AUS DEN VERTRAGS- / ERSTRECKUNGSSTAATEN
GB Vereinigtes Königreich
Entscheidung des House of Lords vom 21. Oktober 20041
Stichwort: "Erythropoietin/Kirin-Amgen Inc v. TKT "
EPÜ Artikel 69, Protokoll über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ
Patentgesetz des Vereinigten Königreichs § 1 (1) (a)
Schlagwort: "Auslegung von Patentansprüchen - Äquivalenzlehre - Protokollfragen" - "Product-by-Process-Ansprüche"
Leitsätze:
I. a) Die zweckgerichtete Auslegung von Patentansprüchen ("purposive construction") bedeutet nicht, dass man die Definition des technischen Gegenstands, für den der Patentinhaber in den Patentansprüchen Schutz begehrt, erweitert oder über sie hinausgeht. Die Frage ist stets, was der Fachmann dem vom Patentinhaber verwendeten Anspruchswortlaut als gemeint entnommen hätte.
b) Das Catnic-Prinzip steht voll und ganz im Einklang mit dem Protokoll über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ, denn es zielt darauf ab, dem Patentinhaber das Monopol über die gesamte Breite dessen zuzuerkennen, was sich einem vernünftigen Fachmann, der die Patentansprüche im Kontext liest, als Schutzbegehren darstellt, aber keinen darüber hinausgehenden Schutz.
c) In der Regel ist davon auszugehen, dass die Erfindung auf derselben allgemeinen Ebene beansprucht wird, auf der sie in den Patentansprüchen definiert ist. Der Fachmann würde eine Patentschrift gewöhnlich nicht dahingehend verstehen, dass sie die Erfindung auf einer allgemeineren als der vom Patentinhaber gewählten Ebene beansprucht.
d) Ist vom "Catnic-Prinzip" die Rede, so gilt es zu unterscheiden zwischen dem Prinzip der zweckgerichteten Auslegung, die den Erfordernissen des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ Geltung verschafft, und den Leitlinien für die Anwendung dieses Prinzips auf Äquivalente, die in den so genannten "Protokollfragen"2 zu finden sind. Bei Ersterem handelt es sich um die Grundfesten der Patentauslegung, bei Letzteren um bloße Leitlinien, die von Fall zu Fall mehr oder weniger nützlich sind.
e) Das Konzept einer buchstäblichen Übereinstimmung mit der konventionellen Bedeutung von Wörtern oder Ausdrücken lässt sich am besten auf Zahlen-, Maß-, Winkel- oder ähnliche Angaben anwenden, wenn es darum geht, ob sie eine gewisse Toleranz oder Näherung zulassen. Als Kontrapunkt zur buchstäblichen Übereinstimmung sind in diesen Fällen Näherungswerte anzusehen und nicht die eher prätentiösen Sprachfiguren, von denen in den Protokollfragen die Rede ist. Ein weiterer Bereich, bei dem die Protokollfragen wenig hilfreich sein dürften, ist neue Technologie. Kann der Patentanspruch hingegen auf korrekte Art und Weise so allgemein ausgelegt werden, dass er die neue Technologie mit umfasst, so beantworten sich die Protokollfragen von selbst.
II. a) Lange Zeit herrschte die Auffassung, dass ungeachtet des Artikels 69 EPÜ und des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 bei der Anspruchsauslegung noch erhebliche Unterschiede zwischen dem Vorgehen im Vereinigten Königreich auf der einen und in Deutschland sowie den Niederlanden auf der anderen Seite bestünden. Dies scheint jedoch nicht mehr der Fall zu sein. Höchstrichterlich wurde sowohl in Deutschland (siehe BGH GRUR 1989, 903, 904 - "Batteriekastenschnur") als auch in den Niederlanden (siehe Hoge Raad, Ciba-Geigy/Oté Optics, Nederlandse Jurisprudentie 1995, 39) entschieden, dass den Patentansprüchen durch Artikel 69 EPÜ das zukommt, was vom Europäischen Patentamt als "Schlüsselrolle" bezeichnet wurde (siehe G 6/88 - "Mittel zur Regulierung des Pflanzenwachstums/BAYER" [1990] EPOR 257, 261; ABl. EPA 1990, 114, 118 - 119). Dem Bundesgerichtshof zufolge bilden die Patentansprüche heute nicht mehr nur den Ausgangspunkt, sondern die maßgebliche Grundlage für die Bestimmung des Schutzbereichs.
