ARBEITSSITZUNG
Das Gerichtssystem in Europa
Margot FRÖHLINGER - Direktorin, Generaldirektion Binnenmarkt und Dienstleistungen - Das Gerichtswesen in Europa
Sehr geehrte Damen und Herren, guten Morgen. Es ist mir eine große Ehre, in diesem prächtigen und stattlichen Gebäude zu Ihnen sprechen zu dürfen, und ich freue mich sehr, mit Ihnen allen zusammen zu sein und über die Zukunft der Patentgerichtsbarkeit in Europa zu diskutieren.
Bevor ich gestern abgeflogen bin, habe ich mit einem Kollegen von der Direktion Finanzdienstleistungen über den großen Erfolg gesprochen, den meine Kollegen letzte Woche erzielt haben: Wahrscheinlich haben viele von Ihnen von der Einsetzung einer europäischen Finanzdienstleistungsaufsicht gehört. Noch vor zwei Jahren hätte das niemand für möglich gehalten, und es war völlig unvorstellbar, dass die nationalen Aufsichtsbehörden ihre Macht und ihre Befugnisse an eine europäische Behörde abtreten würden. Mein Kollege hat mich daran erinnert, dass dieser Erfolg der Finanzkrise geschuldet ist, die ein so dringendes Bedürfnis nach einer europäischen Behörde hat entstehen lassen, dass es uns plötzlich möglich war, alle bisherigen Bedenken und Hindernisse zu überwinden. Nun erleben wir ja gerade eine andere Krise, die der europäischen Wirtschaft - das hilft uns aber offenbar nicht, bei der Patentreform schneller voranzukommen.
Europa gerät in Sachen Innovation, Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum ins Hintertreffen, und wir müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um die europäische Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und insbesondere bei europäischen KMU, die das Rückgrat der europäischen Wirtschaft bilden, einen Innovationsschub auszulösen. Leider geht aus allen Berichten hervor, dass die europäischen KMU im Durchschnitt weniger innovativ sind als die KMU in Japan oder den USA. Dafür gibt es viele Gründe. In Europa fehlt es an Unternehmerkultur, und der Zugang zu Venture- und Risikokapital ist ungenügend. Als weiteren Grund machen die Berichte aber auch eindeutig die zu geringe Inanspruchnahme von geistigen Eigentumsrechten und insbesondere von Patenten aus.
Europäische KMU machen zwar zahllose Erfindungen, melden aber einfach viel weniger Patente an als KMU in den USA und Japan. Wenn es um die Gründe für die zu geringe Nutzung von geistigen Eigentumsrechten und insbesondere von Patenten geht, durchzieht alle Berichte ein Leitmotiv: Die KMU nennen die Komplexität und die Kosten des Patentsystems nach der Patenterteilung, die notwendige Validierung durch die nationalen Patentämter, die Übersetzungen, die hohen Verfahrenskosten und den Umstand, dass Rechtsstreitigkeiten in Europa zu kostspielig und zu riskant seien. Zahlreiche Fallstudien belegen dies. Lassen Sie mich Ihnen das an einem Beispiel veranschaulichen:
Ein von unseren Kollegen der GD Unternehmen erstellter Bericht enthält eine Fallstudie über eine kleine griechische Firma im Raum Thessaloniki, ein Kleinstunternehmen mit nur sieben Angestellten, das vor einigen Jahren von Wissenschaftlern an der Universität Thessaloniki gegründet wurde.
