AUS DEN VERTRAGS- / ERSTRECKUNGSSTAATEN
SE Schweden
Urteil des Patentbeschwerdegerichts vom 10. Mai 1995
(Modul-Elektronik AB ./. AB Cale Industri)
Stichwort: Vorrichtung für Verkaufsautomaten
§ 2 PatG
Schlagwort: "Neuheit - Stand der Technik - offenkundige Vorbenutzung durch Inverkehrbringen eines Erzeugnisses - Nacharbeitbarkeit des Erzeugnisses für den Fachmann" - "G 1/92 als richtungsweisende Entscheidung herangezogen"
Leitsätze
1. Ein Erzeugnis, das ohne ausdrückliche oder implizite Geheimhaltungsverpflichtung auf den Markt gebracht wird, gilt ab dem Tag des Inverkehrbringens als Stand der Technik im Sinne von § 2 PatG, auch wenn nur ein einziges Exemplar dieses Erzeugnisses abgesetzt wurde. Das gilt unabhängig davon, ob Konstruktion und Funktionsweise des Erzeugnisses unmittelbar erkennbar sind oder erst durch eine besondere Untersuchung erschlossen werden müssen.
2. Von diesem Grundsatz ist jedenfalls dann auszugehen, wenn ein Erzeugnis so konstruiert ist, daß ein Fachmann in der Lage ist, die Konstruktion anhand gängiger Verfahren zweifelsfrei nachzuarbeiten. Ausnahmen sollten nur gemacht werden, wenn die Schwierigkeiten bei der technischen Interpretation dazu führen, daß das Wissen des Fachmanns, die gängigen Untersuchungsverfahren oder andere ihm zur Verfügung stehenden Interpretationshilfen nicht ausreichen, um Aufbau und Funktion des Produkts unmißverständlich deutlich zu machen.
Aus der Entscheidung des Patent- und Registrierungsamts vom 3. Mai 1993
Die Patentanmeldung [Nr. 8904126-3] wird mit dem heutigen Tag zurückgewiesen.
Dieser Entscheidung liegt der am 6. Dezember 1991 eingereichte Anspruch zugrunde.
Gegen die Patentanmeldung wurde von AB Cale Industri Einspruch eingelegt.
Die Anmeldung betrifft eine Vorrichtung für Verkaufsautomaten, bei der sowohl mit Kreditkarten als auch mit Münzen gezahlt werden kann.
Die Vorrichtung ist für den Einbau in Verkaufsautomaten bestimmt, so daß diese Zahlungen per Kreditkarte oder in Münzen entgegennehmen können. Im ursprünglichen Schaltkreis eines Verkaufsautomaten, der eine erste Computereinheit aufweist, wird zwischen das Münz- bzw. Geldscheinprüfgerät und die erste Computereinheit eine zweite Computereinheit geschaltet.
Die zweite Computereinheit ist so ausgestattet, daß nach Entgegennahme der Zahlung eines bestimmten Betrags per Kreditkarte ein Signal an die erste Computereinheit geschickt wird, das dem Signal entspricht, das das Münz- bzw. Geldscheinprüfgerät empfangen hätte, wenn Münzen in entsprechendem Wert angenommen worden wären.
Der Einsprechende behauptet, daß die Erfindung durch einen Verkauf vor dem Anmeldetag der Patentanmeldung allgemein zugänglich gemacht worden sei.
Urteil des Patentbeschwerdegerichts
Das Patentbeschwerdegericht hat entschieden, die Beschwerde des Patentanmelders zurückzuweisen.
