BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Juristischen Berschwerdekammer
Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer vom 3. September 1997 - J 29/96 - 3.1.1
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | J.-C. Saisset |
Mitglieder: | S. C. Perryman |
B. J. Schachenmann |
Anmelder: N.N.
Stichwort: Teilanmeldung/N.N.
Artikel: 76 (3) EPÜ
Regel: 25 EPÜ
Schlagwort: "Widerruf des Einverständnisses mit der Fassung der Stammanmeldung nur zum Zweck der Einreichung einer Teilanmeldung - unwirksam"
Leitsatz
Ist nach Regel 51 (4) das Einverständnis mit der Fassung einer früheren Anmeldung erklärt worden, so kann der Widerruf dieses Einverständnisses allein zum Zweck der Einreichung einer Teilanmeldung die Frist, innerhalb deren eine Teilanmeldung eingereicht werden kann, nicht wieder in Gang setzen.
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerdeführerin reichte die Anmeldung 95... am 18. Dezember 1995 als angebliche Teilanmeldung zur Anmeldung 90... vom 10. September 1990 ("die frühere Anmeldung") ein.
II. Der Beschwerdeführerin wurde mit EPA Form 2004 am 16. Februar 1995 eine Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ gesandt, mit der sie darüber unterrichtet wurde, in welcher Fassung die Prüfungsabteilung das Patent auf die frühere Anmeldung zu erteilen beabsichtigt; die Beschwerdeführerin hatte ihr Einverständnis mit dieser Fassung schriftlich erklärt.
III. In einem an das Europäische Patentamt gerichteten Schreiben vom 14. Dezember 1995, das die frühere Anmeldung betraf, legte die Beschwerdeführerin folgendes dar:
"Mit diesem Schreiben widerrufen wir unser Einverständnis mit der in der Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ vom 16. Februar 1995 genannten Fassung, damit wir eine Teilanmeldung einreichen können. Sollte die Einreichung dieser Teilanmeldung nicht zulässig sein, beantragen wir, daß unser früher (am 31. Mai 1995) erklärtes Einverständnis mit der in der Mitteilung nach Regel 51 (4) EPÜ vom Februar 1995 genannten Fassung weiterhin gilt."
Mit einer Mitteilung vom 27. Dezember 1995 zu der früheren Anmeldung wurde die Beschwerdeführerin darüber unterrichtet, daß die Einreichung einer Teilanmeldung in diesem Fall nicht mehr möglich sei.
IV. Mit einer Mitteilung vom 25. März 1996 über die Feststellung eines Rechtsverlusts nach Regel 69 (1) EPÜ wurde die Beschwerdeführerin davon in Kenntnis gesetzt, daß die Streitanmeldung nicht als europäische Teilanmeldung behandelt würde, da sie nach der Erklärung des Einverständnisses nach Regel 51 (4) EPÜ im Zusammenhang mit der anhängigen früheren europäischen Patentanmeldung eingereicht worden sei (Regel 25 (1) EPÜ). Auf die Stellungnahme G 10/92 der Großen Beschwerdekammer wurde Bezug genommen. Die Beschwerdeführerin verlangte eine formelle Entscheidung. In dieser am 29. Mai 1996 erlassenen Entscheidung wurde festgestellt, daß die Anmeldung nicht als Teilanmeldung behandelt werde, da nach Regel 25 (1) EPÜ eine Teilanmeldung nur bis zu dem Zeitpunkt eingereicht werden könne, zu dem gemäß Regel 51 (4) das Einverständnis mit der Fassung erklärt werde, in der das Patent auf die Stammanmeldung erteilt werden soll. Dies hat die Große Beschwerdekammer in ihrer Stellungnahme G 10/92 bestätigt.
V. Die Beschwerdeführerin legte mit Schreiben vom 16. Juli 1996 unter Entrichtung der Beschwerdegebühr Beschwerde ein; die Beschwerdebegründung ging am 24. September 1996 ein. Am 9. Juni 1997 erging eine Ladung zur mündlichen Verhandlung, der eine Mitteilung beigefügt war. In Schreiben vom 1. Juli 1997 und vom 4. August 1997 brachte die Beschwerdeführerin weitere Argumente vor. In letzterem Schreiben beantragte sie zusätzlich die Befassung der Großen Beschwerdekammer mit folgenden Fragen:
"1. Sind die Ausführungen in Nummer 5 der Stellungnahme G 10/92 der Großen Beschwerdekammer zum späteren Widerruf der nach Regel 51 (4) abgegebenen Einverständniserklärung des Anmelders als ratio decidendi (und damit für künftige Fälle verbindlich) oder lediglich als obiter dicta (und damit nicht verbindlich) zu betrachten?