Dieses Unternehmen ist auf Technologien und Produkte für Wirbelsäulenimplantate spezialisiert. Nach einem vielversprechenden Start sah es sich nach einigen Jahren mit ernsthaften Problemen konfrontiert. Nach Aussagen der Mitarbeiter sind Plagiate auf diesem Gebiet gang und gäbe, und die vom Unternehmen entwickelten Produkte und Technologien werden in einer ganzen Reihe von Mitgliedstaaten kopiert. Aus Kostengründen hat das Unternehmen nicht sämtliche Produkte und Komponenten, sondern nur einige Produkte und Technologien patentieren lassen. Zudem gilt der Patentschutz nur in einer begrenzten Zahl von Mitgliedstaaten, und selbst dort ist es für das Unternehmen sehr schwierig, Prozesse zu führen und seine Patente durchzusetzen. In Deutschland hat es allerdings eine Verletzungsklage angestrengt und auch gewonnen. Das ist eine gute Nachricht. Sein Hauptkonkurrent, der die Produkte nachahmt, hat seinen Sitz jedoch im Vereinigten Königreich, und dem Unternehmen wurde von seinem Anwalt wegen der viel zu hohen Kosten von der Einleitung eines Verfahrens in diesem Land abgeraten. Das Ergebnis: Der UK-Markt ist verloren.
Außerdem steht das Unternehmen vor dem Problem, dass seine Produkte natürlich auch in China kopiert werden. Unmengen von aus China stammenden Plagiaten werden über den Hafen von Antwerpen nach Europa eingeführt. Das Unternehmen hat versucht, die Plagiate nach Maßgabe der EU-Zollvorschriften in Antwerpen beschlagnahmen zu lassen. Leider hatte es seine Patente aber in Belgien nicht validieren lassen, weil die dafür erforderliche niederländische Übersetzung als zu kostspielig erachtet worden war. Daher konnte der belgische Zoll nichts unternehmen, um zu verhindern, dass die Plagiate ganz einfach in den europäischen Binnenmarkt und insbesondere auf den niederländischen und den deutschen Markt gelangten. Damit läuft das Unternehmen Gefahr, nun auch noch den deutschen Markt zu verlieren, und ist in eine finanzielle Schieflage geraten. Die fehlenden Einnahmen hindern es wiederum daran, in neue Produkte und Technologien zu investieren und innovativ tätig zu werden. Eine derartige Situation darf in Europa nicht länger toleriert werden. Und wenn es uns ernst mit der Stärkung der Innovationsfähigkeit insbesondere unserer KMU ist, dann besteht hier dringender Handlungsbedarf.
Aber leider verhallen die Stimmen all der kleinen Unternehmen aus Griechenland, Deutschland, den Niederlanden, Italien, Portugal und anderen Ländern ungehört. Sie sind einfach nicht einflussreich genug, um als Lobby einen wirklichen politischen Druck aufzubauen und so eine Änderung der Situation herbeizuführen.
Wir in der Kommission schenken ihnen jedoch Gehör und unternehmen einen neuen Anlauf zur Reform des Patentsystems. Unsere Befugnisse sind allerdings sehr begrenzt. Wir können Vorschläge einbringen, aber wir können unsere Mitgliedstaaten nicht zwingen, diese anzunehmen. Das gilt für die Schaffung eines einheitlichen EU-Patents wie auch für die Einführung eines gemeinsamen Streitregelungssystems für Patente - von beiden träumen die Menschen in Europa schon seit mehr als 50 Jahren.
Lassen Sie mich nun zuerst auf die Einführung des EU-Patents zu sprechen kommen. Wie wir alle wissen, war hier viele Jahre lang die Frage der Sprachen und der Übersetzungen das Haupthindernis. Wir haben unser Bestes getan, um eine für alle Mitgliedstaaten akzeptable Lösung zu finden, doch eine "Patentlösung" gibt es nicht. Wir setzen uns dafür ein, dass die Kosten und die Komplexität für die Unternehmen minimiert werden. Daher halten wir es für die beste Lösung, die geltende Sprachenregelung des Europäischen Patentamts beizubehalten, die sich ja bewährt hat, an die sich die Unternehmen gewöhnt haben und deren Anwendung auch logisch erscheint, weil das EU-Patent kein anderes oder neues Patent ist. Das EU-Patent ist einfach nur eine besondere Kategorie eines europäischen Patents, das auf dem gesamten Gebiet der Europäischen Union einheitlichen Charakter hat. Wie wir alle wissen, ist jedoch zweifelhaft, ob dieser Vorschlag die erforderliche Einstimmigkeit erzielen wird. Innerhalb wie auch außerhalb der Kommission wird aber ernsthaft erwogen, andernfalls die Schaffung eines Einheitspatents für 25, 23 oder 20 Mitgliedstaaten ins Auge zu fassen.
