ARBEITSSITZUNG
Das einheitliche Patentgericht
Vergleich und Zusammenwirken zwischen EPA-Beschwerdekammern und nationalen Gerichten – Sachlage und Lösungen für das EPG
Vorsitz: Sir Robin Jacob (GB)
Sir Richard ARNOLD
Richter, High Court, Chancery Division
Widerruf eines Patents nach rechtskräftigem Verletzungsurteil: was dann? Nationale Praxis und künftige Praxis des EPG
I. Situation im Vereinigten Königreich
Infolge der jüngsten Entscheidung des Supreme Court in der Sache Virgin Atlantic Airways Ltd gegen Zodiac Seats UK Ltd ([2013] UKSC 46, [2014] AC 160) hat sich die Rechtslage im Vereinigten Königreich verändert.
Sachverhalt
Im Fall Virgin gegen Zodiac war die Sachlage kompliziert und in mancherlei Hinsicht ungewöhnlich. Virgin war Inhaberin des am 30. Mai 2007 erteilten europäischen Patents (UK) 1 495 908. Darin wurde ein Flugzeugsitz zur Verwendung bei Langstreckenflügen beschrieben und beansprucht, der heruntergeklappt ein flaches Bett bildet. Die Firma Zodiac stellte eine Sitzeinheit mit dem Namen Solar Eclipse her, die an mehrere internationale Fluggesellschaften geliefert wurde.
Am 30. Juli 2007 klagte Virgin vor dem High Court of England and Wales gegen Zodiac auf Unterlassung und Schadenersatz mit der Begründung, dass deren "Solar Eclipse"-Sitze ihr Patent verletzten. Zodiac brachte in ihrer Klageerwiderung vor, dass ihre Sitze nicht unter die Patentansprüche fielen. Sollten die Ansprüche aber so breit sein, dass sie sich auf ihre Sitze erstreckten, wäre das Patent wegen mangelnder Neuheit und unzulässiger Erweiterung nichtig.
Am 29. Februar 2008 legte Zodiac vor dem EPA gemeinsam mit mehreren Fluggesellschaften, denen im Fall der Rechtsbeständigkeit des Patents Verletzungsklagen drohten, Einspruch gegen das Patent ein. Eine Aussetzung des englischen Verfahrens wurde zunächst nicht beantragt.
Am 21. Januar 2009 entschied der High Court (Justice Lewison) im englischen Verfahren ([2009] EWHC 26 (Pat), [2009] ECDR 127), dass die "Solar Eclipse"-Sitze von Zodiac das Patent nicht verletzten. Der Richter hielt fest, wenn die Patentansprüche so breit gewesen wären, dass sie sich auf das Sitzsystem von Zodiac erstreckt hätten, hätte er das Patent wegen Erweiterung des Schutzgegenstands für nichtig erklärt. Alle sonstigen Nichtigkeitsgründe wies er jedoch zurück. Virgin legte Berufung gegen die Entscheidung über die Verletzung ein, und Zodiac legte Anschlussberufung in Bezug auf die Rechtsbeständigkeit ein.
Am 31. März 2009 hielt die Einspruchsabteilung des EPA das Patent mit kleinen Änderungen aufrecht. Zodiac und die übrigen Einsprechenden gaben sofort ihre Absicht bekannt, vor der Technischen Beschwerdekammer Beschwerde einzulegen. Dies gab Anlass zu einem Schriftwechsel zwischen den Anwälten der Parteien hinsichtlich der Folgen, die es hätte, wenn der englische Court of Appeal das Patent für rechtsbeständig befände und die Technische Beschwerdekammer es später in relevanter Hinsicht für nichtig erklärte. Die Anwälte von Zodiac schlugen vor, die Berufung auszusetzen, bis das Einspruchsverfahren vor dem EPA rechtskräftig abgeschlossen sei. Die Anwälte von Virgin lehnten dies ab. Am selben Tag informierten sie den Court of Appeal schriftlich über den Sachstand und den wahrscheinlichen Ausgang des Einspruchsverfahrens und fassten ihren Schriftwechsel mit den Anwälten von Zodiac zusammen. Am 12. Mai 2009 erwiderte das Civil Appeals Office, dass Lord Justice Jacob angewiesen habe, einstweilen das Verfahren nicht auszusetzen; die Parteien könnten jedoch nach Ergehen des Urteils des Court of Appeal die Aussetzung beantragen, falls dann noch relevant.
