ARBEITSSITZUNG
Welche Änderungen sind zulässig, damit die Erfordernisse von Artikel 123 (2) und (3) EPÜ erfüllt sind?
Klaus BACHER
Richter, Bundesgerichtshof
Welche Änderungen sind nach Artikel 123 Abs. 2 und 3 EPÜ zulässig?
I. Einleitung
Ich bin nicht unglücklich darüber, heute erst als zweiter Redner zu diesem Thema an der Reihe zu sein. Dies gibt mir nämlich die Gelegenheit, mich an die Ausführungen meines Vorredners anzuschließen und insbesondere auf die Grundsätze Bezug zu nehmen, die Herr Blumer uns in bewundernswerter Weise verdeutlicht hat.
Dem Bundesgerichtshof ist, soweit ich dies überblicken kann, in der Vergangenheit von verschiedener Seite vorgehalten (oder zugutegehalten) worden, er lege bei der Anwendung von Artikel 123 Abs. 2 und 3 EPÜ ein anderes Konzept zugrunde als die Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts. Angesichts dessen wird es Sie vielleicht überraschen, wenn ich heute die These vertrete, dass es keine fundamentalen Unterschiede zwischen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Entscheidungspraxis der Beschwerdekammern gibt. Damit Sie sich selbst ein Bild davon machen können, ob meine Behauptung zutrifft oder nicht, möchte ich Ihnen einige Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vorstellen, in denen der Inhalt der ursprünglichen Offenbarung oder die Erweiterung des Schutzbereichs von Bedeutung waren.
II. Verfahren zur Änderung eines erteilten Patents
Die Frage, ob der Gegenstand eines Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, stellt sich nicht nur im Erteilungsverfahren. Der Berechtigte hat auch nach der Erteilung noch eine Reihe von Verfahren zur Verfügung, um den Gegenstand des Patents zu ändern:
- Er kann das Schutzrecht in einem anhängigen Einspruchsverfahren mit geändertem Inhalt verteidigen, sei es mit einem Hauptantrag, sei es mit einem Hilfsantrag. Eine solche Änderung ist grundsätzlich für alle Vertragsstaaten wirksam.
- Er kann beim Europäischen Patentamt ein zentrales Beschränkungsverfahren nach Artikel 105a EPÜ einleiten. Eine solche Änderung ist ebenfalls für alle Vertragsstaaten wirksam.
- Nach § 64 des deutschen Patentgesetzes (PatG) kann er beim Deutschen Patent- und Markenamt ein nationales Beschränkungsverfahren einleiten. Dieses Verfahren entspricht weitgehend dem Verfahren nach Artikel 105a EPÜ. Eine darin vorgenommene Änderung entfaltet aber nur für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Wirkung.
- Wenn das Patent mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen wird, kann er das Patent sowohl in erster Instanz – vor dem Bundespatentgericht – als auch in zweiter Instanz – vor dem Bundesgerichtshof – in geänderter Fassung verteidigen. Wie im Einspruchsverfahren hat er die Wahl, ob er sich auf diese Verteidigungslinie beschränkt oder ob er die Änderung nur zum Gegenstand eines Hilfsantrags macht. Eine im Nichtigkeitsverfahren eingetretene Änderung entfaltet ebenfalls nur für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Wirkung.
In allen diesen Verfahren richtet sich die Zulässigkeit einer Änderung nach dem in Artikel 123 Abs. 2 und 3 EPÜ definierten Maßstab. Für die nationalen Verfahren sind formal zwar die Vorschriften in § 22 Abs. 2 und § 21 Abs. 2 Satz 1 PatG maßgeblich. Diese sind aber inhaltsgleich mit den genannten Regeln des Europäischen Patentübereinkommens und werden vom Bundesgerichtshof in gleicher Weise ausgelegt. Bitte seien Sie deshalb nicht überrascht, wenn in der einen oder anderen Entscheidung, die ich ihnen heute vorstelle, nicht von Artikel 123 EPÜ, sondern nur von § 21 oder § 22 PatG die Rede ist.
