VERWALTUNGSRAT
Berichte über Tagungen des Verwaltungsrats
Bericht über die 80. Tagung des Verwaltungsrats der Europäischen Patentorganisation (6. bis 8. Juni 2000)
Der Verwaltungsrat der Europäischen Patentorganisation hielt seine 80. Tagung auf Einladung Zyperns, des jüngsten Mitgliedstaats der Organisation, in Limassol ab. Es war die erste Tagung unter dem Vorsitz von Herrn Roland GROSSENBACHER (CH), der vor kurzem die Nachfolge von Herrn Sean FITZPATRICK (IE) angetreten hat.
Herr Roland GROSSENBACHER eröffnete die Tagung mit einem Nachruf auf Herrn Kurt HAERTEL (DE), den Gründungsvater des europäischen Patentsystems, der im März dieses Jahres verstorben ist. Eine Feier zum Gedenken an Herrn Haertel findet vor der Tagung des Verwaltungsrats im Oktober statt.
Der Rat beschloß, die Amtszeit von Herrn Curt EDFJÄLL als Vizepräsident GD 4 mit Wirkung vom 1. Juli 2001 um weitere fünf Jahre zu verlängern.
Herr Serge ALLEGREZZA (LU) wurde einstimmig mit Wirkung vom 15. September 2000 zum Vorsitzenden des Haushalts- und Finanzausschusses ernannt. Er tritt die Nachfolge von Herrn Daniel HANGARD (FR) an, dem der Rat für seine Tätigkeit in den letzten drei Jahren dankte.
Der Rat ernannte den Vorsitzenden der Beschwerdekammer 3.3.7 Chemie sowie eine Reihe neuer Mitglieder der Beschwerdekammern. Einige derzeitige Mitglieder der Großen Beschwerdekammer, der Beschwerdekammern und der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten wurden für eine weitere Amtszeit wiederernannt. Ferner wurde ein nationalen Richter aus den Niederlanden zum externen rechtskundigen Mitglied der Großen Beschwerdekammer ernannt.
Der Präsident des Amts, Herr Ingo KOBER, legte den Jahresbericht 1999 vor und erstattete dem Rat Bericht über die Tätigkeit des Amts im ersten Halbjahr 2000.
Die Arbeitslage im Amt wird weiterhin durch die Anmeldezahlen bestimmt. In den ersten vier Monaten dieses Jahres lag die Zahl der europäischen Direktanmeldungen um 9,7 % und die der Euro-PCT-Anmeldungen um 13,4 % über dem entsprechenden Vorjahreswert. Zusammen genommen sind die Anmeldungen um 12 % auf 43 500 gestiegen. Der Anteil der Euro-PCT-Anmeldungen beträgt 60,5 %. In den 12 Monaten bis April wurden rund 126 130 europäische Anmeldungen eingereicht, d. h. 11 190 bzw. 9,7 % mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum.
In den ersten vier Monaten dieses Jahres hat der Arbeitsanfall im Recherchenbereich 46 062 Akten erreicht; dies entspricht einer Steigerung um 13 % gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum und um 5 % gegenüber den Prognosen. Dieser Zuwachs ist in erster Linie durch europäische Direktanmeldungen bedingt. Die Recherchenproduktion konnte gegenüber dem Vergleichszeitraum um 10 % erhöht werden. Die prognostizierten Werte wurden allerdings nur bei der Gesamtproduktion erreicht, nicht aber bei den europäischen Recherchenakten, da die PCT-Recherchen ihnen gegenüber Vorrang haben.
Im Bereich der Prüfung entspricht der Arbeitsanfall den Prognosen und liegt um 34 % über dem Wert für den Vorjahreszeitraum. Die Produktion im Prüfungsbereich hat unter einem Arbeitskonflikt in München gelitten. So ist die Zahl der abgeschlossenen europäischen Prüfungen in den ersten vier Monaten dieses Jahres um nahezu 40 % zurückgegangen. Die Zahl der veröffentlichten Patente ist um 6,6 % gesunken.
Von Jahresanfang bis einschließlich April wurden 430 technische Beschwerden eingelegt. Das sind rund 11 % mehr als prognostiziert, aber etwa 5 % weniger als 1999 zu diesem Zeitpunkt (453). Die Zahl der in diesem Zeitraum erledigten technischen Beschwerden hat gegenüber dem letzten Jahr um 19 % zugenommen (von 559 äquivalenten Fällen auf 667). Die Gesamtzahl der anhängigen technischen Beschwerden lag Ende April bei 3 133 und war damit um 32 Akten (bzw. 1 %) niedriger als vor 12 Monaten.