Diese Anweisung wurde erteilt, ohne dass die Parteien vorab unterrichtet wurden und ohne dass den Vertretern von Zodiac Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde.
Mit Urteil vom 22. Oktober 2009 ([2009] EWCA Civ 1062, [2010] RPC 192) gab der Court of Appeal (Lord Justices Jacob und Patten, Justice Kitchin) der Berufung von Virgin in Sachen Verletzung statt, verwarf aber die Berufung von Zodiac in Sachen Rechtsbeständigkeit und befand somit das Patent für rechtsbeständig und verletzt. Zodiac beantragte daraufhin – wie offenbar in der Anweisung Lord Justice Jacobs vom 12. Mai 2009 angedacht – die Aussetzung des Beschlusses bis zum Abschluss des Einspruchsverfahrens vor dem EPA. Am 21. Dezember 2009 wies der Court of Appeal den Antrag ab ([2009] EWCA Civ 1513, [2010] FSR 396). Hauptbegründung für die Abweisung des Antrags war, dass es sinnlos wäre, den Berufungsbeschluss auszusetzen, da infolge der Entscheidung des Court of Appeal in der Sache Unilin BV gegen Berry Floor NV ([2007] EWCA Civ 364, [2007] FSR 25) eine spätere Widerrufsentscheidung der Technischen Beschwerdekammer ohne Konsequenzen bliebe, weil die Entscheidung des Court of Appeal die Parteien rechtskräftig binden würde. Mit Beschluss vom 12. Januar 2010 erklärte der Court of Appeal das Patent für rechtsbeständig und verletzt, untersagte per einstweiliger Verfügung die weitere Verletzung des Patents und wies eine Schadenersatzfeststellung für die erfolgte Verletzung an. Die einstweilige Verfügung war insofern eingeschränkt, als die Lieferung von Sitzen an Delta im Rahmen eines bestehenden Vertrags unter der Auflage gestattet wurde, dass Zodiac für jeden gelieferten Sitz 10 000 GBP an Virgin zahlt, schloss im Übrigen aber alle künftigen Verletzungen ein.
Damals war die mündliche Verhandlung vor der Technischen Beschwerdekammer für den 20. April 2010 anberaumt. Wegen der Unterbrechungen des Flugverkehrs infolge des Ausbruchs des Vulkans Eyjafjalajökull in Island wurde sie jedoch auf den 9. September 2010 verlegt. An diesem Verhandlungstermin wich die Technische Beschwerdekammer dann von der Entscheidung der Einspruchsabteilung ab. Sie befand alle Ansprüche, deren Verletzung in England festgestellt wurde, für nichtig, bestätigte aber den Rechtsbestand des Patents in geänderter Form. Zu diesem Zeitpunkt hatte jedoch der Supreme Court die Berufung von Zodiac gegen die Entscheidung des Court of Appeal nicht zugelassen.
Auf die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer hin beantragte Zodiac beim Court of Appeal die Aufhebung der einstweiligen Verfügung sowie verschiedene Änderungen des Beschlusses des Court of Appeal. Die einstweilige Verfügung wurde am 1. Dezember 2010 einverständlich aufgehoben. Die anderen von Zodiac beantragten Änderungen waren i) Ersatz der ergangenen Erklärungen durch neue Erklärungen, aus denen eindeutig hervorgeht, dass das für rechtsbeständig erklärte Patent das nicht geänderte Patent war, ii) Aufhebung des Beschlusses zur Herausgabe der angeblich patentverletzenden Erzeugnisse, iii) Aufhebung des Beschlusses zur Schadenersatzfeststellung und iv) Aufhebung der Verpflichtung Zodiacs, für jeden an Delta gelieferten Sitz 10 000 GBP zu zahlen, nebst Rückerstattung der bereits gezahlten 3 600 000 GBP.
Am 23. Februar 2011 entschied der Court of Appeal (Lord Justices Smith, Jacob und Patten) ([2011] EWCA Civ 163, [2011] FSR 27), dass i) die Erklärung nicht geändert werde, ii) der Beschluss zur Herausgabe aufgehoben werde, weil er angesichts der Änderung des Patents hinfällig sei, iii) der Beschluss zur Schadenersatzfeststellung aufrechterhalten werde, weil er lediglich dazu diene, die Wirkung der Entscheidung des Court of Appeal zu ermitteln, wonach das Patent rechtsbeständig sei und verletzt worden sei, und diese Entscheidung sei rechtskräftig, und iv) dass die 3 600 000 GBP nicht zurückerstattet würden, weil sie ein Vorschuss (u. a.) auf den festzustellenden Schadenersatz seien. Im Rahmen der Schadenersatzfeststellung forderte Virgin daraufhin Schadenersatz in Höhe von mindestens 49 Mio. GBP.
