BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.4.3 vom 8. September 2005 - T 514/05 - 3.4.3
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | R. G. O'Connell |
Mitglieder: | T. Bokor |
| V. L. P. Frank |
Anmelder: TEXAS INSTRUMENTS INCORPORATED
Stichwort: Online eingereichte Beschwerde/TEXAS INSTRUMENTS
Artikel: 21 (1), 23 (3), 10 (2), 108 EPÜ
Regel: 36 (5), 36 (1), 36 (2), 36 (4), 35, 35 (4), 24 (1), 10 (1), 10 (3) EPÜ
Schlagwort: "Rechtswirkung einer mit epoline® eingereichten Beschwerde; Formerfordernisse für Unterlagen, die auf andere Weise mittels technischer Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung eingereicht werden"
Leitsätze
I. Die Benutzung anderer "technischer Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung" (Regel 24 (1) und 36 (5) EPÜ) muss vom Präsidenten des EPA ausdrücklich gestattet werden, bevor ein Verfahrensbeteiligter diese zur Einreichung von Unterlagen bei einer Stelle des EPA, d. h. auch bei dessen Beschwerdekammern, verwenden darf; s. Nr. 3.
II. Eine mit epoline® eingereichte Beschwerde kann ohne ausdrückliche Genehmigung durch den Präsidenten des EPA keine Rechtswirkung haben; s. Nr. 10.
Sachverhalt und Anträge
I. Es handelt sich hier um eine vermeintliche Beschwerde gegen die am 22. Oktober 2004 zur Post gegebene Entscheidung der Prüfungsabteilung über die Zurückweisung der europäischen Patentanmeldung Nr. 99 204 298.6.
II. Ein Schriftstück, bei dem es sich vermeintlich um eine Beschwerdeschrift handelt, wurde dem Europäischen Patentamt am 22. Dezember 2004 unter Benutzung des so genannten epoline®-Systems für die Online-Einreichung ("epoline®") elektronisch übermittelt. Diese Möglichkeit wurde auf der Grundlage eines Beschlusses des Präsidenten des EPA vom 29. Oktober 2002 (ABl. EPA 11/2002, 543, "Beschluss") in Verbindung mit einer Mitteilung des EPA vom 3. Dezember 2003 (ABl. EPA 12/2003, 609, "Mitteilung") eröffnet. Das Konto der Anmelderin wurde am gleichen Tag mit der Beschwerdegebühr belastet.
III. Am 21. Februar 2005 informierte der Formalsachbearbeiter der Prüfungsabteilung die Anmelderin in einer Kurzmitteilung (EPO Form 2911) darüber, dass die Einreichung einer Beschwerde mit epoline® vom EPA nicht gestattet sei, und riet ihr, die Beschwerde "auf dem üblichen Weg vor Fristablauf" einzureichen, nannte aber kein konkretes Datum und auch keine spezifische Rechtsvorschrift zu einer Frist. Diese Benachrichtigung wurde an die Anmelderin gefaxt und am 24. Februar 2005 auch per Post verschickt.
IV. Eine Beschwerdebegründung wurde weder in Papier- noch in elektronischer Form eingereicht, und auch sonst war im EPA keine weitere Reaktion der Anmelderin zu verzeichnen.
Entscheidungsgründe
1. Als Erstes ist hier die Frage zu klären, ob überhaupt eine Beschwerdeschrift eingegangen ist, denn dies ist eine Voraussetzung für das Vorliegen einer Beschwerde; vgl. Artikel 108 Satz 1 EPÜ. Die Beantwortung dieser Rechtsfrage liegt angesichts der elektronischen Form der Übermittlung und angesichts der Tatsache, dass die elektronische Übermittlung laut EPÜ für bestimmte Arten von Unterlagen eine rechtswirksame Einreichung darstellen kann, nicht ohne Weiteres auf der Hand.
2. Im Sinne des EPÜ gilt eine Beschwerdeschrift als nachgereichtes, d. h. nach der europäischen Patentanmeldung eingereichtes Schriftstück, das nicht dazu dient, Unterlagen der europäischen Patentanmeldung zu ersetzen. Die Einreichung solcher Schriftstücke ist in Regel 36 EPÜ und insbesondere in den Absätzen 2 bis 4 geregelt, die - nach Auffassung der Kammer - nur in Papierform übermittelte Schriftstücke betreffen, sowie in Absatz 5, der für Unterlagen gilt, die "auf andere Weise mittels technischer Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung" eingereicht werden. Es scheint offensichtlich, dass der Begriff "andere" ausdrücklich auf die Übertragung einer Darstellung oder Kodierung des Inhalts einer Papierunterlage abhebt, die von der Übertragung der physischen Papierunterlage als solcher zu unterscheiden ist. Dieser Absatz ist die Rechtsgrundlage für die Einreichung bestimmter Unterlagen per Telex, per Fax sowie mit epoline®.
3. Der spezifische gesetzgeberische Zweck der Regel 36 (5) EPÜ besteht somit darin, eine Rechtsgrundlage für die Verwendung solcher papierloser "technischer Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung" für die rechtswirksame Nachreichung von Unterlagen beim EPA zu schaffen - eine entsprechende Bestimmung für Patentanmeldungen ist in Regel 24 (1) EPÜ enthalten. In Regel 36 (5) EPÜ heißt es, dass der Präsident des EPA ("der Präsident") befugt ist, eine solche Verwendung zu gestatten, und dass er auch "die Bedingungen" für die Benutzung solcher anderer "technischer Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung" festlegt. Aus dieser Interpretation ergibt sich außerdem, dass nicht geprüft werden muss, ob ein mit der betreffenden "technischen Einrichtung zur Nachrichtenübermittlung" eingereichtes Schriftstück den Bestimmungen der Regeln 36 (2) bis (4) EPÜ entspricht, da die Regel 36 (5) EPÜ eine explizite Ausnahmeregelung darstellt. Andererseits unterliegen nach dieser Interpretation nicht nur manche, sondern alle Arten von papierlosen "technischen Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung" den Bestimmungen der Regel 36 (5) EPÜ. Mit anderen Worten muss die Benutzung anderer "technischer Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung" vom Präsidenten ausdrücklich gestattet werden, bevor ein Verfahrensbeteiligter diese im Schriftwechsel mit einer Stelle des Europäischen Patentamts, also auch mit den Beschwerdekammern, verwenden darf.