Den Ermittlungen des Gerichts zufolge ergibt sich nachstehender Sachverhalt. Die vorliegende Patentanmeldung wurde am 6. Dezember 1989 beim Patentamt eingereicht und dann zur öffentlichen Einsicht freigegeben (Einspruch). Es wurde Einspruch eingelegt mit der Begründung, daß der Einsprechende selbst einen baulich mit der Offenbarung des Anspruchs 1 voll und ganz übereinstimmenden Typ eines Parkscheinautomaten entwickelt habe, der noch vor dem Anmeldetag der Patentanmeldung durch offenkundige Vorbenutzung allgemein zugänglich gemacht worden sei. Zwei Automaten dieses Typs seien an Parkeringsbolaget Stockholms Stads Parkerings AB geliefert und am 19. Mai 1989 in Skeppsbrokajen aufgestellt worden. Die Automaten seien am 30. Oktober fakturiert und am 30. November 1989 bezahlt worden. In der 47. - 48. Kalenderwoche des betreffenden Jahres, d. h. spätestens am 3. Dezember 1989, seien die Schlösser an den Automaten ausgewechselt worden, womit die Verfügungsgewalt über die Automaten auf den Parkplatzbetreiber übergegangen sei. Der Einsprechende bringt vor, daß der Verkauf der Automaten spätestens mit dem Tag der Rechnungsbegleichung, also dem 30. November 1989, als abgeschlossen anzusehen sei. In Anbetracht dessen und eingedenk der in Schweden und beim EPA geltenden Praxis bezüglich der Beurteilung der allgemeinen Zugänglichkeit nach einem Verkauf (siehe insbesondere die Beschwerdekammerentscheidung T 482/89, ABl. EPA 1992, 646) macht der Einsprechende geltend, daß die Automaten bereits vor dem Anmeldetag der Patentanmeldung im Sinne von § 2 PatG allgemein zugänglich gewesen seien, daß der Automat gemäß Anspruch 1 somit bekannt und folglich nicht patentierbar sei.
Der Anmelder behauptet dagegen, daß der 3. Dezember 1989, d. h. der letztmögliche Termin für das Auswechseln der Schlösser, als Verkaufstag der Automaten anzusehen sei. Das heiße aber nicht, daß die Parkscheinautomaten unter den gegebenen Umständen als allgemein zugänglich im Sinne des Patentgesetzes anzusehen seien. Zur Stützung seiner Behauptung zog der Anmelder in erster Linie einige Entscheidungen des Europäischen Patentamts an, namentlich die Entscheidung T 461/88 und G 1/92, wobei letztere von der Großen Beschwerdekammer erlassen wurde (ABl. EPA 1993, 295 bzw. 277). In der erstgenannten Sache ging es um eine Druckmaschine mit einem Mikrochip, auf dem in Maschinensprache das Programm für das Steuerungsverfahren gespeichert war. Das Verfahren galt als durch den Verkauf nicht bekanntgemacht, weil zum einen das Prinzip des Steuerungsverfahrens phänomenologisch nicht erkennbar war und zum anderen eine direkte Ermittlung des Programminhalts gemessen an ihrem Nutzen zu teuer gewesen wäre (vgl. amtlicher deutscher Text). In der Sache G 1/92 stellt die Große Beschwerdekammer fest, daß ein Erzeugnis, das der Öffentlichkeit zugänglich ist und vom Fachmann analysiert werden kann, unabhängig davon, ob es besondere Gründe für eine Analyse gibt, als Stand der Technik anzusehen ist. Allerdings darf die Analyse nicht mit einem unzumutbaren Aufwand einhergehen. Der Anmelder behauptet, daß der vorliegende Fall genau so gelagert sei wie der Fall der Druckmaschine. Das Programm für das Steuerungsverfahren des zum Patent angemeldeten Automaten sei auf einem Mikrochip gespeichert; eine Analyse des Programms wäre zu zeitraubend und teuer und wäre mit einem unzumutbaren Aufwand verbunden. Außerdem sei zu berücksichtigen, daß nach dem Verkaufstag, dem 3. Dezember 1989, nur wenig Zeit zur Verfügung gestanden habe. Darüber hinaus rückte der Anmelder vor dem Patentbeschwerdegericht von seinem früheren eindeutigen Zugeständnis ab, daß die entgegengehaltenen Automaten so konstruiert gewesen seien wie in Anspruch 1 dargelegt.
Dementsprechend stellt das Patentbeschwerdegericht angesichts der Ergebnisse seiner Ermittlungen folgende Betrachtungen an.
Um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen, wird von vornherein klargestellt, daß es bei der Untersuchung dieses Falles in erster Linie darum geht zu ermitteln, inwieweit der vom Einsprechenden entgegengehaltene Verkaufsautomat als Stand der Technik im Sinne von § 2 PatG betrachtet werden kann; auf dieser Grundlage kann dann beurteilt werden, ob die Erfindung gemäß Anspruch 1 die erforderliche Neuheit und erfinderische Tätigkeit aufweist.