In der Zwischenzeit hatte Virgin drei Klagen vor dem High Court gegen Kunden angestrengt, die Sitzeinheiten von Zodiac gekauft hatten und benutzten; Zodiac trat diesen Verfahren bei. Virgin behauptete in ihren Klagen, dass die "Solar Eclipse"-Sitze das geänderte Patent verletzten. Am 27. Juli 2012 entschied der High Court (damals Justice Floyd), dass die "Solar Eclipse"-Sitze das geänderte Patent nicht verletzten: Virgin Atlantic Airways Ltd gegen Jet Airways Ltd [2012] EWHC 2153 (Pat), [2013] RPC 10. (Nach der Entscheidung des Supreme Court wurde das Urteil von Justice Floyd vom Court of Appeal bestätigt: [2013] EWCA Civ 1713.)
Zodiac legte beim Supreme Court gegen die Entscheidung des Court of Appeal vom 23. Februar 2011 Berufung ein.
Entscheidung
Der Supreme Court gab einstimmig der Berufung von Zodiac statt und entschied, dass Zodiac darauf vertrauen durfte, dass das Patent in der Form, in der sie es laut dem Urteilsspruch des Court of Appeal verletzt habe, später von der Technischen Beschwerdekammer in Reaktion auf die von Virgin wegen Verletzung geltend gemachte Schadenersatzforderung für nichtig erklärt worden war. Die Begründung des Supreme Court lässt sich wie folgt zusammenfassen: Nach Artikel 68 EPÜ gelte der Widerruf oder die Änderung eines Patents rückwirkend ab dem Tag der Patenterteilung. Zudem handle es sich um eine Entscheidung in rem, die also nicht auf bestimmte Parteien beschränkt sei, sondern den Status des Patents gegenüber aller Welt bestimme und jedermann das Recht verleihe, so zu verfahren, als hätte das nicht geänderte Patent nie existiert. Der Grundsatz der Rechtskraftwirkung (res judicata) verbiete es Zodiac zwar, auf die Rechtsbeständigkeit oder die Verletzung des nicht geänderten Patents abzuheben, über die der Court of Appeal zu ihren Ungunsten entschieden hatte, hindere Zodiac aber nicht daran, sich im Verfahren zur Feststellung von Schadenersatz darauf zu berufen, dass das Patent nach dieser Entscheidung geändert worden war. Die Änderung des Patents durch die Technische Beschwerdekammer sei eine nachträglich eingetretene Tatsache und konnte deshalb zum Zeitpunkt der Entscheidung von Zodiac nicht vorgebracht werden. Zudem handle es sich dabei um eine ebenso unstrittige wie entscheidende Tatsache. Mit dem Vorbringen dieser Tatsache habe Zodiac nicht die Schlussfolgerungen des Court of Appeal in Bezug auf das nicht geänderte Patent infrage gestellt und nicht versucht, eine Sache wieder aufzurollen, über die das Gericht bereits entschieden hatte. Vielmehr stütze sich Zodiac auf die daraus resultierende Konsequenz, dass nämlich die Ansprüche, die dem Urteilsspruch des Court of Appeal zufolge verletzt worden waren, nunmehr als von Anfang an nichtig angesehen wurden.
Mit dieser Entscheidung hob der Supreme Court drei frühere Entscheidungen des Court of Appeal auf: Poulton gegen Adjustable Cover and Boiler Block Co [1908] 2 Ch 430, Coflexip SA gegen Stolt Offshore MS Ltd (No. 2) [2004] EWCA Civ 213, [2004] FSR 34, und Unilin gegen Berry.