In den Abteilungen, die für das Erteilungsverfahren zuständig sind, waren wieder rege Entwicklungen zu verzeichnen.
Auf den Workstations der Prüfer wurde die neue Version von EPOQUE-JAVA bzw. EPOQUE-NET installiert. Durch die Verwendung eines einzigen "Viewer" für alle Arten von Dokumenten - ob Text oder Abbildungen - sind die Rechercheninstrumente weiter verbessert worden. Auch der Zugriff auf Dokumente und die Navigation in den Dokumenten wurden stark vereinfacht. Die BNS-Sammlung ist nun vollständig von den Magnetbandanlagen auf Magnetplatten heruntergeladen und in Echtzeit online verfügbar.
Im Zusammenhang mit der Erteilung des europäischen Patents Nr. 0 695 351, das mittlerweile als "Edinburgh"-Patent bekannt ist, erklärte der Präsident des Amts, daß mehrere Einsprüche gegen dieses Patent eingelegt worden sind und daß weitere hinzukommen könnten, da die Einspruchsfrist noch bis zum 8. September 2000 läuft. Im April wurde eine Einspruchsabteilung gebildet, der auch ein rechtskundiges Mitglied angehört. Die Patentinhaberin hat lange vor Ablauf der Einspruchsfrist geänderte Patentansprüche eingereicht. Sie verteidigt ihr Patent, will die Ansprüche 47 und 48 aber durch den Zusatz "nichtmenschlich" einschränken.
Die Einspruchsabteilung hat bereits einen ersten Bescheid erlassen und die Beteiligten davon unterrichtet, daß das Patent nur in diesem eingeschränkten Umfang verteidigt wird. Außerdem wurde festgestellt, daß das Patent seiner Beschreibung und dem offenkundigen Ziel der patentierten Erfindung zufolge weder das Klonen von Menschen noch das Klonen generell zum Gegenstand hat.
Es sind interne Vorkehrungen getroffen worden, um solche Vorkommnisse in Zukunft zu vermeiden. So wurde das "Frühwarnsystem" für Anmeldungen verbessert, die auf diesem sensiblen Gebiet der Technik eingereicht werden. Alle auf diesem Gebiet tätigen Prüfer wurden auf die hohe Verantwortung hingewiesen, die sie insbesondere dann tragen, wenn es bei der Prüfung um das auf die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten gestützte Patentierungsverbot des Artikels 53 a) EPÜ und die in der Ausführungsordnung verankerten Erfordernisse geht, die aus der Biotechnologie-Richtlinie in das europäische Patentrecht übernommen wurden. Künftig sollen die Prüfungsabteilungen häufiger durch rechtskundige Mitglieder ergänzt werden. Bei den zuständigen Direktoren und der Direktion "Harmonisierung und Qualität" wurden die Kontrollmechanismen verstärkt.
Kontroverse Auffassungen über die Patentierbarkeit herrschen auch im Bereich der geschäftlichen Verfahren und Verwaltungsverfahren. Nach dem EPÜ sind Verfahren für geschäftliche Tätigkeiten als solche ausdrücklich vom Patentschutz ausgeschlossen. Dennoch hat die Zahl einschlägiger Anmeldungen mit der Ausbreitung des elektronischen Geschäftsverkehrs im Internet und nach Entscheidungen des amerikanischen Bundesberufungsgerichts, wonach geschäftlichen Verfahren in den USA nicht zwangsläufig der Patentschutz verwehrt ist, erheblich zugenommen. Derzeit stehen rund 400 solcher Anmeldungen zur Recherche und Sachprüfung an, mehr als doppelt so viele wie vor zwei Jahren.
In der Praxis werden in der überwiegenden Mehrzahl dieser Anmeldungen nicht einfach abstrakte geschäftliche Verfahren beansprucht, sondern vielmehr technische Mittel (z. B. Computernetze) zu ihrer Ausführung beschrieben. Diese Anmeldungen gelten nicht als Anmeldungen, die sich auf Verfahren für geschäftliche Tätigkeiten als solche beziehen, und werden nach genau denselben Maßstäben geprüft wie alle anderen Anmeldungen. Somit ist ihr Gegenstand in Europa patentfähig, wenn er die regulären Erfordernisse wie Neuheit, erfinderische Tätigkeit und gewerbliche Anwendbarkeit erfüllt. Allerdings muß eine Erfindung - nach strenger Auslegung des Patentrechts - eine objektive technische Aufgabe auf nicht naheliegende Weise lösen. Ein Gerät, auf dem ein geschäftliches Verfahren ausgeführt wird, wird also durch die ihm zugrunde liegende technische Erfindung patentierbar, und nicht einfach durch die Eigenart der Geschäftsidee.
