BERICHTE NATIONALER RICHTER
Aktuelle Entwicklungen des Patentrechts und der Rechtsprechung auf europäischer und nationaler Ebene
ARBEITSSITZUNG
Aktuelle Entwicklungen in Recht und Rechtsprechung auf europäischer und nationaler Ebene
Vorsitz: Kai Härmand (EE)
BERICHTE NATIONALER RICHTER
CH Schweiz
Dieter BRÄNDLE
Präsident, Schweizerisches Bundespatentgericht
Jüngste Entwicklungen im Patentrecht und in der Rechtsprechung auf europäischer und nationaler Ebene
I. Entscheidungen aus der Schweiz
Werte Kolleginnen und Kollegen, liebe Freunde,
ich berichte Ihnen über drei Entscheidungen aus der Schweiz, zwei vom Bundespatentgericht und eine vom Bundesgericht, der (einzigen) Rechtmittelinstanz. Alle drei Entscheidungen behandeln grundsätzliche Fragen, die auch in Ihren Ländern von Interesse sein dürften.
II. Äquivalenz (S2013_001)
1. Schweiz bisher
Der erste Fall befasst sich mit der Frage, welches die Voraussetzungen für das Vorliegen von Äquivalenz sind.
In der Schweiz war gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichts Äquivalenz gegeben, wenn
- ein Verfahren oder ein Erzeugnis, obwohl es ein oder mehrere Merkmale des Anspruchs nicht verwirklicht, diese Merkmale durch andere ersetzt, die im Rahmen der der patentierten Lösung zugrunde liegenden Aufgabe die gleiche Funktion wie die anspruchsgemäßen Merkmale erfüllen
(BGE 97 II 85, E. 2), [erste Frage]
und
- diese anderen, die Anspruchsmerkmale ersetzenden Merkmale zudem dem durchschnittlich gut ausgebildeten Fachmann durch die patentierte Lehre nahegelegt sind
(BGE 97 II 85 E. 1; BGE 125 III 29 E. 3b; 115 II 490 E. 2a) [zweite Frage].
Es gab also zwei Fragen, eine nach der gleichen Funktion bzw. der Gleichwirkung und eine nach dem Naheliegen.
2. Deutschland
In Deutschland sind gemäß der Rechtsprechung des BGH drei Fragen zu beantworten:
(1) Löst die angegriffene Ausführungsform das der Erfindung zugrunde liegende Problem mit zwar abgewandelten, aber objektiv gleichwirkenden Mitteln? (Gleichwirkung, entspricht obiger erster Frage)
(2) Wenn ja: Befähigen seine Fachkenntnisse den Fachmann, die abgewandelten Mittel als gleichwirkend aufzufinden? (Auffindbarkeit für den Fachmann, entspricht obiger zweiter Frage)
(3) Wenn ja: Sind die Überlegungen, die der Fachmann hierzu anstellen muss, derart am Sinngehalt der im Patentanspruch unter Schutz gestellten technischen Lehre orientiert, dass der Fachmann die abweichende Ausführung mit ihren abgewandelten Mitteln als eine Lösung in Betracht zieht, die der wortsinngemäßen gleichwertig ist? (Gleichwertigkeit)
(BGH Schneidmesser I und II vom 12. März 2002, GRUR 2002, 515 und 519)
3. England und Wales
In England und Wales wird gefragt:
(1) Hat die Abweichung eine wesentliche Auswirkung auf die Funktionsweise der Erfindung?
Wenn ja, so liegt die Variante außerhalb des Patentanspruchs. Wenn nein –
(2) Wäre dies (d. h. dass sich die Abweichung nicht in wesentlicher Weise auswirkt) zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Patents für einen Fachmann offensichtlich gewesen?
Wenn nein, so liegt die Variante außerhalb des Patentanspruchs. Wenn ja –
(3) Hätte ein Fachmann dennoch aus dem Text des Patentanspruchs geschlossen, dass der Patentinhaber die buchstäbliche Übereinstimmung mit der primären Bedeutung als ein entscheidendes Erfordernis der Erfindung verstanden wissen wollte?
Wenn ja, so liegt die Variante außerhalb des Patentanspruchs.