III. Erweiterung des Schutzbereichs, Artikel 123 Abs. 3 EPÜ
Nach meiner Einschätzung spielt Artikel 123 Abs. 3 EPÜ in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine deutlich geringere Rolle als Artikel 123 Abs. 2 EPÜ.
Die maßgeblichen Grundsätze zur Erweiterung des Schutzbereichs sind außer Streit. Sie decken sich mit dem, was uns Herr Blumer bereits vorgestellt hat und was häufig mit dem Stichwort "Verletzungstest" bezeichnet wird. Nachzulesen sind sie zum Beispiel in der Entscheidung "Windenergiekonverter"1: Der Schutzbereich ist erweitert, wenn Handlungen, die das Patent in seiner erteilten Fassung nicht verletzen, nach der Änderung eine Patentverletzung darstellen würden.
Die Anwendung dieser Grundsätze bereitet in der täglichen Praxis selten Schwierigkeiten. Demgemäß gibt es verhältnismäßig wenige Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, die sich mit dieser Frage befassen.
Bisweilen diskutiert wurde die Frage, ob Artikel 123 Abs. 3 EPÜ einer Änderung des Äquivalenzbereichs entgegensteht. Dies betrifft vor allem zwei Fallgestaltungen: Zum einen ist denkbar, dass das erteilte Patent Merkmale aufweist, die bei einer bestimmten Ausführungsform nur durch äquivalente Mittel verwirklicht sind, und diese Merkmale später so geändert werden, dass sie wortsinngemäß verwirklicht sind. Zum anderen ist denkbar, dass eine bestimmte Ausführungsform nicht in den Schutzbereich des erteilten Patents fällt und das Patent später so geändert wird, dass eine Verletzung mit äquivalenten Mitteln zu bejahen ist.
Zu beiden Fragen kann ich Ihnen leider keine verbindlichen Antworten geben, weil es keine Entscheidungen des Bundesgerichtshofs dazu gibt. Aus meiner persönlichen Sicht könnte die Antwort möglicherweise lauten, dass Artikel 123 Abs. 3 EPÜ nur einer Erweiterung des Wortsinns entgegensteht, nicht aber einer Erweiterung des Äquivalenzbereichs. Dies würde bedeuten, dass die Änderung in dem ersten der beiden von mir genannten Beispielsfälle unzulässig wäre. Im zweiten Beispielsfall wäre das Patent in der geänderten Fassung wirksam, eine zuvor nicht erfasste Ausführungsform, die in den Äquivalenzbereich der geänderten Fassung fällt, dürfte aber dennoch nicht zu einer Verurteilung wegen Patentverletzung führen.
IV. Unzulässige Erweiterung, Artikel 123 Abs. 2 EPÜ
Weitaus häufiger hat sich der Bundesgerichtshof mit der Frage zu befassen, ob eine Änderung dazu führt, dass der Gegenstand des Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht.
1. Grundsatz
Zur Beurteilung dieser Frage zieht der Bundesgerichtshof die Grundsätze heran, die Ihnen Herr Blumer bereits als "Zauberformel" vorgestellt hat und die ich bei anderer Gelegenheit schon unter der Bezeichnung "Goldstandard" kennengelernt habe.
Diese Grundsätze hat der Bundesgerichtshof in einer ganzen Reihe von Urteilen formuliert, in neuerer Zeit zum Beispiel in der Entscheidung "Verschlüsselungsverfahren"2. Maßgeblich ist danach, ob die im Patentanspruch bezeichnete technische Lehre den Ursprungsunterlagen unmittelbar und eindeutig als zur Erfindung gehörend offenbart ist. Zu den Ursprungsunterlagen gehören, wie der Bundesgerichtshof ebenfalls schon häufig klargestellt hat (zum Beispiel in der Entscheidung "Fälschungssicheres Dokument"3), nicht nur die in der Anmeldung formulierten Ansprüche, sondern auch die darin enthaltene Beschreibung und die darin wiedergegebenen Zeichnungen.