Was die Einrichtung des einheitlichen Streitregelungssystems für Patente betrifft, so gehe ich davon aus, dass der Inhalt des Übereinkommensentwurfs Ihnen allen bekannt ist. Ich denke, es erübrigt sich, diesem Publikum zu erklären, worin die Hauptmerkmale des vorgesehenen Streitregelungssystems bestehen. Lassen Sie mich nur die aus Sicht der Kommission und der Nutzer wichtigsten Punkte hervorheben, ohne die das ganze System für die Nutzer nicht oder nur wenig interessant wäre.
Erstens wünschen sich die Nutzer ein unabhängiges, spezialisiertes internationales Patentgericht. In der Vergangenheit gab es Ideen und sogar einen Vorschlag der Kommission, die Zuständigkeit für Patentstreitigkeiten an den EuGH zu übertragen. Die Nutzer haben uns mitgeteilt, dass sie das für keine gute Idee halten. Die Erfahrung in unseren Mitgliedstaaten und weltweit lehrt eindeutig, dass hoch spezialisierte, erfahrene Patentrichter mit Schwerpunkt auf Patentstreitigkeiten und spezielle Verfahrensregeln unerlässlich sind, wenn eine hohe Qualität und Rechtssicherheit und eine zügige Rechtspflege gewährleistet werden sollen. Ist dies nicht möglich, so sollte das Projekt nicht weiterverfolgt werden, weil es für die Nutzer des Patentsystems uninteressant wäre.
Sehr wichtig ist für die Nutzer zweitens, dass das Gericht nicht völlig zentralisiert ist. Sie wünschen sich vielmehr dezentrale Eingangsinstanzen, die eng in die vorhandenen nationalen Strukturen eingebunden sind. Wir müssen die auf nationaler Ebene bestehenden Gerichtsstrukturen bestmöglich nutzen, und dies besonders in der Anfangsphase, in der das europäische Gerichtswesen noch im Aufbau begriffen sein wird. Es wird uns nicht möglich sein, spezialisierte und qualifizierte europäische Richter zu gewinnen, wenn wir nicht auf die Erfahrung und Qualifikation nationaler Richter zurückgreifen können, die in unseren Mitgliedstaaten mit Patentstreitigkeiten befasst sind.
Aus Sicht der Nutzer unabdingbar ist drittens, dass das neue Patentgericht einheitlichen Verfahrensregeln unterliegt, die so ausgestaltet sind, dass sie einerseits schnelle und effiziente Verfahren garantieren, die Parteien aber andererseits nicht daran hindern, ihre Sache bestmöglich vorzutragen.
Heute Nachmittag werden Sie über die Verfahrensregeln diskutieren, die wir gerade entwerfen. Die Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen, doch das bisherige Ergebnis kann sich sehen lassen, und ich bin all denen unter Ihnen äußerst verbunden, die diese Arbeiten intensiv begleitet haben und uns an ihrer Sachkenntnis und Erfahrung haben teilhaben lassen. Diese Verfahrensregeln bauen auf den unterschiedlichen Rechtstraditionen und Gerichtssystemen unserer Mitgliedstaaten auf. Sie führen die besten Elemente aus allen Systemen zusammen, wobei versucht wird, die jeweiligen Nachteile und Schwächen zu vermeiden. Die Arbeit an diesem Regelwerk war eine einmalige und spannende Erfahrung. Gelingt es uns, ein europäisches Patentgericht einzuführen, und kommen diese Verfahrensregeln eines Tages zum Einsatz, so wird sich ihre Bedeutung bei Weitem nicht darin erschöpfen, die Funktionsfähigkeit des Europäischen Patentgerichts zu gewährleisten. Sie werden schon für sich genommen einen wichtigen Beitrag zur europäischen Integration darstellen. Richter aus allen Mitgliedstaaten, die in einem gemeinsamen Patentgericht zusammenarbeiten und nach einheitlichen Verfahrensregeln Rechtsstreitigkeiten zwischen privaten Parteien beilegen - das wäre nicht nur in praktischer Hinsicht eine großartige Errungenschaft, sondern hätte auch weit über das Gebiet der Patentstreitigkeiten hinaus symbolische Bedeutung.