Die Entscheidung lässt drei Fragen offen. Die erste lautet, was passiert, wenn der Beklagte zu dem Zeitpunkt, zu dem das Patent widerrufen oder geändert wird, bereits Schadenersatz an den Patentinhaber geleistet hat. Der Supreme Court hat diese Frage zwar angerissen, sich aber nicht abschließend dazu geäußert. Die zweite Frage lautet, inwieweit es einem Beklagten, der der Patentverletzung für schuldig befunden wurde, offen steht, nach erfolglosem Angriff auf den Rechtsbestand des Patents anschließend eine Nichtigkeitsklage zum selben Patent anzustrengen. Natürlich kann der Beklagte nicht die gleichen Nichtigkeitsgründe erneut vorbringen. Kann er aber neue Gründe geltend machen, wie etwa einen neuen Stand der Technik? Die Auswirkung der Entscheidung des Supreme Court auf diese Frage ist unklar; die Antwort könnte lauten, dass es darauf ankommt, ob der Beklagte bei Beachtung der angemessenen Sorgfalt den neuen Stand der Technik während des früheren Verfahrens hätte ermitteln können. Die dritte Frage lautet, ob der Beklagte, wenn er das Patent nicht aus neuen Gründen angreifen kann (z. B. weil er nicht die angemessene Sorgfalt beachtet hat), einen Dritten rechtmäßig damit beauftragen kann.
II. Wie wird das EPG handeln?
Die Wirkung eines nachträglichen Widerrufs des Patents nach einem rechtskräftigen Verletzungsurteil wird sicher irgendwann zum Gegenstand einer Entscheidung des EPG werden, und dieser Aufsatz soll die Bewertung keinesfalls vorwegnehmen. Die folgenden Betrachtungen über die grundsätzliche Problematik seien jedoch gestattet.
Weder die Verordnung 1257/2012/EU noch das EPG-Übereinkommen, die Satzung oder die Verfahrensordnung enthält eine Vorschrift, die diesen Aspekt direkt behandelt. Es gibt nur drei Vorschriften von offenkundiger Relevanz. Die erste ist Artikel 65 (4) des EPG-Übereinkommens:
"Soweit ein Patent für nichtig erklärt wurde, gelten die in den Artikeln 64 und 67 EPÜ genannten Wirkungen als von Anfang an nicht eingetreten."
Diese Vorschrift, die Artikel 68 EPÜ entspricht, könnte als Grundlage für dieselbe Argumentation wie die des Supreme Court in Virgin gegen Zodiac herangezogen werden.
Die zweite Vorschrift ist der folgende Satz in Regel 354 (4) der Verfahrensordnung (16. Entwurf):
"Wenn aufgrund der Feststellung einer Patentverletzung eine vollstreckbare Entscheidung oder ein vollstreckbarer Beschluss ergangen ist, das Patent jedoch nach Verfahrensabschluss geändert oder widerrufen wird, kann das Gericht auf Antrag der Partei, gegen die die Entscheidung oder der Beschluss vollstreckbar wäre, anordnen, dass die Entscheidung oder der Beschluss nicht mehr vollstreckbar ist."1
Mit dieser Bestimmung wird es offensichtlich ins Ermessen des EPG gestellt anzuordnen, dass ein Beschluss nicht mehr vollstreckbar ist. Das EPG könnte somit eine einstweilige Verfügung aufheben. Doch berechtigt die Bestimmung es nicht, bereits vollstreckte Beschlüsse rückgängig zu machen. Zudem ist nicht klar, ob das EPG diesen Ermessensspielraum dazu nutzen könnte, die Rechtskraftwirkung einer früheren Entscheidung zur Rechtsbeständigkeit des Patents aufzuheben.
Die dritte Vorschrift ist Regel 362 der Verfahrensordnung (16. Entwurf):
"Das Gericht kann jederzeit auf Antrag einer der Parteien oder von Amts wegen nach Anhörung der Parteien befinden, dass unverzichtbare Prozessvoraussetzungen fehlen, z. B. wegen der Anwendung des Grundsatzes der Rechtskraftwirkung."2
Mit dieser Bestimmung wird der Grundsatz der Rechtskraftwirkung anerkannt. Dies wirft aber die Frage auf, welches Recht für die Rechtskraftwirkung einer früheren Entscheidung anwendbar ist: das Recht der Europäischen Union oder das nationale Recht, und wenn Letzteres der Fall ist, bestimmt sich das anwendbare nationale Recht nach Artikel 5 (3) der Verordnung 1257/2012/EU oder nach Artikel 24 (2) des EPG-Übereinkommens?
Schließlich kann die Antwort, wie aus Virgin gegen Zodiac hervorgeht, davon abhängen, ob es nur einen Beschluss zu prüfen gilt, mit dem der Beklagte zu Schadenersatz verurteilt wird, oder ob der Beklagte bereits Schadenersatz geleistet hat. Im zweiten Fall muss der Beklagte möglicherweise eine Klage auf Rückerstattung anstrengen, für die das EPG nach Artikel 32 (1) des EPG-Übereinkommens wohl nicht zuständig ist.