2. Offenbarung durch Zeichnungen
Welche Bedeutung den Zeichnungen im Einzelfall zukommen kann, möchte ich Ihnen anhand von zwei neueren Entscheidungen demonstrieren. Beide Entscheidungen basieren auf dem Grundsatz, dass die Zeichnungen ein der Beschreibung gleichwertiges Offenbarungsmittel sind und deshalb Grundlage für die Aufnahme einschränkender Merkmale sein können.
Rückspülbare Filterkerze
In der Entscheidung "Rückspülbare Filterkerze"4 ging es um eine Vorrichtung zum Filtern von Flüssigkeiten. Der Patentanspruch sah unter anderem vor, dass ein Tragrohr (33) in eine Trennwand (1) eingesetzt ist. In der Anmeldung wurden sowohl das Tragrohr als auch die Trennwand beschrieben. Nicht ausdrücklich erwähnt war, dass das eine Teil in das andere eingesetzt ist. Einziger Hinweis auf dieses Merkmal war die nachfolgend wiedergegebene Zeichnung, die eine entsprechende Anordnung des Tragrohrs zeigt. Der Bundesgerichtshof sah dies im konkreten Fall als ausreichende Offenbarung an.
Elektronenstrahltherapiesystem
In der Entscheidung "Elektronenstrahltherapiesystem"5 ging es um ein Gerät zur Behandlung von Krebserkrankungen mittels Elektronenstrahlen. Zu den im Patentanspruch aufgeführten Merkmalen gehörten unter anderem ein Gehäuse (18), eine Einrichtung zur Erzeugung von Elektronen (12) und ein Linearbeschleuniger (14, 16). Bereits im Laufe des Erteilungsverfahrens war ein zusätzliches Merkmal eingefügt worden, das vorsah, dass der Linearbeschleuniger so angeordnet ist, dass der Elektronenstrahl ihn kolinear in Richtung der Elektronenbahn verlässt. Dieses Merkmal war in der Beschreibung nicht ausdrücklich erwähnt. Als wesentlicher Vorteil der Erfindung gegenüber im Stand der Technik bekannten Systemen wurde dort allerdings hervorgehoben, dass es anders als bei bekannten Systemen keiner aufwendigen Einrichtungen bedürfe, um den Elektronenstrahl um eine Kurvenbahn zu lenken. Vor diesem Hintergrund sah der Bundesgerichtshof die nachfolgend wiedergegebene Figur als ausreichende Offenbarung an:
3. Erweiterung, Neuheit und Priorität
Die Anforderung, dass die Erfindung unmittelbar und eindeutig offenbart sein muss, finden Sie nicht nur im Zusammenhang mit Artikel 123 Abs. 2 EPÜ, sondern, wie Herr Blumer schon aufgezeigt hat, auch im Zusammenhang mit Artikel 54 Abs. 1 EPÜ. Für die Frage, ob die Erfindung durch ein zum Stand der Technik gehörendes Dokument bereits vorweggenommen wurde, kommt es ebenfalls darauf an, ob die beanspruchte technische Lehre in diesem Dokument unmittelbar und eindeutig offenbart ist. Der Bundesgerichtshof betont in fast allen Entscheidungen, die ich Ihnen heute vorstelle, dass insoweit dieselben Maßstäbe heranzuziehen sind wie bei Artikel 123 Abs. 2 EPÜ. Er wendet diese Maßstäbe darüber hinaus auch im Zusammenhang mit Artikel 87 Abs. 1 EPÜ an, nämlich bei der Frage, ob eine frühere Anmeldung, deren Priorität in Anspruch genommen wird, dieselbe Erfindung betrifft.
Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich nochmals auf einen Unterschied hinweisen, den schon Herr Blumer hervorgehoben hat: Im Zusammenhang mit Artikel 54 Abs. 1 EPÜ ist ausschließlich von Bedeutung, ob in dem älteren Dokument die vom Patent beanspruchte technische Lehre offenbart ist. Die zusätzliche Voraussetzung, dass die Lehre in dem älteren Dokument als zur Erfindung gehörend offenbart sein muss, gilt nur für Artikel 123 Abs. 2 und Artikel 87 Abs. 1 EPÜ.