Ich bedauere zutiefst, heute Nachmittag nicht an den Gesprächen über die Verfahrensregeln teilnehmen zu können, weil ich morgen auf einer GRUR-Veranstaltung in Hamburg sprechen werde. Ich wünsche Ihnen aber eine sehr interessante und anregende Diskussion.
An dieser Stelle möchte ich hinzufügen, dass wir auch schon an praktischen und finanziellen Vereinbarungen für das künftige Patentgericht arbeiten. Hier haben wir ebenfalls sehr interessante Diskussionen mit Richtern und Juristen u. a. darüber geführt, wie viele Fälle anfangs wohl vor das europäische Gericht gelangen werden und welches Arbeitsaufkommen ein Richter überhaupt bewältigen kann. Und auch hier sind die Traditionen und Erfahrungen von einem Mitgliedstaat zum anderen sehr unterschiedlich. Damit werden wir noch einige Zeit beschäftigt sein, denn es liegt noch ein weiter Weg vor uns.
Der nächste Schritt wird das noch ausstehende Gutachten des Europäischen Gerichtshofs sein. Kürzlich hat die Stellungnahme der Generalanwälte in Fachkreisen für eine gewisse Unruhe gesorgt. Ich halte es nicht für angebracht, dass ich als Vertreterin der Europäischen Kommission diese Stellungnahme kommentiere, die ja nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, sondern ein internes Dokument des Europäischen Gerichtshofs ist. Als Einziges möchte ich dazu sagen, dass die Berichterstattung über die Stellungnahme in der Presse stark übertrieben und irreführend war. Außerdem habe ich im Gespräch mit Patentrichtern und -anwälten manchmal den Eindruck gewonnen, dass es viele Missverständnisse gibt. Gewiss haben die Generalanwälte einige Bedenken geäußert; sie haben aber auch auf mögliche Lösungswege hingewiesen. Zu diesen Lösungen möchte ich hier nichts sagen. Wir werden das Gutachten des Europäischen Gerichtshofs abwarten, und wenn dieser die Bedenken der Generalanwälte teilt oder andere Bedenken vorträgt, werden wir an möglichen Abhilfen arbeiten.
Wir hoffen sehr, dass der Europäische Gerichtshof uns im Großen und Ganzen grünes Licht geben wird. Wir hoffen, dass die Kommission dann sehr bald ein Verhandlungsmandat erhalten wird, dass formelle Verhandlungen aufgenommen werden und eine diplomatische Konferenz einberufen wird, dass die Zustimmung des Europäischen Parlaments erteilt und dass das Ratifizierungsverfahren zum Abschluss gebracht werden kann. Und wie seinerzeit das Ratifizierungsverfahren für das EPÜ 2000 wird auch die jetzige Ratifizierung ein wichtiger Verfahrensschritt sein, der einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Wir hoffen aber, das Vorhaben endlich realisieren zu können. Wie hat doch eine europäische Zeitung letzte Woche angemerkt: "Von jeder weiteren Verzögerung wird nur der asiatische Tiger profitieren". In einer Zeit, in der Länder wie China ein erstklassiges, zentralisiertes Patentgericht einrichten, kann es sich Europa nicht leisten, noch viel länger zu zaudern. Vor diesem Hintergrund zählen wir auf Ihre anhaltende Unterstützung und Hilfe sowie möglichst auf eine gewisse Begeisterung für dieses Vorhaben und für Europa. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.