(Improver Corporation/Remington Consumer Products Ltd; R.P.C. 1990, 181; GRUR Int. 1993, 245)
4. Schweiz neu gemäß Bundespatentgericht
Das Bundespatentgericht hat sich in einem Maßnahmeverfahren (einstweiliger Rechtsschutz) in seinem Urteil vom 21. März 2013 mit der eben dargelegten Situation in der Schweiz, in Deutschland und in England und Wales auseinandergesetzt und hat dann ausgeführt:
"Bei der Festlegung des über den Wortlaut hinausgehenden Schutzbereichs von Patenten (Äquivalenzbereich, Bereich der Nachahmung) muss bei aller Würdigung des Beitrags der Erfindung auch der Rechtssicherheit Dritter Rechnung getragen werden. Dritte müssen ohne unzumutbaren Aufwand beim Studium des Patents erkennen können, was erlaubt ist und was nicht, was gerade im Äquivalenzbereich schwierig sein kann. Die erste Frage der Gleichwirkung und die zweite Frage der Auffindbarkeit oder des Naheliegens für den Fachmann tragen diesem Interesse Rechnung, orientieren sich aber im Lichte des Anspruchsprimats (vgl. Art. 51 PatG) zu wenig am effektiven Anspruchswortlaut. Die schweizerische Rechtsprechung kennt bisher die sich am effektiven Wortlaut der Ansprüche orientierende dritte Frage der Gleichwertigkeit bei der Beurteilung der Äquivalenz nicht. Im Hinblick auf das Vertragsziel der Rechtseinheit im Zusammenhang mit der Auslegung des Schutzbereichs europäischer Patente, und um solche geht es vorliegend, sind aber einschlägige Entscheide ausländischer Gerichte bei der Auslegung zu berücksichtigen, wobei höchstrichterliche Urteile besonderes Gewicht haben (vgl. BGE 121 III 336 E. 5c S. 338; BGE 117 II 480 E. 2b S. 486 f.; BGE 137 III 170E. 2.2). In diesem Sinn ist die oben diskutierte Frage der Gleichwertigkeit auch von der schweizerischen Rechtsprechung zu berücksichtigen, und zwar sowohl bei europäischen als auch bei schweizerischen Patenten, denn diese dritte Frage gewährleistet, dass der Äquivalenzbereich in für Dritte möglichst nachvollziehbarer Weise auf Abweichungen beschränkt wird, die aus dem Wortlaut des Anspruchs heraus vom Fachmann als der Abweichung zugänglich und gleichwertig erkannt werden." (S2013_001)
Das heißt, nach Auffassung des Bundespatentgerichts müssen für das Vorliegen von Äquivalenz folgende Fragen kumulativ bejaht werden können:
1. Erfüllen die ersetzten Merkmale die objektiv gleiche Funktion? (Gleichwirkung)
2. Werden die ersetzten Merkmale und deren objektiv gleiche Funktion dem Fachmann durch die Lehre des Patentes nahe gelegt? (Auffindbarkeit)
3. Hätte der Fachmann bei Orientierung am Anspruchswortlaut im Lichte der Beschreibung die ersetzten Merkmale als gleichwertige Lösung in Betracht gezogen? (Gleichwertigkeit)
(Sie finden diesen Entscheid – wie auch alle anderen Entscheide des Bundespatentgerichts – auf unserer Website.)
Mit diesem Entscheid hat das Bundespatentgericht – in Berücksichtigung höchstrichterlicher ausländischer Entscheide – einen weiteren Schritt auf dem Weg zur Harmonisierung in Europa gemacht. Filigrane Unterschiede mögen bleiben. Der BGH spricht etwa in der dritten Frage vom "Sinngehalt der im Patentanspruch unter Schutz gestellten technischen Lehre", während wir – etwas bodennäher – vom "Anspruchswortlaut im Lichte der Beschreibung" sprechen. Aber das sollte letztlich in der Praxis wohl keinen großen Unterschied machen. Und auch die englische Formulierung, dass das Äquivalent mit der dritten Frage nur dann verneint wird, wenn der Fachmann erkennt, dass das Mittel gemäß Anspruch eine wesentliche Voraussetzung der Erfindung ist, dürfte zu ähnlichen Ergebnissen führen.
Dieser Entscheid des Bundespatentgerichts wurde – erfolglos – beim Bundesgericht angefochten. Unsere Äquivalenzfragen wurden dabei – leider, muss man sagen – nicht gerügt, sodass offen bleiben musste, wie das höchste Gericht diese Frage beurteilt.
III. Zeitliche Wirkung des Patents
1. Sachverhalt
Kurz vor Ablauf eines ergänzenden Schutzzertifikats bietet ein Generikahersteller sein – unter das Zertifikat fallendes – Generikum Ärzten zur Bestellung an, wobei er Lieferung nach Ablauf des ergänzenden Schutzzertifikats in Aussicht stellt.
