BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.2.03 vom 23. März 2006 - T 1040/04 - 3.2.03
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | U. Krause |
Mitglieder: | Y. Jest |
| J. Seitz |
Patentinhaberin/Beschwerdegegnerin: Unilin Beheer B.V.
Einsprechende/Beschwerdegegnerin: Berry Finance N.V.
Einsprechende/Beitretende: ROYSOL
Einsprechende/weitere Verfahrensbeteiligte: Otger Terhürne Holzwerke GmbH & Co. KG
Stichwort: Fußbodenbelag/UNILIN
Artikel: 76 (1), 100 c) EPÜ
Schlagwort: "Änderung eines Patents, das auf eine Teilanmeldung erteilt wurde - Vorlage an die Große Beschwerdekammer"
Leitsatz
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Kann ein Patent, das auf eine Teilanmeldung erteilt wurde, die den Erfordernissen des Artikels 76 (1) EPÜ nicht genügte, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Einreichung über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausging, im Einspruchsverfahren so geändert werden, dass der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ entkräftet wird und damit die genannten Erfordernisse erfüllt sind?
Sachverhalt und Anträge
I. Mit ihrer Entscheidung vom 2. August 2004 hat die Einspruchsabteilung das europäische Patent Nr. 1 024 234 auf der Grundlage des vierten Hilfsantrags in geänderter Form mit dem folgenden Anspruch 1 aufrechterhalten, der gegenüber der erteilten Fassung durch Hinzufügen der fettgedruckten Textstellen und Streichung der Passagen in eckigen Klammern geändert wurde:
"Fußbodenbelag,
a) bestehend aus harten Fußbodenpaneelen (1),
b) die rechteckig, d. h. länglich oder quadratisch sind und
c) die sowohl ein erstes Paar als auch ein zweites Paar einander gegenüberliegender Seiten (2-3, 26-27) aufweisen, wobei
d) besagte Paneele (1) zumindest an den Kanten des zweiten Paares einander gegenüberliegender Seiten mit Kupplungsteilen (4-5, 28-29), im Wesentlichen in Form einer Nut (10-32) und einer Feder (9-31), versehen sind,
e) wobei diese Kupplungsteile (4-5, 28-29) mit integrierten mechanischen Verriegelungsmitteln (6) versehen sind, die jeweilige, sich in der Längsrichtung der betreffenden Kanten erstreckende Verriegelungselemente (11-13, 33-34, 46-47) umfassen,
f) welche Verriegelungsmittel (6) einstückig mit dem Kern (8) der Paneele (1) gefertigt sind,
g) wobei, im gekoppelten Zustand zweier derartiger Paneele (1), die Kupplungsteile (4-5, 28-29) zusammen mit besagten Verriegelungsmitteln (6) eine Verriegelung
g1) sowohl in einer Richtung senkrecht zur Ebene der Paneele (1),
g2) als auch in einer Richtung senkrecht zu den gekoppelten Kanten und parallel zur Ebene der Paneele (1) vorsehen,
h) wobei das Basismaterial der Fußbodenpaneele (1), mit anderen Worten das Material des Kerns (8), [im Wesentlichen] aus HDF-Platte oder MDF-Platte besteht,
wobei
i) besagte, aus besagtem Kern (8) geformte Kupplungsteile und Verriegelungsmittel (6) derart verwirklicht sind, dass zwei dieser Fußbodenpaneele (1) zusammengefügt werden können, indem sie seitwärts in einer im Wesentlichen planaren Weise aufeinander zu geschoben werden, wobei
i1) eine Einrastverbindung vorgesehen wird,
i2) worin besagte Verriegelungselemente hintereinander greifen und
i3) worin die Kupplungsteile (4-5, 28-29) und die Verriegelungsmittel (6) für eine spielfreie Verriegelung sorgen, und zwar in alle Richtungen der Ebene, die sich senkrecht zu den Paneelkanten befindet, so dass das nachträgliche Entstehen von Spalten auf der Oberfläche des Fußbodenbelags ausgeschlossen wird."
Die Beschreibung des Patents wurde gemäß dem von der Einspruchsabteilung aufrechterhaltenen vierten Hilfsantrag geändert, wobei u. a. der Absatz [0016] gestrichen wurde.
II. Das Streitpatent wurde auf die europäische Teilanmeldung Nr. 00 201 515.4 erteilt, die gemäß Artikel 76 EPÜ auf der Grundlage der am 7. Juni 1997 eingereichten und als WO-A-97/47834 veröffentlichten früheren europäischen Anmeldung Nr. 97 928 169.8 eingereicht wurde.
