BERICHTE NATIONALER RICHTER
Aktuelle Entwicklungen des Patentrechts und der Rechtsprechung auf europäischer und nationaler Ebene
NL Niederlande
Edger BRINKMAN
Richter, Berufungsgericht
Statistik
Von Juni 2012 bis Juni 2014 haben niederländische Gerichte die folgende Zahl von Urteilen erlassen:
Oberster Gerichtshof: 9 (7 mehr als 2010 - 2012)
- Berufungsgericht Den Haag: 25 (unverändert gegenüber 2010 - 2012)
- Bezirksgericht Den Haag: 60 Hauptsacheverfahren, 31 summarische Verfahren ("kort geding") (20 weniger als 2010 - 2012)
Diese statistischen Angaben basieren ausschließlich auf ausverhandelten kontradiktorischen Fällen. Nicht berücksichtigt sind Zwischenentscheidungen, Zurücknahmen, Versäumnisfälle und Einigungen.
Häufig wurden mehrere Patente in einem Fall behandelt. Außerdem werden in den Niederlanden Verletzung und Gültigkeit eines Patents fast immer in einem einzigen Verfahren geprüft, d. h. es gibt keine Verzweigung.
Erfinderische Tätigkeit/Neuheit
Als erster wichtiger Fall ist Lundbecks Patent EP 0 347 066 für Escitalopram (S-Enantiomer von Citalopram) zu nennen. Dieses Patent enthält Verfahrens- und Erzeugnisansprüche. Das Berufungsgericht Den Haag befand am 24. Januar 2012 in der Sache Lundbeck gegen Tiefenbacher et al. das Verfahren für neu und erfinderisch, das Erzeugnis hingegen für neu, aber nicht erfinderisch. Laut Berufungsgericht Den Haag bestand zum Prioritätszeitpunkt ein starker Anreiz, R- und S-Enantiomere von Citalopram aufzuspalten, um zu testen, welches Enantiomer wirkt. Das Gericht sah Lundbecks technischen Beitrag zum Stand der Technik im Verfahren (zur Aufspaltung der Enantiomere) und nicht im Erzeugnis (Escitalopram). Es verwies unter anderem darauf, dass das unmittelbare Erzeugnis des Verfahrens von Lundbeck bereits geschützt war (Artikel 64 (2) EPÜ), weswegen Lundbeck das Erzeugnis nicht beanspruchen konnte.
Der Vorsitzende des Bezirksgerichts Den Haag befand am 14. August 2012 (in der Sache Lundbeck gegen einen anderen Generikahersteller, nämlich Sandoz) die Argumentation des Berufungsgerichts für nicht stichhaltig, weil vor der Erfindung des Verfahrens durch Lundbeck niemand das S-Enantiomer (Escitalopram) herstellen konnte. Deshalb – so der Vorsitzende – stelle logischerweise auch das Erzeugnis einen technischen Beitrag der Erfinder dar. Der Oberste Gerichtshof der Niederlande schloss sich am 7. Juni 2013 dem Vorsitzenden an und befand, dass ein an sich naheliegendes Erzeugnis erfinderisch sein kann, wenn kein Verfahren zu seiner Herstellung bekannt ist. Laut Oberstem Gerichtshof steht die Entscheidung "im Einklang mit" (in Niederländisch "in lijn met") EPA- sowie britischen und deutschen Entscheidungen. Wie der Oberste Gerichtshof (anders als das Berufungsgericht) weiter befand, liegt die Beweislast, dass schon vorher ein Verfahren zur Herstellung der Verbindung bekannt war, bei der Partei, die das Patent anficht. Außerdem sei der Aufgabe-Lösungs-Ansatz bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht erforderlich.
In der Sache Teva gegen Sanofi befand das Bezirksgericht Den Haag am 2. Oktober 2013 Folgendes: Wenn ein beanspruchtes Erzeugnis bloß eine Alternative ist (d. h. keine Verbesserung beansprucht wird), muss nicht nachgewiesen werden, dass es einen Anhaltspunkt für diese Alternative gibt. Alle Alternativen sollten als Lösung für die Aufgabe angesehen werden, eine alternative Zusammensetzung bereitzustellen (Irbesartan als Alternative zu DuP753). Das Gericht erachtete deshalb das Irbesartan-Patent und das ergänzende Schutzzertifikat für ungültig (das Berufungsgericht Den Haag hatte das Schutzzertifikat bereits zuvor in einem summarischen Verfahren für ungültig befunden, was inzwischen vom EuGH bestätigt wurde).