Frage: Stellt diese Einladung zur Bestellung während der Laufzeit zur Lieferung nach Ablauf des ergänzenden Schutzzertifikats eine Verletzung dar?
2. Beurteilung
Das Bundespatentgericht kommt, in Einklang mit der Simvastatin-Entscheidung des BGH (X ZR 76/05 vom 5. Dezember 2006, "Simvastatin", E. 10) zu folgendem Schluss:
"Aus dem Sinn und Zweck des Verbots des Anbietens von Erzeugnissen, die Gegenstand des Schutzrechts sind, folgt, dass dem Schutzrechtsinhaber während der Laufzeit des Schutzrechts der für Erzeugnisse gewährte Schutz hinsichtlich aller Verletzungstatbestände und damit auch hinsichtlich des Anbietens ungeschmälert zur Verfügung stehen soll. Deshalb ist es jedem Dritten, solange der Schutz besteht, schlechthin verboten, das geschützte Erzeugnis anzubieten." (S2014_003)
Nur auf diesem Weg ist der Schutz während der ganzen Laufzeit gewährleistet. Dürften Generika schon früher (und natürlich zu tieferen Preisen) angeboten werden, bestünde die Gefahr, dass Bestellungen beim ESZ-Inhaber zugunsten des Generikaherstellers zurückgestellt würden.
IV. Befangenheit nebenamtlicher Richter
1. Sachverhalt
Vor dem Bundespatentgericht findet ein Prozess Nestlé gegen Denner (ein großer Lebensmitteldetaillist) betreffend Patentverletzung durch Vertrieb gewisser Kaffeekapseln statt. In der Spruchkammer wirkt ein nebenamtlicher Richter R, ein Teilzeitrichter, mit, der hauptamtlich in einer Patentanwaltskanzlei tätig ist. Im Zusammenhang mit der Abklärung möglicher Interessenkollision in einem anderen Verfahren stellt er fest, dass ein Kanzleikollege von ihm die Migros France in einer Markensache vertritt. Es ist ihm bekannt, dass Migros France zum Konzern Migros-Genossenschafts-Bund (dem größten Detailhandelsunternehmen in der Schweiz) gehört und dass auch Denner zu diesem Konzern gehört. Richter R orientiert das Bundespatentgericht über dieses Mandat seines Kollegen. Der Präsident orientiert seinerseits die Parteien und sagt, er sehe keinen Ausstandsgrund. Die Klägerin sieht das anders und stellt ein Ausstandsbegehren. Dieses wird vom Bundespatentgericht abgewiesen. Die Klägerin wendet sich an das Bundesgericht.
Wenn Sie jetzt denken, interessant, betrifft mich aber nicht, weil es bei uns keine Teilzeitrichter gibt und schon gar nicht solche, die hauptamtlich als Patentanwälte tätig sind, dann muss ich Ihnen sagen, noch nicht – aber bald. Ich komme darauf zurück.
2. Beurteilung
Das Bundesgericht geht bei seiner Beurteilung (BGE 139 III 433) von seiner Praxis zur hier anwendbaren Verfassungsbestimmung und von der Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 (1) EMRK aus. Letztere ist wichtig, weil sie in allen Ländern des Europarates zu beachten ist, und damit auch vom Einheitlichen Patentgericht.
Das Bundesgericht stellt vorab grundsätzlich fest, dass nebenamtliche Richter zwar eher berufliche Beziehungen zu Verfahrensparteien haben als Berufsrichter, aber das sei kein Grund, die Anforderungen an die Unabhängigkeit hinunterzuschrauben; im Gegenteil, man müsse genau hinsehen.
Zur Konzernproblematik, also wenn der nebenamtliche Richter zwar nicht unmittelbar für eine Verfahrenspartei anwaltlich tätig ist, aber für eine mit dieser eng verbundenen Person, so insbesondere eine Konzerngesellschaft, sagt das Bundesgericht, es gebe keine generelle Regel, sondern man müsse unter Berücksichtigung der konkreten Umstände beurteilen, ob das offene Mandatsverhältnis zwischen dem nebenamtlichen Richter bzw. seiner Kanzlei und einer Konzerngesellschaft mit einer vergleichbaren Nähe zur mit dieser verbundenen Verfahrenspartei einhergeht.