Die frühere europäische Anmeldung Nr. 97 928 169.8 beanspruchte die folgenden Prioritäten:
BE 9600527, eingereicht am 11. Juni 1996, und
BE 9700344, eingereicht am 15. April 1997.
III. Die Einsprechenden E I, E I' und E II - E VII legten Einspruch gegen die Erteilung des Patents ein. Die Einspruchsabteilung befand bei Abschluss des Einspruchsverfahrens, dass die Einspruchsgründe, nämlich unzureichende Offenbarung (Artikel 100 b) EPÜ), Erweiterung (Artikel 100 c) EPÜ) sowie mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ) der Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form nicht entgegenstünden.
Bei der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit stellte die Einspruchsabteilung ferner fest, dass der beanspruchten Erfindung nicht nur die zweite beanspruchte Priorität (BE 9700344 vom 15. April 1997) zustehe, sondern auch die erste (BE 9600527, eingereicht am 11. Juni 1996).
IV. Die Patentinhaberin sowie die Einsprechenden E I, E I', E II, E V, E VI und E VII legten gegen diese Entscheidung Beschwerde ein. Allerdings haben die Einsprechenden E I, E I', E II, E III, E V und E VI ihren Einspruch im Beschwerdeverfahren zurückgenommen.
Während des Beschwerdeverfahrens legte eine Beitretende (E VIII) gemäß Artikel 105 EPÜ einen weiteren Einspruch ein.
Die folgende Zusammenfassung gibt einen Überblick über die im Beschwerdeverfahren verbliebenen Beteiligten und die entsprechenden relevanten Daten:
- Beschwerdeführerin I: Patentinhaberin:
Die Beschwerde wurde am 4. Oktober 2004 eingereicht und die Beschwerdegebühr am selben Tag entrichtet. Die Beschwerdebegründung ging am 9. Dezember 2004 ein.
- Beschwerdeführerin II: Einsprechende E VII:
Die Beschwerde wurde am 4. August 2004 eingereicht und die Beschwerdegebühr am selben Tag entrichtet. Die Beschwerdebegründung ging am 10. Dezember 2004 ein.
- Beitretende: Einsprechende E VIII:
Der Beitritt wurde am 14. Februar 2006 erklärt. Am selben Tag wurden die Beschwerdegebühr und die Einspruchsgebühr entrichtet. Die Beschwerdebegründung ging ebenfalls an diesem Tag ein.
- Weitere Verfahrensbeteiligte: Einsprechende E IV.
V. Die Beschwerdeführerin I beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung (mit Ausnahme des fünften Hilfsantrags) und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des Hauptantrags, eines der vier am 9. Dezember 2004 eingereichten Hilfsanträge, eines der am 9. März 2006 eingereichten Anträge sechs und sieben oder eines der am 21. Februar 2006 eingereichten Hilfsanträge acht bis elf.
Gemäß dem fünften Hilfsantrag beantragte die Beschwerdeführerin I die Zurückweisung der Beschwerde der Beschwerdeführerin II.
VI. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt:
"Fußbodenbelag,
a) bestehend aus harten Fußbodenpaneelen (1),
b) die rechteckig, d. h. länglich oder quadratisch sind und
c) die sowohl ein erstes Paar als auch ein zweites Paar einander gegenüberliegender Seiten (2-3, 26-27) aufweisen, wobei
d) besagte Paneele (1) zumindest an den Kanten des zweiten Paares einander gegenüberliegender Seiten mit Kupplungsteilen (4-5, 28-29), im Wesentlichen in Form einer Nut (10-32) und einer Feder (9-31), versehen sind,
e) wobei diese Kupplungsteile (4-5, 28-29) mit integrierten mechanischen Verriegelungsmitteln (6) versehen sind, die jeweilige, sich in der Längsrichtung der betreffenden Kanten erstreckende Verriegelungselemente (11-13, 33-34, 46-47) umfassen,
f) welche Verriegelungsmittel (6) einstückig mit dem Kern (8) der Paneele (1) gefertigt sind,
g) wobei, im gekoppelten Zustand zweier derartiger Paneele (1), die Kupplungsteile (4-5, 28-29) zusammen mit besagten Verriegelungsmitteln (6) eine Verriegelung
g1) sowohl in einer Richtung senkrecht zur Ebene der Paneele (1),
g2) als auch in einer Richtung senkrecht zu den gekoppelten Kanten und parallel zur Ebene der Paneele (1) vorsehen,
h) wobei das Basismaterial der Fußbodenpaneele (1), mit anderen Worten das Material des Kerns (8), aus HDF-Platte oder MDF-Platte besteht,
dadurch gekennzeichnet, dass
i) besagte, aus besagtem Kern (8) geformte Kupplungsteile und Verriegelungsmittel (6) derart verwirklicht sind, dass zwei dieser Fußbodenpaneele (1) zusammengefügt werden können, indem sie seitwärts in einer im Wesentlichen planaren Weise aufeinander zu geschoben werden, wobei
i1) eine Einrastverbindung vorgesehen wird,
i2) worin besagte Verriegelungselemente hintereinander greifen und
i3) worin die Kupplungsteile (4-5, 28-29) und die Verriegelungsmittel (6) derart konfiguriert sind, dass die Paneele (1) in gekoppeltem Zustand, an den betreffenden Kanten, auf spielfreie Weise verbunden sind."