4. Zwischenverallgemeinerungen
Wenn es einen Bereich gibt, in dem am häufigsten über Unterschiede zwischen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Entscheidungspraxis der Beschwerdekammern berichtet wird, dann ist dies nach meiner Einschätzung die Frage, inwieweit der Anmelder berechtigt ist, Verallgemeinerungen vorzunehmen. Hierbei geht es zum einen um Fälle, in denen der Anspruch um Merkmale eines Ausführungsbeispiels ergänzt wird, hierbei aber nicht alle Merkmale dieses Beispiels aufgegriffen werden. Zum anderen geht es um Fälle, in denen ein in der Anmeldung enthaltener Anspruch hinsichtlich bestimmter Merkmale verallgemeinert wird.
4.1 Aufnahme einzelner Merkmale eines Ausführungsbeispiels
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs steht es dem Anmelder grundsätzlich frei, nur einzelne Merkmale eines Ausführungsbeispiels in den Patentanspruch zu übernehmen. Dies hört sich möglicherweise anders an als das, was Sie vor wenigen Minuten von Herrn Blumer gehört haben. Der Bundesgerichtshof lässt aber auch in diesem Zusammenhang keinen Zweifel daran, dass der Anmelder stets nur Kombinationen beanspruchen darf, die der Fachmann den ursprünglichen Unterlagen als mögliche Ausgestaltung der Erfindung entnehmen kann.
Nicht zulässig ist danach insbesondere das bereits angesprochene "Rosinenpicken". Der Anmelder darf Merkmale, die nach der Anmeldung zwingend zusammengehören, nicht einzeln beanspruchen. Ob mehrere Merkmale in diesem Sinne zwingend zusammengehören, ist allerdings nicht allein nach den in der Anmeldung formulierten Ansprüchen zu beurteilen, sondern anhand des gesamten Inhalts der ursprünglich eingereichten Unterlagen. Dass Ausführungsformen, bei denen nur einzelne Merkmale eines Ausführungsbeispiels verwirklicht sind, zur Erfindung gehören, kann sich mithin auch aus der Beschreibung oder aus dem Gesamtzusammenhang der Anmeldung ergeben. Möglicherweise liegt darin ein gewisser Unterschied zur Entscheidungspraxis mancher Beschwerdekammern, die diese Frage nicht im Grundsatz, aber möglicherweise in der Anwendung auf den einzelnen Fall mitunter strenger beurteilen.
Drehmomentübertragungseinrichtung
Als Beispiel dafür, wie der Bundesgerichtshof diese Grundsätze in der Praxis anwendet, möchte ich Ihnen die Entscheidung "Drehmomentübertragungseinrichtung"6 vorstellen. Dort ging es um ein Patent für eine besonders ausgestaltete Kupplung für Kraftfahrzeugmotoren, zu deren Merkmalen – unter anderem – zwei koaxial angeordnete Schwungmassen gehörten, die zueinander verdrehbar sind. In Anspruch 1 der Anmeldung war als zusätzliches Merkmal vorgesehen, dass die beiden Schwungmassen zueinander axial verlagerbar sind. Dieses Merkmal war in Anspruch 1 des erteilten Patents nicht mehr enthalten.
Das Bundespatentgericht hatte das Patent aus zwei Gründen widerrufen: Zum einen seien in der Anmeldung nur Ausführungsformen beschrieben, bei denen neben zwei Schwungmassen auch ein Kraftspeicher vorhanden sei; dieser Kraftspeicher müsse deshalb als Merkmal im Patentanspruch vorgesehen sein. Zum anderen gehörten die in Anspruch 1 der Anmeldung vorgesehenen Merkmale "verdrehbar" und "axial verlagerbar" zwingend zusammen; deshalb müssten beide Merkmale im Patentanspruch vorgesehen sein.