Zur Verdeutlichung der Konstruktion der entgegengehaltenen Parkuhren legte der Einsprechende Erklärungen von F. (vom 1.11.1991) und L. (vom 31.10.1991) vor, die als Konstrukteur bzw. Projektleiter an der Entwicklung dieser Automaten beteiligt waren. Die ausführlichen, übereinstimmenden Berichte über die Automaten lassen erkennen, daß diese zum Zeitpunkt der Aufstellung sowohl baulich als auch funktionell voll und ganz mit dem Inhalt des Anspruchs 1 übereinstimmten. Daß an den Automaten zu einem späteren Zeitpunkt möglicherweise eine Veränderung vorgenommen wurde - wie der Anmelder behauptet -, ist ohne Belang und kein Grund, die Ausführungen von F. und L. in Frage zu stellen.
Was den Verkaufstag der Automaten betrifft, so braucht das Patentbeschwerdegericht für die Zwecke dieses Urteils nicht dazu Stellung zu nehmen, ob der Kauf vor dem 3. Dezember 1989 abgewickelt wurde.
Was die Frage betrifft, inwieweit besagte Automaten durch den Verkauf im Sinne des Patentgesetzes allgemein zugänglich gemacht wurden, so gilt nach schwedischer Rechtspraxis ein Erzeugnis, das ohne ausdrückliche oder implizite Geheimhaltungsklausel auf den Markt gebracht wird, als Stand der Technik im Sinne von § 2 PatG, auch wenn nur ein einziges Exemplar dieses Erzeugnisses abgesetzt wurde und unabhängig davon, ob dessen Konstruktion und Funktionsweise unmittelbar erkennbar sind oder erst durch eine besondere Untersuchung erschlossen werden müssen. Diese Praxis steht voll und ganz mit der genannten Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in Einklang (G 1/92), wo es allerdings in den Entscheidungsgründen heißt, daß die Erschließung nicht mit "unzumutbarem Aufwand" einhergehen darf. Was mit dieser Formulierung gemeint ist, wird in der Entscheidung nicht gesagt, und die Auslegung gestaltet sich schwierig. Da sich die besagte Entscheidung aber in erster Linie auf chemische Erzeugnisse bezieht, deren Analyse mit erheblichen technischen Schwierigkeiten verbunden sein kann, dürften an deren Umfang nicht gerade geringe Anforderungen gestellt werden. Dies gilt erst recht, wenn die Kammer damit beabsichtigt, daß bei der Bemessung dieses Erfordernisses auch nichttechnischen Schwierigkeiten und Fehlerquellen Rechnung zu tragen ist.
Für diese Auslegung sprechen auch die folgenden schwerwiegenden Gründe. Die Formulierung des Neuheitserfordernisses - die in § 2 PatG und in Artikel 54 EPÜ gleich lautet und auf einer identischen Formulierung in Artikel 4 des sogenannten Straßburger Übereinkommens des Europarats von 1963 fußt - geht von der Voraussetzung der allgemeinen oder absoluten Neuheit aus, d. h. zum Stand der Technik gehört alles, was allgemein zugänglich gemacht wurde, unabhängig davon, auf welche Art und Weise dies geschehen ist. Hintergrund hierfür ist, daß die Gesellschaft ein Interesse daran hat, tunlichst nur demjenigen ein Monopol in Form eines Patents zu verleihen, der ihr neue Technologie zu bieten hat - ein Aspekt, der bereits im Straßburger Übereinkommen deutlich wird, wonach ältere Patentanmeldungen für jüngere Anmeldungen neuheitsschädlich sind (im schwedischen Patentgesetz: § 2 Absatz 2 Satz 2). Aus der Formulierung der Patentierungsvoraussetzungen, zu denen ja das Erfordernis der allgemeinen Neuheit zählt, ergibt sich des weiteren, daß diese Wirkung unabhängig von der Sprache und dem Ort der Zugänglichmachung eintritt. So gilt nach dem Patentgesetz beispielsweise eine Information in einer Fachzeitschrift, die in Chinesisch erschienen ist und ab einem bestimmten Tag in nur einer einzigen chinesischen Bibliothek für die Öffentlichkeit zugänglich war, von diesem Tag an als Stand der Technik. Die Wirkung ist also unabhängig von subjektiven Aspekten, wie etwa sprachlichen, zeitlichen oder finanziellen Schwierigkeiten, die es dem