Dieser Anspruch ähnelt Anspruch 1 des von der Einspruchsabteilung zurückgewiesenen Hauptantrags vom 8. Juni 2004, jedoch mit dem Unterschied, dass in Merkmal h des Oberbegriffs die Wörter "im Wesentlichen" gestrichen wurden.
Die Einspruchsabteilung stellte fest, dass der Hauptantrag vom 8. Juni 2004 gegen Artikel 76 (1) EPÜ verstoße, da er Gegenstände enthalte, die über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgingen. Dieser Einwand galt dann durch die (vornehmlich in Merkmal i3 vorgenommenen) Änderungen des Anspruchs 1 als ausgeräumt, der als vierter Hilfsantrag eingereicht und dann von der Einspruchsabteilung entsprechend aufrechterhalten wurde (siehe Nr. I).
VII. Die Beschwerdeführerin II und die Beitretende beantragten, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent Nr. 1 024 234 zu widerrufen.
Ferner beantragte die Beschwerdeführerin II, das Verfahren auszusetzen, bis die Große Beschwerdekammer in der noch anhängigen Sache G 1/05 entschieden habe.
VIII. In der mündlichen Verhandlung am 23. März 2006 wurde ausschließlich erörtert, ob die Einreichung der europäischen Teilanmeldung Nr. 00 201 515.4 und die anschließende Erteilung des Patents Nr. 1 024 234 die Erfordernisse der Artikel 76 (1) und 100 c) EPÜ erfüllten.
a) Die Beschwerdeführerin II machte Folgendes geltend:
Die Beschreibung der Teilanmeldung in der eingereichten Fassung und die Beschreibung des Patents in der erteilten Fassung enthielten einen verhältnismäßig langen Absatz (Nr. [0017] der Anmeldung in der veröffentlichten Fassung und Nr. [0016] des Patents in der erteilten Fassung), der gegenüber der eingereichten Fassung der früheren Anmeldung WO-A-97/47834 zur Beschreibung hinzugefügt worden sei.
In diesem hinzugefügten Absatz seien zahlreiche zusätzliche Merkmale der Erfindung aufgeführt, die entweder für sich genommen oder in jeder möglichen Verbindung miteinander zu berücksichtigen seien. Einige dieser Kombinationen stellten neue Ausführungsformen dar, die in der früheren Anmeldung nicht offenbart seien.
Außerdem sei das in Spalte 3, Zeilen 51 bis 56 der veröffentlichten Fassung der Teilanmeldung (EP-A-1 024 234) definierte Merkmal, das sich auf einen Winkel A beziehe, der "anders als 90 Grad" sei, nicht von der früheren Anmeldung WO-A-97/47834 gestützt, in der derselbe Winkel A auf einen Winkel "kleiner als 90 Grad" beschränkt worden sei (siehe Seite 13, Zeilen 13 bis 16).
Da es in der Vorlage G 1/05 um dieselbe Art des Verstoßes gegen Artikel 76 (1) EPÜ gehe, sollte das Verfahren ausgesetzt werden, bis die Große Beschwerdekammer in dieser Sache entschieden habe.
b) Die Beschwerdeführerin I brachte folgende Argumente vor:
Erstens werde der Einwand nach Artikel 76 (1) EPÜ nicht in der Beschwerdebegründung der Einsprechenden erhoben, sondern erst ein Jahr später auf Grund der Vorlage G 1/05 geltend gemacht. Es handle sich somit um einen neuen Einwand und einen neuen Beschwerdegrund, der als solcher nicht zum Verfahren zugelassen werden dürfe.