2. Wenn die Ausführungen lediglich als obiter dicta anzusehen sind, unter welchen Voraussetzungen kann dann ein Anmelder eine gemäß Regel 51 (4) gegebene Einverständniserklärung widerrufen, um eine Teilanmeldung einreichen zu können?"
VI. Die mündliche Verhandlung fand am 3. September 1997 statt. Zu den in der mündlichen Verhandlung noch zu klärenden Fragen wurden schriftlich und in der mündlichen Verhandlung im wesentlichen folgende Argumente vorgebracht:
- Die Frage des Stichtags für die Einreichung einer Teilanmeldung sei für die Anmelderin äußerst wichtig. Die Beschwerdeführerin, eine US-Gesellschaft, sei im Glauben gewesen, daß eine Teilanmeldung wie nach dem US-Patentgesetz bis zum Tag der Erteilung eines Patents auf die Stammanmeldung eingereicht werden könne. Mit der Erklärung des Einverständnisses mit der Fassung, in der das Patent auf die frühere Anmeldung erteilt werden sollte, habe die Anmelderin daher nicht die Absicht verbunden, die mögliche Einreichung einer Teilanmeldung auszuschließen.
- Hinsichtlich der Wirkung des Widerrufs des Einverständnisses enthalte das Übereinkommen oder die Ausführungsordnung keine expliziten Vorschriften. Der Widerruf des Einverständnisses sei an sich nicht untersagt. Dies stehe im Gegensatz zum Verbot der Zurücknahme der europäischen Patentanmeldung nach Regel 14 EPÜ, wenn ein Dritter nachweist, daß er ein Verfahren zur Geltendmachung des Anspruchs auf Erteilung des europäischen Patents eingeleitet hat. Nur ein ausdrückliches Verbot des Widerrufs des Einverständnisses könnte die Rücknahme verhindern, und ein solches Verbot gebe es nicht. Infolgedessen müsse der Widerruf wirksam sein, und die Lage wäre so, als ob das Einverständnis nicht erklärt worden wäre. Demnach habe es der Beschwerdeführerin nach dem Widerruf des Einverständnisses am 14. Dezember 1995 freigestanden, eine Teilanmeldung einzureichen.
- Bei einem solchen Vorgehen würde es sich zugegebenermaßen um einen Verfahrenstrick handeln, aber die Entscheidung T 186/84 (ABl. EPA 1986, 79), die sich auf den Antrag eines Patentinhabers bezieht, das Patent zu widerrufen, habe gezeigt, daß solche Verfahrenstricks akzeptabel und sinnvoll seien.
- Der Satz in Nummer 5 der Stellungnahme G 10/92 "Aus der Widerrufbarkeit der Einverständniserklärung folgt aber nicht, daß der widerrufende Anmelder dadurch die Berechtigung erlangt, nunmehr eine Teilanmeldung einzureichen" sei rechtlich nicht begründet, und die Frage sei von der Großen Beschwerdekammer nur zum Teil geprüft worden. Bevor gegen diese Beschwerdeführerin entschieden werde, sollte die Sache der Großen Beschwerdekammer vorgelegt werden.
VII. Die Beschwerdeführerin beantragte, daß die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die europäische Patentanmeldung Nr. 95... als Teilanmeldung behandelt werde; hilfsweise beantragte sie, die in ihrem Schreiben vom 4. August 1997 enthaltenen Fragen der Großen Beschwerdekammer vorzulegen (s. Nr. V).
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. In der Stellungnahme G 10/92 (ABl. EPA 1994, 633) hat die Große Beschwerdekammer die ihr vorgelegte Frage wie folgt beantwortet:
"Ein Anmelder kann gemäß Regel 25 EPÜ in der ab 1. Oktober 1988 geltenden Fassung eine Teilanmeldung zu der anhängigen früheren europäischen Patentanmeldung nur bis zu seiner Zustimmung gemäß Regel 51 (4) EPÜ einreichen."