Wie abzusehen war, besteht zu diesem Thema bei Vertretern, Anmeldern und der Öffentlichkeit gleichermaßen großer Informationsbedarf. Das Amt hat jede Gelegenheit genutzt, um seinen Standpunkt darzulegen, und hat zu vielen Seminaren und Konferenzen Referenten entsandt.
Die Weiterentwicklung der Informationssysteme steht im Zeichen einer verstärkten Kommunikation mit den verschiedenen Benutzern.
Moderne Kommunikationsmöglichkeiten für Anmelder und Vertreter über die epoline®-Produktschiene werden rasch Realität. So ist das europäische Patentregister einem kleinen Kreis von Testbenutzern über esp@cenet zugänglich gemacht worden. Auch die Online-Akteneinsicht wird bereits von einer begrenzten Zahl von Benutzern getestet und soll in der zweiten Hälfte dieses Jahres einsatzfähig sein. Ein Test zur Online-Einreichung soll ebenfalls in Kürze anlaufen. Ebenso wichtig ist das neue, inzwischen voll funktionsfähige epoline®-Helpdesk. Nach wie vor erhält das Amt begeisterte Rückmeldungen von Anmeldern und Vertretern.
In der Eingangsstelle werden die Akten inzwischen mit den Systemen PHOENIX und EPASYS online bearbeitet. In der GD 1 kommen jetzt alle Abteilungen praktisch ohne Papierunterlagen aus; einzige Ausnahmen sind die PCT-Annahmestelle und einige wenige laufende Arbeiten im Rahmen von BEST. PHOENIX hat derzeit einen Umfang von rund 35 Millionen Seiten, zu denen jeden Monat 2,5 Millionen Seiten hinzukommen. 1 Million dieser Seiten stammen aus dem Austausch von Prioritätsunterlagen mit dem japanischen Patentamt.
Nach und nach kommt PHOENIX auch in der Sachprüfung zum Einsatz. Dank Scanning des Altbestands in Den Haag sind nunmehr alle Akten, die das Prüfungsstadium erreichen, schon in PHOENIX verfügbar. Seit Herbst 1999 werden alle neuen Anträge nach Kapitel II PCT mit PHOENIX abgewickelt. Zur Verkürzung der Übergangszeit, in der Papierakten und PHOENIX-Akten parallel bearbeitet werden müssen, hat die GD 2 damit begonnen, ältere Papierakten zu scannen. Als Ziel hat sich das Amt gesetzt, daß in der ersten Jahreshälfte 2001 sämtliche Prüfungsakten in PHOENIX erfaßt sind.
Im Rahmen von PHOENIX Online wurde damit begonnen, die PHOENIX-Akten auf Magnetplatten herunterzuladen, um die Sammlung online zur Verfügung zu stellen.
Wichtige Entwicklungen haben sich auch im Bereich der Rechtsangelegenheiten ergeben.
In der abschließenden Sitzung der Arbeitsgruppe "Kostensenkung", die auf der Regierungskonferenz über die Reform des Patentsystems in Europa eingesetzt worden war, wurde in Paris der Entwurf eines Abkommens über die Anwendung von Artikel 65 EPÜ vorgelegt und von einer Mehrheit der Delegationen (zwölf) unterstützt. Nach diesem Abkommen würden Unterzeichnerstaaten, die eine Amtssprache mit dem EPA gemein haben, in der Regel nach der Erteilung keine Übersetzung verlangen. Die übrigen Unterzeichnerstaaten würden eine Amtssprache des EPA benennen, in der die Beschreibung vorliegen müßte, so daß nur die Ansprüche in die Landessprachen der benannten Staaten zu übersetzen wären. Alle Unterzeichnerstaaten hätten das Recht, eine vollständige Übersetzung des Patents zu verlangen, wenn Maßnahmen zu dessen Durchsetzung eingeleitet werden. Die konkreten Einsparungen wären von der Zahl der Staaten, die dem Abkommen beitreten, und der Zahl der Benennungen abhängig. Die Arbeitsgruppe hielt aber eine durchschnittliche Einsparung von 50 % der jetzigen Validierungs- und Übersetzungskosten für durchaus realistisch. Der Entwurf des Abkommens soll auf der zweiten Regierungskonferenz vorgelegt werden, die im Oktober im Vereinigten Königreich stattfindet. Es würde in Kraft treten, wenn es von mindestens acht Vertragsstaaten einschließlich der drei Staaten ratifiziert wird, in denen 1999 die meisten europäischen Patente wirksam wurden.