Zweitens erhalte der Fachmann durch ein Merkmal, das einen Winkel definiere, der anders als 90 Grad sei, keine neuen Angaben, die er nicht auch der früheren Anmeldung entnehmen könne. Bei einem Winkel von mehr als 90 Grad sei weder eine seitliche Einrastverbindung noch eine Schwenkverbindung der Kupplungsteile der Paneele möglich, so dass für den Fachmann "anders als" eindeutig weniger als 90 Grad bedeute. Ferner gäbe es, selbst wenn der Winkel A größer als 90 Grad sei, zwischen der waagerechten Ebene und der Berührungslinie L immer einen Winkel, der kleiner als 90 Grad sei, nämlich den Komplementärwinkel zu A.
Die Beschwerdeführerin I betonte, dass in dem Fall, in dem die Kammer untersuchen wolle, ob möglicherweise ein Verstoß gegen Artikel 76 (1) EPÜ vorliege, eine Aussetzung des Beschwerdeverfahrens angesichts der bei der Großen Beschwerdekammer in G 1/05 anhängigen Frage nicht ausreiche, sondern der Großen Beschwerdekammer vielmehr eine zusätzliche Frage vorgelegt werden müsse.
c) Nachdem die sachliche Debatte zu den Artikeln 76 (1) und 100 c) EPÜ für beendet erklärt worden war und nach Beratung verkündete die Kammer Folgendes:
"Im Hinblick auf die anhängige Vorlage in der Sache G 1/05 wird die Kammer der Großen Beschwerdekammer eine weitere Rechtsfrage zu einem bereits erteilten Patent von Amts wegen vorlegen."
d) Die sonstigen Form- und Sachfragen der Beschwerde wurden in dieser Phase des Beschwerdeverfahrens nicht geprüft.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerden entsprechen den Bestimmungen der Artikel 106 bis 108 EPÜ und den Regeln 1 (1) und 64 EPÜ; sie sind daher zulässig.
Der Beitritt entspricht den Bestimmungen des Artikels 105 EPÜ und ist ebenfalls zulässig. Dies wurde von den Verfahrensbeteiligten nicht bestritten.
2. Die Thematik des Artikels 76 (1) EPÜ wurde bereits im Einspruchsverfahren erörtert, und zwar sowohl in Bezug auf die Ansprüche als auch auf die Beschreibung.
Aus der Anlage der Ladung zur mündlichen Verhandlung der Einspruchsabteilung vom 13. Februar 2004 (siehe insbesondere Punkt 5 auf den Seiten 4 und 5) geht hervor, dass der Absatz [0016] der Beschreibung des Patents in der erteilten Fassung sowie andere Teile des Patents im Vergleich zur früheren Anmeldung neue Gegenstände zu enthalten scheinen.
Als Erwiderung auf die Ladung strich der Patentinhaber mit Schreiben vom 8. Juni 2004 den Absatz [0016].
In ihrer Entscheidung führte die Einspruchsabteilung ferner aus, dass der Anspruch 1 des Hauptantrags Ausführungsformen abdecke, bei denen nach dem ersten Auslegen der Fußbodenpaneele Spalten erkennbar blieben (siehe zum Beispiel S. 13 der Entscheidung, Nr. 2.1.2. der Gründe, letzter Absatz) und dass diese Ausführungsformen somit die auf Seite 3 der Beschreibung der früheren Anmeldung definierte Aufgabe nicht gelöst hätten.
Die Einspruchsabteilung machte geltend, dass im folgenden Merkmal i3 des Anspruchs 1
"worin die Kupplungsteile (4-5, 28-29) und die Verriegelungsmittel (6) derart konfiguriert sind, dass die Paneele (1) in gekoppeltem Zustand, an den betreffenden Kanten, auf spielfreie Weise verbunden sind."
weder ausgesagt werde, dass keine Spalten vorhanden seien, noch aufgezeigt werde, dass die nachträgliche Bildung solcher Spalten verhindert werden könne.
Aus der Entscheidung insgesamt geht hervor, dass es nach Auffassung der Einspruchsabteilung nötig wäre, das in Anspruch 1 des vierten Hilfsantrags dargelegte Merkmal i3 in die Definition der Erfindung im unabhängigen Anspruch 1 aufzunehmen, damit die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ erfüllt seien.