Der Bundesgerichtshof hat diese Entscheidung im Ergebnis bestätigt. Er hat aber klargestellt, dass das erste der vom Bundespatentgericht angeführten Argumente nicht valide ist. Auch wenn in der Anmeldung nur Ausführungsbeispiele mit Kraftspeicher beschrieben waren, ergab sich aus dem Umstand, dass der in der Anmeldung enthaltene Anspruch 1 ein solches Merkmal nicht vorsah, hinreichend deutlich, dass auch Ausführungsformen ohne Kraftspeicher als zur Erfindung gehörend beansprucht sind. Das zweite vom Bundespatentgericht angeführte Argument hielt der Bundesgerichtshof hingegen für stichhaltig. Er kam ebenso wie das Bundespatentgericht zu dem Ergebnis, dass die beiden Merkmale "verdrehbar" und "axial verlagerbar" nach der Anmeldung zwingend zusammengehörten und deshalb nicht eines dieser Merkmale isoliert beansprucht werden darf. Ausschlaggebend dafür war nicht allein der in der Anmeldung formulierte Anspruch 1, sondern der gesamte Inhalt der Anmeldung, der an keiner Stelle erkennen ließ, dass es ausreicht, wenn die Schwungmassen gegeneinander verdrehbar, nicht aber axial verschiebbar sind.
4.2 Unmittelbare Offenbarung
Die Kriterien, die der Bundesgerichtshof für die Frage heranzieht, ob einzelne Merkmale eines Ausführungsbeispiels isoliert in den Anspruch übernommen werden dürfen, sind dieselben, die er auch sonst im Zusammenhang mit Artikel 123 Abs. 2 EPÜ heranzieht. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen nachfolgend einige neuere Entscheidungen vorstellen, in denen es um die Frage ging, ob bestimmte Merkmale in der Anmeldung eindeutig und unmittelbar offenbart sind.
Fälschungssicheres Dokument
Einen etwas komplexen Sachverhalt hatte der Bundesgerichtshof in der bereits erwähnten Entscheidung "Fälschungssicheres Dokument"7 zu beurteilen. Dort ging es um ein Verfahren zur Herstellung eines Dokuments aus einem Originalbild, das Linien, Punkte oder Wirbel aufweist. Nach Anspruch 1 des erteilten Patents sollte dieses Originalbild mit einem Gittermuster überlagert werden, dessen Teilungsabstand von demjenigen Teilungsabstand abweicht, mit dem gängige Kopiergeräte eine Vorlage abtasten. In Anspruch 1 der Anmeldung war demgegenüber vorgesehen, dass die im Originalbild enthaltenen Linien, Punkte oder Wirbel selbst ein Gittermuster mit dem genannten Teilungsabstand bilden. Im Vergleich dazu bezog sich die erteilte Fassung des Patents weder auf eine Verallgemeinerung noch auf eine Einschränkung, sondern auf eine andere Erfindung.
Die Anmeldung enthielt daneben aber noch einen Anspruch 13, der vorsah, ein Dokument dadurch herzustellen, dass ein Originaldokument kopiert wird und der hierbei eingesetzte Abtastabstand vom Teilungsabstand des Originaldokuments abweicht. Die Patentinhaberin machte nun geltend, mit dem in Anspruch 13 der Anmeldung vorgesehenen Kopiervorgang werde das Originalbild mit einem Gittermuster überlagert, das aufgrund der beim Kopiervorgang eintretenden Erwärmung des Papiers die in Anspruch 1 des erteilten Patents vorgesehenen Merkmale aufweise.
Der Bundesgerichtshof hielt es für möglich, dass bei dem Verfahren nach Anspruch 13 der Anmeldung die behaupteten Wirkungen eintreten und dass dies für den Fachmann erkennbar war. Er kam dennoch zu dem Ergebnis, dass das im erteilten Patent beanspruchte Verfahren in der Anmeldung nicht unmittelbar und eindeutig offenbart war. Als entscheidend dafür sah er an, dass der Fachmann die maßgeblichen Zusammenhänge nicht allein aufgrund der Ausführungen in der Patentanmeldung erkennen konnte, sondern hierzu weitergehende Überlegungen anstellen musste.