Im vorliegenden Fall stellte das Bundesgericht fest, das Interesse des Migros-Genossenschafts-Bunds an sämtlichen Marken – auch denjenigen seiner Tochtergesellschaften – und den entsprechenden Verfahren sei offensichtlich. Nach objektiver Betrachtung sei davon auszugehen, dass sich die Kanzlei von Richter R auch diesen Interessen verbunden fühle und es daher im Hinblick auf die Beurteilung des Ausstandsbegehrens nicht darauf ankommen kann, ob das offene Mandat zur Eintragung einer Schweizer Marke von einer Tochtergesellschaft des Migros-Genossenschafts-Bunds oder von diesem selbst erteilt worden sei. Gleichzeitig habe der Migros-Genossenschafts-Bund ein gewichtiges Interesse an dem beim Bundespatentgericht eingeleiteten Verfahren.
Das Bundesgericht kommt deshalb zum Schluss, aufgrund der engen Verbindung des Migros-Genossenschafts-Bunds und seinen gewichtigen Interessen sowohl am offenen Mandatsverhältnis als auch am Ausgang des vorliegenden Patentverletzungsprozesses sei die Frage der Befangenheit im konkreten Fall nicht anders zu beurteilen, als wenn der Migros-Genossenschafts-Bund selbst gleichzeitig Verfahrenspartei vor dem Bundespatentgericht und Mandant der Patentanwaltskanzlei des abgelehnten Richters wäre. Das offene Mandat seiner Patentanwaltskanzlei sei daher bei objektiver Betrachtung geeignet, den Anschein der Befangenheit des nebenamtlichen Richters R zu erwecken.
Das ist alles bestens nachvollziehbar. Wo liegt das Problem? Wir haben es mit großen Konzernen zu tun, mit Hunderten von Konzerngesellschaften, von denen einige selbst wieder Milliardenkonzerne sein können. Deshalb ist es für einen nebenamtlichen Richter praktisch unmöglich, abzuklären, ob nicht er oder ein Kanzleikollege ein Mandat von einer Gesellschaft hat, welche dem Konzern einer Verfahrenspartei angehört. Und wenn dann eine Partei im Laufe des Prozesses erkennt, dass dem so ist, kann sie gegen den Richter einen Befangenheitsantrag stellen. Das ist sehr unbefriedigend. Entgegen der Auffassung des Bundesgerichts kann dem Problem auch nicht mit einer "konsequenten Offenlegung besonderer Beziehungen zu einer mit einer Verfahrenspartei verbundenen Person" begegnet werden (E 2.1.6). Was der Richter weiß, legt er offen, das ist kein Problem. Das Problem liegt vielmehr darin, dass er sich nicht bewusst ist, dass ein Klient seiner Kanzlei zu einem bestimmten Konzern gehört.
Weshalb muss diese Ausstandsproblematik auch Sie interessieren?
Am Einheitlichen Patentgericht werden technisch qualifizierte Richter als Teilzeitrichter mitwirken (Satzung Art. 3 (6)):
"(6) Technisch qualifizierte Teilzeitrichter werden zu Richtern des Gerichts ernannt und auf der Grundlage ihrer spezifischen Qualifikation und Erfahrung in den Richterpool aufgenommen. Mit der Berufung dieser Richter an das Gericht wird gewährleistet, dass alle Gebiete der Technik abgedeckt sind."
Ihnen ist die Ausübung anderer Aufgaben (also z. B. als Patentanwalt) erlaubt, sofern kein Interessenkonflikt besteht (Übereinkommen Art. 17 (4)).
Besteht ein Interessenkonflikt, so nimmt der Richter nicht am Verfahren teil (Übereinkommen Art. 17 (5)). Die entsprechende Vorschrift über die Interessenkollision findet sich in der Satzung des Einheitlichen Patentgerichts (Art. 7 (2)):
"Die Richter dürfen nicht an Verhandlungen zu einer Sache teilnehmen, in der sie
a) als Berater mitgewirkt haben,
b) selbst Partei waren oder für eine der Parteien tätig waren,
c) als Mitglied eines Gerichts, einer Beschwerdekammer, einer Schieds- oder Schlichtungsstelle oder eines Untersuchungsausschusses oder in anderer Eigenschaft zu befinden hatten,
d) ein persönliches oder finanzielles Interesse an der Sache oder in Bezug auf eine der Parteien haben oder
e) in verwandtschaftlicher Beziehung zu einer Partei oder einem Vertreter einer Partei stehen."
Die Konzernproblematik sehe ich hier nicht wirklich behandelt. Das wird also spannend – wenn denn das Einheitliche Patentgericht tatsächlich irgendwann mal kommt.