Das Merkmal i3 lautet wie folgt:
"worin die Kupplungsteile (4-5, 28-29) und die Verriegelungsmittel (6) für eine spielfreie Verriegelung sorgen, und zwar in alle Richtungen der Ebene, die sich senkrecht zu den Paneelkanten befindet, so dass das nachträgliche Entstehen von Spalten auf der Oberfläche des Fußbodenbelags ausgeschlossen wird."
3. Im Beschwerdeverfahren stellte sich die Frage, ob ein auf eine Teilanmeldung erteiltes Patent in der Einspruchsphase mit dem Ziel geändert werden kann, einen Einwand nach Artikel 100 c) und 76 (1) EPÜ auszuräumen. An Bedeutung gewann dieses Thema aufgrund einer Vorlage an die Große Beschwerdekammer (G 1/05, siehe Entscheidung T 39/03 - 3.4.2 vom 26. August 2005), in der Frage 1 eine ähnliche Rechtsfrage aufwirft, wenn auch im Kontext des Prüfungsverfahrens.
3.1 Dem vorliegenden Fall liegt in Bezug auf die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ folgender Sachverhalt zu Grunde:
Im Einspruchsverfahren wurde Absatz [0016] aus der Beschreibung des Patents in der erteilten Fassung gestrichen.
Dieser Absatz war in der Teilanmeldung in der eingereichten Fassung enthalten (siehe Absatz [0017] der veröffentlichten Anmeldung), nicht aber in der früheren Anmeldung WO-A-97/47834.
Die Kammer gelangte aus den folgenden Gründen zu dem Schluss, dass in dem genannten Absatz mindestens ein Merkmal enthalten ist, das einen Gegenstand definiert, der über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgeht.
Dieses Merkmal betrifft den Winkel A, der so definiert ist, dass er zwischen der von den Kontaktflächen der Verriegelungselemente gebildeten Berührungslinie L und der Unterseite der Fußbodenpaneele liegt, und der in den Abbildungen 7, 9 und 23 dargestellt ist. Laut Absatz [0017], Spalte 3, Zeilen 51 bis 56 der veröffentlichten Teilanmeldung (EP-A-1 024 234) und Absatz [0016], Spalte 3, Zeilen 50 bis 55 der Patentschrift ist der Wert des Winkels A "anders als 90 Grad" definiert, während er in der früheren Anmeldung (WO-A-97/47834) entweder kleiner als 90 Grad (Ausführungsform in den Abbildungen 5 bis 7 sowie zum Beispiel Seite 13, Zeile 16 und Seite 14, Zeilen 27 bis 29) oder genau 90 Grad (Ausführungsform in Abbildung 8) war.
Demnach wurde der Gegenstand insofern erweitert, als die neuen Ausführungsformen einen Winkel A aufweisen, der größer als 90 Grad ist.
3.2 Die Argumentation der Beschwerdeführerin I, dass der Fachmann durch ein Merkmal, das einen Winkel anders als 90 Grad definiere, keine neuen Angaben erhalte, ist nicht überzeugend. Wie die Beschwerdeführerin II bemerkte, scheint ein Winkel A, der größer als 90 Grad ist, eine seitliche Einrastverbindung oder eine Schwenkverbindung der Kupplungsteile der Paneele zuzulassen.
Folglich impliziert "anders als 90 Grad" für den Fachmann nicht automatisch "kleiner als 90 Grad". Da der Winkel A, wie in den Abbildungen 7, 9 und 23 gezeigt, immer als der im Gegenuhrzeigersinn von der horizontalen Ebene und der Berührungslinie L beschriebene Winkel dargestellt wird, kann diese Definition nicht, wie von der Beschwerdeführerin I vorgeschlagen, unter Hinweis auf den Komplementärwinkel ausgelegt werden.
3.3 Die Kammer gelangt daher zu dem Ergebnis, dass weder die am Anmeldetag eingereichte Fassung der Teilanmeldung noch die erteilte Fassung des Patents die Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ erfüllen.
4. Diese Feststellung ist relevant für die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Form gemäß einem der von der Beschwerdeführerin I eingereichten Anträge, und zwar ungeachtet möglicher weiterer Einwände nach Artikel 76 (1) EPÜ zu den Ansprüchen oder Teilen der Beschreibung.
