der Anmeldung des Patents zurückwirkt, dessen Schutzwirkung als von Anfang an nicht eingetreten gilt, steht der Grundsatz der Rechtskraft einer endgültigen Entscheidung entgegen, die nicht mehr in Frage gestellt werden kann.
Es besteht daher keine Möglichkeit einer Erstattung der wegen Patentverletzung gezahlten Entschädigungen, ja nicht einmal die Möglichkeit, die Vollstreckung der entsprechenden Entscheidung auszusetzen (vgl. Urteil des Plenums des Kassationsgerichtshofs vom 17. Februar 2012).
Mögliche Praxis des Einheitlichen Patentgerichts
Ich persönlich würde es begrüßen, wenn die Vollstreckung der Entscheidungen über eine Patentverletzung ausgesetzt und die aufgrund eines nachträglich in einem anderen Verfahren für nichtig erklärten Patents gezahlten Entschädigungssummen erstattet werden könnten.
II. Behandlung von Anträgen auf Nichtigerklärung durch französische Gerichte bei Einlegung eines Einspruchs oder einer Beschwerde vor dem EPA
Französische Praxis
Wird nach der Patenterteilung vor dem EPA Einspruch oder Beschwerde eingelegt, so kann vor Gericht eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des EPA beantragt werden.
Die Aussetzung des Verfahrens ist nicht gesetzlich vorgeschrieben.
Einigen sich die Parteien nicht auf die Aussetzung, so entscheidet das Gericht hierüber aufgrund ihres schriftlichen Vorbringens und ihrer Anhörung in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung.
Berücksichtigt werden:
- die Erfolgsaussichten des Einspruchs oder der Beschwerde;
das Gericht nimmt also eine Bewertung des dem EPA vorgelegten Falls vor
- die Frage, ob die Parteien vor dem EPA ein beschleunigtes Verfahren beantragt haben
- der Interessensausgleich zwischen den Parteien und der Schaden, der ihnen bei einer Aussetzung dadurch entstehen würde, dass nicht innerhalb einer angemessenen Frist über die behauptete Patentverletzung entschieden wird
- der Prozentsatz der vom EPA erteilten Patente, die keinen Bestand haben
In fast drei Viertel der Fälle wird das Verfahren nicht bis zur Entscheidung des EPA ausgesetzt.
Mögliche Praxis des Einheitsgerichts
Ich hielte es für sinnvoll, es sowohl den nationalen als auch den "europäischen" Rechtsprechungsorganen zu gestatten zu prüfen, ob eine Aussetzung erforderlich ist. Richter sind es gewohnt, eine solche rechtliche und tatsächliche Prüfung auf diesem und vielen anderen Gebieten vorzunehmen. Ausschlaggebend für die Entscheidung über die Aussetzung sind im Allgemeinen die Abwägung der jeweiligen Interessen und der Konsequenzen einer aufgeschobenen Sachentscheidung; diese Kriterien werden vom EPA nicht berücksichtigt, da es sich nicht mit Verletzungsklagen befasst.
III. Auswirkungen der Entscheidungen der Beschwerdekammern des EPA auf Patentverfahren vor französischen Gerichten
Französische Praxis
Für französische Gerichte ist das EPA einschließlich der Großen Beschwerdekammer kein Rechtsprechungsorgan, sondern eine Behörde, deren Aufgabe es ist, Patente zu erteilen oder zu versagen. Sie fühlen sich daher an die Beschwerdekammerentscheidungen nicht gebunden.
So vermochte die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer, wonach eine Dosierung als zweite therapeutische Anwendung angesehen werden kann, die französischen Richter weder in der ersten Instanz noch in der Berufung zu überzeugen (vgl. Urteile des TGI Paris vom 20. März 2012 (Teva gegen Eli Lilly) und des Berufungsgerichts von Paris vom 12. März 2014)
Weiteres Beispiel: Die Entscheidung über die Patentierbarkeit von DNA, der der Kassationsgerichtshof nicht gefolgt ist (der Oberste Gerichtshof der USA hat letzten Juni die Entscheidungen des USPTO, das die Patentierbarkeit von DNA als solcher anerkannt hatte, ebenfalls aufgehoben).
Mögliche Praxis des Einheitsgerichts
Die Patentierbarkeit von DNA scheint mir ein gutes Beispiel dafür zu sein, dass Patentgerichte, die über dieselben Fragen zu urteilen haben wie ein Patentamt, anders "reagieren", weil die Richter Gesichtspunkte berücksichtigen, die vor dem Patentamt nicht thematisiert werden. Auch wenn es um denselben Sachverhalt geht und die Rechtsgrundlagen weitgehend identisch sind, ist die Auseinandersetzung anders gelagert, und die Auslegungen unterscheiden sich.
Meines Erachtens sollten die Entscheidungen des EPA den nationalen Gerichten daher als ein Denkanstoß unter anderen dienen, sich aber nicht direkt auf deren Entscheidungen auswirken, und diese Praxis sollte vor dem Einheitsgericht beibehalten werden.
IV. Patentierbarkeit von computerimplementierten Erfindungen
Französische Praxis
Nachdem sich insbesondere das französische Patentamt INPI lange geweigert hatte, computerimplementierte Erfindungen als patentierbar anzusehen, wurden solche Patente in einigen Entscheidungen unter der Voraussetzung anerkannt, dass neben einer erfinderischen Tätigkeit ein weiterer technischer Effekt nachgewiesen wird.
Derartige Patente schützen etwa Computerprogramme zum Einsatz in einer Registrierkasse, die zugleich Einkaufsgutscheine ausgibt, oder Computerprogramme für die Wartung von Heizkesseln (Fernwartungsheft).
Diese Erfindungen sind jedoch an der Grenze zwischen dem Urheberrecht an Computerprogrammen und Methoden angesiedelt und in Frankreich mit einiger Rechtsunsicherheit behaftet, denn ihr technischer Effekt ist mitunter schwer nachzuweisen, so dass keineswegs sicher ist, dass das Patent vor Gericht Bestand haben wird; in der großen Mehrzahl der Fälle wurden die Patente für nichtig erklärt.
V. Erfinderische Tätigkeit: Aufgabe/Lösungs-Ansatz
Die französische Rechtsprechung hat sich diesen Ansatz in den meisten Fällen zu eigen gemacht, ohne dass dies allerdings die Regel wäre.
Übernommen wurde der Grundsatz, dass nachgewiesen werden muss, dass der Fachmann anhand seines Fachwissens nicht nur zu der Erfindung hätte gelangen können, sondern notwendigerweise zu ihr gelangt wäre.
In der Debatte steht gegenwärtig die Definition des Fachwissens am Anmelde- bzw. Prioritätstag. Erstreckt sich dieses Wissen auf andere Fachgebiete, so muss erklärt werden, warum der Fachmann über diese Kenntnisse verfügen musste. Bei einem Team von Fachleuten sind nach Auffassung des Tribunal de grande instance und des Berufungsgerichts von Paris nunmehr auch die Gründe für die Zusammenstellung des Teams darzulegen.