Damit wurde bestätigt (s. Nr. 4 der Stellungnahme), daß Regel 25 EPÜ im Einklang mit Artikel 76 (3) EPÜ steht und daher gegen die Festsetzung eines Zeitpunktes für die Einreichung einer europäischen Teilanmeldung in Regel 25 keine rechtlichen Bedenken zu erheben sind. In Nummer 5 führte die Große Beschwerdekammer weiter aus:
"Wenn die Entscheidung J 11/91 und J 16/91 darauf hinweist, daß die Einverständniserklärung gemäß Regel 51 (4) EPÜ nicht unwiderruflich ist, so ist diese Feststellung aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Die Einverständniserklärung ist eine prozessuale Erklärung und daher - wie grundsätzlich alle Verfahrenserklärungen - auch wieder rücknehmbar, sofern nicht das Gesetz etwas anderes bestimmt. Aus der Widerrufbarkeit der Einverständniserklärung folgt aber nicht, daß der widerrufende Anmelder dadurch die Berechtigung erlangt, nunmehr eine Teilanmeldung einzureichen. Im übrigen kann der Anmelder durch seinen Widerruf nicht das Faktum beseitigen, daß er bereits eine Einverständniserklärung abgegeben hat."
3. Die Kammer schließt sich der dort dargelegten Auffassung voll und ganz an. Der Widerruf des Einverständnisses mit der Fassung der früheren Anmeldung allein zu dem Zweck, wie im vorliegenden Fall, nach dem in Regel 25 EPÜ bestimmten Zeitpunkt eine Teilanmeldung einreichen zu können, ist nicht wirksam. Während es Fälle geben mag, in denen ein Verfahrenstrick legitim ist, würde es dem ausdrücklichen Sinn und Zweck der Regel 25 EPÜ widersprechen, hier den Widerruf zuzulassen, um die Frist für die Einreichung einer Teilanmeldung wieder in Gang zu setzen; dies kann daher nicht gestattet werden.
4. Das europäische Patentrecht und das US-Patentrecht unterscheiden sich in zahlreichen Punkten. In der Praxis in bezug auf den Stichtag für die Einreichung einer Teilanmeldung zeigt sich ein solcher Unterschied, aber dies ist kein Grund, Regel 25 EPÜ abweichend von ihrem ausdrücklichen Wortlaut auszulegen oder sie durch einen Verfahrenstrick zu unterlaufen.
5. Fragen an die Große Beschwerdekammer
5.1 Artikel 16 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern lautet wie folgt: "Will eine Kammer von einer Auslegung oder Erläuterung des Übereinkommens, die in einer Stellungnahme oder Entscheidung der Großen Beschwerdekammer enthalten ist, abweichen, so befaßt sie die Große Beschwerdekammer mit der Frage." Dieser Artikel zeigt, daß eine Stellungnahme oder Entscheidung der Großen Beschwerdekammer für eine Beschwerdekammer nicht absolut rechtsverbindlich ist. Folglich bliebe es einer Beschwerdekammer stets unbenommen, die Frage erneut der Großen Beschwerdekammer vorzulegen. Diese Kammer war ersucht worden, der Großen Beschwerdekammer die Frage 1 betreffend die Rechtsverbindlichkeit der Ausführungen in Nummer 5 der Stellungnahme G 10/92 vorzulegen; Frage 1 ist aber bereits mit Artikel 16 beantwortet.
5.2 Die Kammer könnte daher die zweite Frage vorlegen, die sich auf die Voraussetzungen bezieht, unter denen ein Anmelder eine Einverständniserklärung gemäß Regel 51(4) EPÜ widerrufen kann, um dann eine Teilanmeldung einzureichen. Nach Auffassung der Kammer und ganz im Einklang mit der Stellungnahme G 10/92 ist aber der Widerruf des Einverständnisses mit der Fassung der früheren Anmeldung allein zum Zweck der Einreichung einer Teilanmeldung nicht wirksam. Dies ist die einzige Frage, die sich hier stellt, und die Kammer will keine Vermutungen darüber anstellen, unter welchen Voraussetzungen ein Widerruf wirksam sein könnte. Daher hält sie eine Befassung der Großen Beschwerdekammer für überflüssig.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Der Antrag auf Vorlage von Fragen an die Große Beschwerdekammer wird abgelehnt.
2. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.