5. Vorlage
5.1 Gemäß Artikel 100 EPÜ, der folgenden Wortlaut hat:
"Der Einspruch kann nur darauf gestützt werden, dass
a) ...
b) ...
c) der Gegenstand des europäischen Patents über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung oder, wenn das Patent auf einer europäischen Teilanmeldung ... beruht, über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht."
stellt eine Verletzung dieser Bestimmung, die genau dem Wortlaut des Artikels 76 EPÜ entspricht, ausdrücklich einen Einspruchsgrund gegen ein auf eine Teilanmeldung erteiltes europäisches Patent dar.
In der Entscheidung G 1/95 (ABl. EPA 1996, 615, siehe Nrn. 4.1 und 4.2 der Gründe) legte die Große Beschwerdekammer Artikel 100 EPÜ dahingehend aus, dass dieser im Rahmen des Übereinkommens limitierend regeln solle, auf welche Rechtsgrundlagen, d. h. auf welche Einwände, ein Einspruch gestützt werden kann.
Zu jedem in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgrund gebe es ein entsprechendes Erfordernis in einem anderen Artikel des EPÜ, das im Erteilungsverfahren erfüllt werden müsse.
Insbesondere beziehe sich der Einspruchsgrund in Artikel 100 c) EPÜ auf eine einzelne, klar abgegrenzte Rechtsgrundlage für den Einspruch, nämlich unzulässige Erweiterung vor der Erteilung.
Gemäß Artikel 123 EPÜ in Verbindung mit Regel 57a EPÜ kann der Patentinhaber ein europäisches Patent hingegen nach der Erteilung ändern, soweit die Änderung durch einen der in Artikel 100 EPÜ genannten Einspruchsgründe, d. h. auch durch einen der oben genannten Einspruchsgründe nach Artikel 100 c) EPÜ, veranlasst ist.
Eine rein syllogistische Betrachtung des Artikels 100 in Verbindung mit Regel 57a EPÜ würde zu dem logischen Schluss führen, dass der Patentinhaber sein Patent ändern kann, um den Einwand auszuräumen, dass die Teilanmeldung, auf der es beruht, über den Inhalt der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht. Dieses Recht wurde von den Beschwerdekammern nach der ständigen Rechtsprechung anerkannt und umgesetzt.
5.2 Dennoch legte die Kammer 3.4.02 in ihrer Entscheidung T 39/03 vom 26. August 2005 der Großen Beschwerdekammer die folgende erste Rechtsfrage vor:
"1. Kann eine Teilanmeldung, die den Erfordernissen des Artikel 76 (1) EPÜ nicht genügt, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Einreichung über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausgeht, später geändert werden, um sie zu einer gültigen Teilanmeldung zu machen?"
5.3 Die Vorlage G 1/05 bezieht sich zwar auf die entsprechende Nichterfüllung der Erfordernisse des Artikels 76 (1) EPÜ, betrifft jedoch nur das Prüfungsverfahren.
Es ist nicht im Interesse einer geordneten Rechtspflege, einer künftigen Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in irgendeiner Weise vorzugreifen. Es ist auch nicht angemessen, das Beschwerdeverfahren auszusetzen, bis diese Entscheidung ergangen ist, da die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass die erste in G 1/05 vorgelegte Rechtsfrage (siehe oben) verneint wird. In diesem Fall bliebe die mit der vorliegenden Sache befasste Kammer weiterhin mit der wichtigen Rechtsfrage konfrontiert, ob ein erteiltes Patent, d. h. ein Rechtstitel für geistiges Eigentum, wie eine Anmeldung geändert werden kann. Diese Frage zu beantworten noch während die genannte Vorlage anhängig ist, käme einem Eingriff in die der Großen Beschwerdekammer durch die einschlägigen Rechtstexte verliehenen Kompetenz gleich.
5.4 Aus diesen Gründen legt die Kammer der Großen Beschwerdekammer von Amts wegen die folgende Rechtsfrage vor.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Kann ein Patent, das auf eine Teilanmeldung erteilt wurde, die den Erfordernissen des Artikels 76 (1) EPÜ nicht genügte, weil sie zum Zeitpunkt ihrer Einreichung über den Inhalt der früheren Anmeldung hinausging, im Einspruchsverfahren so geändert werden, dass der Einspruchsgrund nach Artikel 100 c) EPÜ entkräftet wird und damit die genannten Erfordernisse erfüllt sind?