In der Sache Sandoz-Accord gegen Astra Zeneca urteilte das Berufungsgericht Den Haag am 10. Juni 2014. Dabei ging es um eine Retardformulierung des Neuroleptikums Quetiapin. Das Berufungsgericht befand das Patent für naheliegend (ebenso wie in Großbritannien Justice Arnold: in der Beschwerde aufrechterhalten), weil ein eindeutiger Anreiz bestand, Quetiapin u. a. im Interesse von Patientenkomfort und -loyalität mit vertretbaren Erfolgsaussichten als Retardpräparat zu formulieren. Laut Berufungsgericht Den Haag sind viele von Astra Zeneca formulierte Aufgaben im Patent nicht erwähnt und stellen auch keine echten Aufgaben dar.
Erweiterung
Ein wichtiges Thema bei Streitverfahren ist nach wie vor die Erweiterung, insbesondere in Form von Zwischenverallgemeinerungen (vgl. u. a. Berufungsgericht Den Haag Vermop gegen Rubbermaid 5.7). In seinem Urteil vom 12. September 2012 in der Sache Occlutech gegen AGA (eine weitere Teilanmeldung, EP 0 957 773, nicht EP 0 808 138, bei der es um die Auslegung des Plurals "Klemmen" ging) folgte das Bezirksgericht dem dreiteiligen Ansatz, den das EPA häufig bei der Streichung eines Merkmals verfolgt. Die Anwendbarkeit dieses Ansatzes wurde im Übrigen von den Parteien nicht bestritten. Nach diesem Ansatz sollte das zu streichende Merkmal
i) in der Offenbarung nicht als Unterscheidungsmerkmal herausgestellt werden,
ii) nicht unentbehrlich für das Funktionieren der Erfindung sein und
iii) keine faktische Modifizierung anderer Merkmale erfordern.
Ausnahmen von der Patentierbarkeit
Das Berufungsgericht in Den Haag entschied am 25. Juni 2013 in der Sache Rovi gegen Ziggo. Es befand, dass EP 1 244 300 betreffend einen elektronischen Fernsehprogramm-Guide nicht gegen Artikel 52 EPÜ verstößt, solange die Ansprüche technische Merkmale aufweisen. Im Hinblick auf Neuheit und erfinderische Tätigkeit sollten nur die technischen Merkmale betrachtet werden. Nichttechnische Merkmale, die nicht mit den technischen Merkmalen zusammenwirken, sind außer Acht zu lassen. Das Berufungsgericht Den Haag schloss sich dem Standpunkt in T 154/04 (Duns) und G 3/08 an und befand das Patent für nicht erfinderisch.
Auch der Fall Taste of Nature gegen Cresco ist von Interesse, in dem es um das Patent EP 1 290 938 von Taste of Nature für eine Raphanus-sativa-Pflanze ging. Gemäß Artikel 53 b) EPÜ werden für Pflanzensorten oder Tierrassen sowie im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren keine Patente erteilt. Die Große Beschwerdekammer des EPA hatte in G 1/08 befunden, dass der Gesetzgeber damit herkömmliche Pflanzenzuchtverfahren (wie Kreuzen und Screenen) vom Patentschutz ausschließen wollte. Auch wenn ein technisches Merkmal in das Verfahren aufgenommen wird, ist das Verfahren immer noch nicht patentierbar. Der Vorsitzende des Bezirksgerichts Den Haag entschied am 31. Januar 2012, dass die Ausnahme in Artikel 53 b) EPÜ auch für Plant-by-Process-Ansprüche gilt, denn sonst wäre G 1/08 wirkungslos, weil die Züchter das herkömmliche Verfahren, das von der Patentierbarkeit ausgenommen werden soll, nach wie vor nicht nutzen könnten. Das Bezirksgericht Den Haag vertrat jedoch am 8. Mai 2013 im Hauptsacheverfahren einen anderen Standpunkt. Es befand, dass die Ausnahme in Artikel 53 b) EPÜ nicht für Plant-by-Process-Ansprüche gilt, weil Artikel 53 b) EPÜ seinem Wortlaut nach eindeutig auf Verfahren abhebt. Der Gesetzgeber wollte also offenbar nur Verfahrens-, nicht aber Erzeugnisansprüche ausschließen. Es liegt keine Aushöhlung des Artikels 53 b) EPÜ vor, da Verfahren nach wie vor ausgeschlossen sind und das Erzeugnis neu und erfinderisch sein muss, um patentierbar zu sein. Das Berufungsgericht Den Haag entschied im summarischen Verfahren am 28. Mai 2013 in der Beschwerde genauso, weil die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nach niederländischer Rechtsprechung Vorrang hat.