Die Arbeitsgruppe "Streitregelung" hat ebenfalls bedeutende Fortschritte bei den schwierigen Aufgaben erzielt, die ihr auf der Pariser Regierungskonferenz übertragen wurden.
Sie hat intensiv an einem Modell für eine "gemeinsame Einrichtung" der Vertragsstaaten gearbeitet, die in Patentsachen als Gutachter für nationale Gerichte fungieren würde, und hat weitgehende Übereinstimmung über deren Funktion, Zusammensetzung, Verfahrensweise und Finanzierung erzielt. In erster Linie hat sich die Arbeitsgruppe aber mit den Bestandteilen eines fakultativen Protokolls über die Streitregelung in Zusammenhang mit europäischen Patenten befaßt. Eine Gruppe von sechs bis acht Delegationen unterstützte die Einrichtung eines gemeinsamen Europäischen Patentgerichts erster und zweiter Instanz, das ausschließlich für Entscheidungen über die Verletzung und die Gültigkeit europäischer Patente zuständig wäre. Der Kern dieses Vorschlags wird umfassend in einem eigenen Dokument behandelt. Vier Delegationen traten alles in allem dafür ein, die erstinstanzliche Zuständigkeit bei den nationalen Gerichten zu belassen, und konnten lediglich die Einrichtung eines gemeinsamen Berufungsgerichts befürworten. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe sollen ebenfalls auf der Regierungskonferenz vorgestellt werden.
Die Diplomatische Konferenz für das Patentrechtsabkommen, das WIPO-Abkommen zur Harmonisierung patentrechtlicher Formerfordernisse, hat einen erfolgreichen Abschluß gefunden.
Das neue Abkommen ist ein Schritt hin zu einer weiteren Harmonisierung des materiellen Patentrechts. Der in formalen Fragen erzielte Konsens zeigt, daß die Staaten weiterhin willens sind, ihre Patentsysteme auf eine gemeinsame Grundlage zu stellen.
Der Vorsitzende des Ausschusses "Patentrecht", Herr Paul LAURENT (BE), berichtete dem Verwaltungsrat über die Beratungen in der Aprilsitzung des Ausschusses. Er erläuterte, daß die anstehende Revision des Europäischen Patentübereinkommens darauf abzielt, die Ziele zugrunde lägen, die Rechtssicherheit für Anmelder und die Effizienz der Verfahren zu verbessern sowie den Boden für künftige Entwicklungen vorzubereiten, z. B. die Schaffung eines Streitregelungssystems für europäische und schließlich auch für Gemeinschaftspatente. Ein weiterer bedeutender Beitrag hierzu ist die Überführung von Vorschriften in die Ausführungsordnung.
Der Rat nahm die Sachverständigengutachten von Herrn Professor J. STRAUS und Herrn J. GALAMA zur "Neuheitsschonfrist" zur Kenntnis. Er beschloß, diese Gutachten der zweiten Regierungskonferenz am 15. und 16. Oktober 2000 in London zu unterbreiten.
Der Rat gab einstimmig eine Erklärung zu den derzeitigen Aktionen des Personals in München ab und forderte die Beteiligten nachdrücklich auf, ihre Aktionen unverzüglich einzustellen, um noch schlimmeren Schaden von Anmeldern, Mitgliedstaaten und Amt abzuwenden. Diese Erklärung fand die volle Unterstützung der Vertreter des epi und der UNICE, die als Beobachter an den Ratstagungen teilnehmen.
Der Rat genehmigte Änderungen der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (s. S. 316) und die Änderung des Artikels 27 der Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung für die beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter (s. S. 320).
Er genehmigte ferner eine Reihe von Verträgen des Amts sowie den Entwurf des Haushaltsplans der Europäischen Schule München für das Haushaltsjahr 2001.
Der Ratspräsident schloß die Tagung mit einer Ansprache zum Abschied von Frau Renate REMANDAS (GR), die ihr Amt als Vizepräsidentin GD 5 Ende März 2000 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mußte. In seiner Ansprache würdigte er Frau Remandas als echte Europäerin mit internationalem Pioniergeist. Er dankte ihr für ihre großen Verdienste um die Europäische Patentorganisation.