Polymerschaum
Ein ähnliches Problem stellte sich in der Entscheidung "Polymerschaum"8. Dort ging es um ein Verfahren zur Herstellung eines Schaums durch Schmelzmischen einer Zusammensetzung bestimmter Polymere mit expandierbaren Mikrokugeln. In Anspruch 1 des erteilten Patents war vorgesehen, zunächst die Polymerzusammensetzung zu schmelzen und erst danach die Mikrokugeln hinzuzufügen. In Anspruch 1 der Anmeldung war demgegenüber nicht ausdrücklich festgelegt, in welcher zeitlichen Reihenfolge die Verfahrensschritte "schmelzen" und "mischen" stattfinden sollen. Die Beschreibung enthielt hierzu ebenfalls keine ausdrücklichen Angaben. Nach dem Vortrag der Patentinhaberin konnte der Fachmann aber aus den in der Beschreibung enthaltenen Temperaturangaben entnehmen, dass die Polymerzusammensetzung schon vor der Zugabe der Mikrokugeln in geschmolzenem Zustand war.
Der Bundesgerichtshof kam zu dem Ergebnis, dass dem Begriff "Schmelzmischen" keine Hinweise auf die zeitliche Reihenfolge entnommen werden können. Er sah es aber als ausreichende Offenbarung an, wenn den in der Anmeldung enthaltenen Temperaturangaben aus Sicht des Fachmanns ohne weiteres zu entnehmen war, dass die Polymerzusammensetzung vor dem Mischen bereits in geschmolzenem Zustand vorlag. Da diese Frage zwischen den Parteien umstritten und ungeklärt war, verwies der Bundesgerichtshof den Fall an das Bundespatentgericht zurück.
4.3 Offenbarung als zur Erfindung gehörend
Wie ich bereits eingangs dargelegt habe, genügt es im Zusammenhang mit Artikel 123 Abs. 2 EPÜ nicht, wenn ein bestimmtes Merkmal in der Anmeldung offenbart ist. Aus dem Inhalt der Anmeldung muss vielmehr auch hervorgehen, dass dieses Merkmal zur beanspruchten Erfindung gehört.
UV-unempfindliche Druckplatte
Mit diesem Unterschied befasste sich der Bundesgerichtshof vor nicht allzu langer Zeit in der Entscheidung "UV-unempfindliche Druckplatte"9. Dort ging es um die Priorität einer Entgegenhaltung. Dafür sind, wie ich bereits erwähnt habe und wie der Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung ausdrücklich betont hat, dieselben Grundsätze maßgeblich wie für Artikel 123 Abs. 2 EPÜ.
Die in Rede stehende Anmeldung betraf ein Verfahren zur Herstellung einer Druckplatte mit einer fotoempfindlichen Zusammensetzung in einem alkalischen Entwickler. In Anspruch 1 war vorgesehen, dass die fotoempfindliche Zusammensetzung unempfindlich gegen ultraviolettes Licht ist. Dieses Merkmal war in der früheren Anmeldung, deren Priorität beansprucht wurde, an keiner Stelle ausdrücklich erwähnt. Bei den bereits in der früheren Anmeldung beschriebenen Ausführungsbeispielen kamen jedoch Zusammensetzungen zum Einsatz, die aufgrund ihrer inhärenten Eigenschaften UV-unempfindlich sind.
Der Bundesgerichtshof hat bei dieser Ausgangslage ein Prioritätsrecht verneint. Er hielt es zwar für möglich, dass es für den Fachmann unmittelbar erkennbar und damit implizit offenbart ist, dass die in den Ausführungsbeispielen eingesetzten Zusammensetzungen unempfindlich gegen ultraviolettes Licht sind. Er kam aber zu dem Ergebnis, dass dieser Umstand nicht als zur Erfindung gehörend offenbart ist, weil der Fachmann aus der früheren Anmeldung keinen Hinweis darauf erhält, dass die Unempfindlichkeit gegen ultraviolettes Licht für die Auswahl einer erfindungsgemäßen Zusammensetzung von Bedeutung ist.
4.4 Verallgemeinerungen gegenüber dem in der Anmeldung formulierten Anspruch
Der Grundsatz, dass der Gegenstand einer Anmeldung nicht nur durch die darin formulierten Ansprüche, sondern auch durch Beschreibung und Zeichnungen bestimmt wird, findet in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch dann Anwendung, wenn es um die Verallgemeinerung von Merkmalen geht.