Schutzumfang
Hier fällte der Oberste Gerichtshof der Niederlande am 4. April 2014 ein Grundsatzurteil in der Sache Medinol gegen Abbott. Der Fall betraf das Patent EP 1 181 902 für einen flexiblen expandierbaren Stent, dessen Mäandermuster nach dem Wortlaut der Ansprüche sowohl in Phase als auch phasenverschoben sein konnte. In der Beschreibung und in den Zeichnungen ging es jedoch eindeutig um das Problem der "Verkürzung", das sich nur bei phasenverschobenen Mustern stellt. Dem Obersten Gerichtshof zufolge hatte das Berufungsgericht Den Haag den Anspruch zu Recht auf diese Muster beschränkt (Verweis auf das Protokoll zur Auslegung von Artikel 69 EPÜ). Die Beschreibung und die Zeichnungen können demnach den Wortlaut der Ansprüche beschränken.
Medinol brachte vor, dass es zum Zeitpunkt der Verletzung auch Mäandermuster in Phase gab, bei denen eine Verkürzung auftrat. Laut Oberstem Gerichtshof der Niederlande waren im Hinblick auf die Verletzung zwei Fragen zu klären:
i) Interpretation des Patents zur Bestimmung des Schutzumfangs
ii) Ermittlung, ob ein Erzeugnis/Verfahren in diesen Schutzbereich fällt
Zu i) gibt es verschiedene Auffassungen (u. a. Wesen der Erfindung: worin liegt der Beitrag der Erfindung zum Stand der Technik), wobei jeweils der Anmelde- und Prioritätstag maßgeblich ist (Ausnahme: "file wrapper estoppel"). Zu ii) ist auch das Wissen des Durchschnittsfachmanns zum Zeitpunkt der Verletzung zu berücksichtigen, insbesondere bei der Bestimmung von Äquivalenten (Art. 2 des Protokolls zur Auslegung von Art. 69 EPÜ). Da sich Medinols Vorbringen auf Punkt i) bezog, hatte das Berufungsgericht Den Haag zu Recht das Wissen zum Prioritätszeitpunt zugrunde gelegt und auf Nichtverletzung entschieden.
Das Berufungsgericht Den Haag entschied am 31. Dezember 2013 in der Sache Bayer gegen Sandoz. Bei diesen Verfahrenspatenten war eine eindeutige Wahl getroffen worden, eine bestimmte Variante zu beanspruchen. In einem Patent wurde ein Rutheniumsalz-Katalysator für den Oxidationsschritt beansprucht, während der angebliche Patentverletzer Sandoz einen TEMPO-Katalysator verwendete. Im anderen Patent erfolgte die Wassereliminierung durch pTSA, d. h. durch Zugabe einer Säure, während Sandoz eine Pyridinbase verwendete. Die angemessene Rechtssicherheit für Dritte verlangt, dass bei derart unterschiedlichen Varianten keine Verletzung vorliegen kann, auch wenn es für die Erfindung unerheblich ist, welche Variante verwendet wird: "Offenbart, aber nicht beansprucht ist ausgeklammert."
Am 13. September 2013 erging das Urteil des Obersten Gerichtshof der Niederlande in der Sache Ajinomoto gegen Global. Artikel 8 und 9 der Biotech-Richtlinie betreffen biologisches Material. Durch genetisch veränderte E.Coli hergestelltes Lysin ist kein biologisches Material, weshalb das Monsanto-Urteil des EuGH vom 6. Juli 2010 hier nicht greift und es keinen Test gibt, ob das genetische Material nach wie vor seine Funktion erfüllt.