einzelnen Fachmann möglicherweise erschweren, direkten Nutzen aus der Veröffentlichung (oder einer anderen Offenbarungsform) und ihrem technischen Inhalt zu ziehen. Andernfalls ließe sich die Bedeutung des Neuheitserfordernisses nicht mehr an die Kompetenz und das Wissen koppeln, die dem Fachmann im Sinne des Patentgesetzes zugeschrieben werden1; dann aber bestünde die Gefahr, daß jeder Fachmann diesem Erfordernis eine andere Bedeutung beimißt. Es müssen schon sehr stichhaltige Gründe vorliegen, damit ein Erzeugnis, das ohne Geheimhaltungsklausel an einem bestimmten Tag auf den Markt gebracht wird und so konstruiert ist, daß ein Fachmann durchaus in der Lage ist, die Konstruktion anhand gängiger Verfahren zweifelsfrei nachzuarbeiten, von diesem Tag an nicht als neuheitsschädlich für eine spätere Patentanmeldung gilt, ob diese nun vom Vermarkter des Produktes selbst oder von einem Dritten eingereicht worden ist. Ausnahmen sollten grundsätzlich nur gemacht werden, wenn Schwierigkeiten bei der technischen Interpretation dazu führen, daß das Wissen des Fachmanns, die gängigen Untersuchungsverfahren oder ander ihm zur Verfügung stehende Interpretationshilfen nicht ausreichen, um Aufbau und Funktion des Produkts unmißverständlich deutlich zu machen. Als echte neuheitsschädliche Offenbarung gilt also - wie bei der technischen Literatur - stets nur, was für den Fachmann eine sinnvolle und nützliche technische Information darstellt.
Die besagte Entscheidung der Großen Beschwerdekammer schließt demnach einen solchen Ansatz nicht aus. Die Druckmaschinen-Entscheidung, die zeitlich vor der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer liegt, scheint damit jedoch nicht vereinbar zu sein, weswegen ihr in der vorliegenden Sache keine allzu große Bedeutung beigemessen werden sollte.
Abgesehen davon unterscheidet sich die vorliegende Sache nach Auffassung des Patentbeschwerdegerichts in so vielen faktischen Gegebenheiten vom Fall der Druckmaschine, daß ein direkter Vergleich in bezug auf das Ergebnis nicht möglich ist.
Im vorliegenden Fall muß der Fachmann zur Ausführung der erforderlichen Untersuchungen mit der Grundkonstruktion der betreffenden Automaten, also mit Parkgebührenautomaten ohne Kartenleser, vertraut sein. Als solchem dürfte es ihm auch keie groß Mühe machen, durch Ermittlung des Schaltschemas und Analyse des Signalmusters für den Betrieb des Kartenlesers die grundlegende Konstruktion und Funktion des Automaten in dem in Anspruch 1 definierten Umfang zu ermitteln. Ferner würde die Beobachtung, daß der Automat nicht nur mit Münzen, sondern auch mit Kreditkarten betreien werden kann, an sich schon die schlußfolgerung nahelegen, daß dies entweder durch eine Modifikation des bestehenden Computers oder durch Hinzufügen eines neuen Computers bewerkstelligt wird. Von einem "unzumutbaren Aufwand" in Zusammenhang mit der erforderlichen Untersuchung des Automaten kann also selbst dann keine Rede sein, wenn neben etwaigen technischen Schwierigkeiten und Fehlerquellen auch zeitliche und finanzielle Aspekte berücksichtigt werden.
Nach Lage der Dinge müssen die vom Einsprechenden entgegengehaltenen Automaten als vor dem Anmeldetag bekannt im Sinne von § 2 PatG angesehen werden. Da die Erfindung gemäß Anspruch 1 nicht neu ist, ist sie nicht patentfähig. Der Beschwerde kann daher nicht stattgegeben werden.
SE 1/98
1 Laut Jacobsson/Tersmeden/Törnroth, Patentlagstiftningen, Kommentar zum schwedischen Patentgesetz, 1980, S. 90, ist ein Fachmann jemand, der zwar nicht über eine besondere erfinderische Begabung verfügt, aber umfassend über den Stand der Technik zu der betreffenden Patentanmeldung Bescheid weiß und in der Lage ist, alle bekannten Unterlagen fachmännisch zu verwerten und dabei auch offensichtliche Änderungen vorzunehmen.