Kommunikationskanal
Mit diesem Aspekt hat sich der Bundesgerichtshof zuletzt in der Entscheidung "Kommunikationskanal"10 befasst. Dort ging es um eine Mobilfunkstation mit einem Datenkanal und mehreren Steuerkanälen, die so eingerichtet ist, dass die Übertragung im Datenkanal erst dann beginnt, wenn die Übertragung in den Steuerkanälen bereits begonnen hat. In Anspruch 1 der Anmeldung war zusätzlich vorgesehen, dass die Übertragung nach einem bestimmten technischen Verfahren (dem Frequenzduplex-Verfahren) erfolgt und dass die Steuerkanäle der Übertragung von Informationen zu bestimmten Systemparametern (Übertragungsleistung und Bitrate) dienen. Anspruch 1 des erteilten Patents war demgegenüber auf jedes Übertragungsverfahren und auf die Übertragung jeder Art von Steuerinformation auf den Steuerkanälen gerichtet.
Der Bundesgerichtshof sah diese Verallgemeinerung im konkreten Fall als zulässig an. Für ausschlaggebend sah er dabei an, dass weder die Beschreibung noch die Ausführungsbeispiele in der Anmeldung einen konkreten Bezug zum Frequenzduplex-Verfahren oder zum näheren Inhalt der auf dem Steuerkanal übertragenen Informationen aufwiesen und dass deshalb für den Fachmann schon aus der Anmeldung ohne weiteres ersichtlich gewesen sei, dass die offenbarte und beanspruchte Lehre darin besteht, die Übertragung von Informationen im Datenkanal zu unterbinden, bis die Übertragung in den Steuerkanälen begonnen hat.
Um Missverständnisse auszuschließen, möchte ich klarstellen, dass die Änderung gemäß Artikel 123 Abs. 3 EPÜ nicht zulässig gewesen wäre, weil sie ohne Zweifel zu einer Erweiterung des Schutzbereichs führte. Diese Frage war im konkreten Fall aber nicht relevant, weil die Änderung bereits vor Erteilung des Patents erfolgt war und der Bundesgerichtshof das Patent deshalb lediglich anhand von Artikel 123 Abs. 2 EPÜ zu prüfen hatte.
V. Fazit
Alles in allem meine ich, mit Recht die These vertreten zu dürfen, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und die Entscheidungspraxis der Beschwerdekammern nicht auf unterschiedlichen Grundsätzen beruhen, sondern allenfalls auf Unterschieden in der Anwendung dieser Grundsätze auf einzelne Fälle. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir darin zustimmen. Unabhängig davon freue ich mich in jedem Fall auf die nachfolgende Diskussion und auf die weitere Entwicklung des Fallrechts durch den Bundesgerichtshof und durch die Beschwerdekammern.
1 BGH, 9. September 2010 – Xa ZR 14/10, GRUR 2010, 1084 Rn. 36.
2 BGH, 9. April 2013 – X ZR 130/11, GRUR 2013, 809 Rn. 11.
3 BGH, 8. Juli 2010 – Xa ZR 124/07, GRUR 2010, 910 Rn. 46.
4 BGH, 30. Januar 2007 – X ZR 156/02, GRUR 2008, 578 Rn. 15.
5 BGH, 24. Januar 2012 – X ZR 88/09, GRUR 2012, 475 Rn. 32.
6 BGH, 11. September 2001 – X ZB 18/00, GRUR 2002, 49.
7 BGH, 8. Juli 2010 – Xa ZR 124/07, GRUR 2010, 910 Rn. 62.
8 BGH, 17. Juli 2012 – X ZR 117/11, GRUR 2012, 1124 Rn. 52.
9 BGH, 14. August 2012 – X ZR 3/10, GRUR 2012, 1133 Rn. 31 ff.
10 BGH, 11. Februar 2014 – X ZR 107/12, GRUR 2014, 542 Rn. 32.