b) Patentrichter in Deutschland und im Vereinigten Königreich haben erklärt, dass sie ausländische Urteile zu dem durch Artikel 69 EPÜ gewährten Schutzbereich als wichtige Beiträge zur eigenen Rechtsprechung betrachten.
c) Die deutschen Gerichte wenden bei Äquivalenten eigene Leitlinien an, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den Protokollfragen haben. So scheinen auch die deutschen Gerichte die Frage der Äquivalente unter dem Aspekt zu betrachten, was der Fachmann dem vom Patentinhaber verwendeten Anspruchswortlaut als gemeint entnommen hätte (siehe vorstehend I. a)).
III. Es ist für das Vereinigte Königreich wichtig, bei Entscheidungen darüber, was nach dem EPÜ als neu gilt, dasselbe Recht anzuwenden wie das EPA und die übrigen Mitgliedstaaten. Das erste Erfordernis für die Gewährung eines Product-by-Process-Anspruchs lautet, dass das Erzeugnis neu sein muss; neu wird ein Erzeugnis nicht dadurch, dass es durch ein anderes Verfahren hergestellt wird. Ein Erzeugnis darf nur dann durch sein Herstellungsverfahren gekennzeichnet werden, wenn das, worin es sich unterscheidet, in der Praxis nicht hinreichend durch seine Zusammensetzung usw. gekennzeichnet werden kann.
1 Von der Redaktion zusammengestellte Leitsätze aus den Ausführungen von Lord Hoffmann zum Urteil in Sachen Kirin-Amgen Inc et al. (Beschwerdeführer) v. Hoechst Marion Roussel Limited et al. (Beschwerdegegner) und Kirin-Amgen Inc et al. (Beschwerdegegner) v. Hoechst Marion Roussel Limited et al. (Beschwerdeführer) (verbundene Beschwerden). Der ungekürzte Wortlaut der Entscheidung findet sich unter http://www.parliament.the-stationery-office.co.uk/pa/ld200304/ldjudgmt/jd041021/kirin-1.htm.
2 In der Sache Improver Corporation v. Remington Consumer Products Ltd [1990] FSR 181, 189 fasste Lord Hoffmann diese Leitlinien wie folgt zusammen:
"Wenn streitig sei, ob eine angeblich das Patent verletzende Ausführungsform, die außerhalb der grundlegenden, wörtlichen oder kontextfreien Bedeutung eines in dem Anspruch befindlichen deskriptiven Worts oder Ausdrucks liege ("eine Variante"), trotzdem unter den richtig ausgelegten Text falle, solle das Gericht die folgenden drei Fragen stellen:
1. Hat die Abweichung eine wesentliche Auswirkung auf die Funktionsweise der Erfindung? Wenn ja, so liegt die Variante außerhalb des Patentanspruchs. Wenn nein:
2. Wäre dies (d. h. dass sich die Abweichung nicht in wesentlicher Weise auswirkt) zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Patents für einen Fachmann offensichtlich gewesen? Wenn nein, so liegt die Variante außerhalb des Patentanspruchs. Wenn ja:
3. Hätte ein Fachmann dennoch aus dem Text des Patentanspruchs geschlossen, dass der Patentinhaber die buchstäbliche Übereinstimmung mit der primären Bedeutung als ein entscheidendes Erfordernis der Erfindung verstanden wissen wollte? Wenn ja, so liegt die Variante außerhalb des Patentanspruchs.
Eine verneinende Antwort auf die letzte Frage würde andererseits zu der Schlussfolgerung führen, dass dem Wort oder Ausdruck keine wörtliche, sondern eine figurative Bedeutung zukommen sollte (die Sprachfigur wäre in diesem Fall eine Synekdoche oder Metonymie). Bezeichnet wäre dann eine Klasse von Gegenständen, die die Variante und die wörtliche Bedeutung umfasst, wobei letztere möglicherweise das vollkommenste, bekannteste oder deutlichste Beispiel dieser Klasse darstellt."
In Wheatly v. Drillsafe Ltd [2001] RPC 133, 142, bezeichnete der Court of Appeal diese Fragen als "Protokollfragen".