4. Mit dem Beschluss hat der Präsident die ihm vom Verwaltungsrat gemäß Regel 36 (5) EPÜ übertragene Gesetzgebungsbefugnis ausgeübt; dieser Beschluss regelt die Benutzung von epoline®, deren Einzelheiten in der Mitteilung näher ausgearbeitet sind. Er spezifiziert nicht, welche Arten von Unterlagen mit epoline® eingereicht werden können, sondern überträgt vielmehr die Entscheidungsbefugnis in dieser Hinsicht als administratives Detail an das EPA selbst; vgl. Artikel 2 des Beschlusses. Auf Grund dieser Befugnisübertragung werden die Anmelder in Absatz 1 der Mitteilung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Benutzung von epoline® im Einspruchs- und Beschwerdeverfahren nicht gestattet ist. In der englischen Fassung der Mitteilung wird unglücklicherweise der zweideutige Begriff "not admissible" (Hervorhebung aus dem Originaltext) verwendet, und analog dazu heißt es in der deutschen Fassung "nicht zulässig". Beide Formulierungen sind problematisch, weil sie die Rechtsfolge der Unzulässigkeit einer Beschwerde evozieren. Die Kammer ist jedoch der Auffassung, dass eine wirksame Mitteilung einer solchen Rechtsfolge - die in jedem Fall nur auf bestimmte Arten von Unterlagen zuträfe - formeller ausgedrückt werden müsste. Bei der relativ informellen Formulierung der Mitteilung würde sich demnach eine sorgfältige Exegese gar nicht lohnen. Nur die französische Fassung, in der der passendere und genauere Begriff "pas permis" (nicht gestattet) verwendet wird, scheint mit gebührender Berücksichtigung der juristischen Feinheiten verfasst worden zu sein.
4.1 Die Kammer stellt fest, dass der Ausschluss von Einspruchs- und Beschwerdeverfahren im letzten Satz von Absatz 1 der Mitteilung keine willkürliche oder unfundierte Ausübung des dem EPA durch Artikel 2 des Beschlusses übertragenen Ermessens war. Diese Verfahren sind mit Komplikationen verbunden, die es im Prüfungsverfahren nicht gibt, und es war sehr vernünftig, epoline® stufenweise einzuführen und dabei mit dem einfachsten Verfahren zu beginnen.
5. Aus den vorstehenden Überlegungen folgt, dass es eine rechtliche Voraussetzung in Form einer positiven Regelung dieser Frage durch den Präsidenten - oder, kraft der durch Artikel 2 des Beschlusses weiterübertragenen Befugnis, durch das EPA - für die rechtswirksame Einreichung einer Beschwerde mit epoline®nicht gibt. Es spielt dabei keine Rolle, dass die auf den Präsidenten übertragene Regelungsbefugnis auf etwas ungewöhnliche Art und Weise weiterübertragen wurde, nämlich ohne auch nur die zuständige Abteilung des Europäischen Patentamts zu nennen.
5.1 Fest steht, dass der Präsident auf Grund von Artikel 10 (2) Buchstabe a EPÜ die Befugnis zum Erlass interner Verwaltungsvorschriften hat, und Buchstabe i dem Präsidenten ausdrücklich gestattet, seine Befugnisse (weiter)zuübertragen. Andererseits geht die Festlegung von Bedingungen, wie Anmelder mit dem Amt korrespondieren sollen, über das Konzept einer internen Verwaltungsvorschrift hinaus. Offenbar hat der Präsident somit kraft verschiedener Regeln des Übereinkommens noch weitere Befugnisse, die in der nicht erschöpfenden Aufzählung in Artikel 10 (2) EPÜ nicht erwähnt sind und die zu Recht als gesetzgeberische Befugnisse zu betrachten sind, da sie die Rechtsgültigkeit der Handlungen von Anmeldern und anderen Verfahrensbeteiligten unmittelbar betreffen. Wie vorstehend unter Nummer 4 erwähnt, beruht diese Befugnis auf einer Übertragung der Befugnisse des Verwaltungsrats. Nun stellt sich die Frage, ob eine solche übertragene gesetzgeberische Befugnis des Präsidenten - die nicht auf Artikel 10 (2) EPÜ, sondern auf einer anderen Bestimmung des Übereinkommens wie etwa Regel 36 (5) EPÜ beruht - überhaupt weiterübertragen werden kann. Aber selbst wenn diese Weiterübertragung aus irgendeinem Grund fehlerhaft wäre, würde dies nichts an der Rechtslage ändern, dass die Einreichung von Unterlagen mit epoline® für die Zwecke einer Beschwerde nicht positiv geregelt ist.
5.2 Selbst wenn Artikel 2 des Beschlusses so ausgelegt würde, dass er das in Regel 10 (1) EPÜ genannte autonome Organ dazu ermächtigt, die Einreichung von Beschwerden mit epoline® auf Grund von Regel 10 (3) EPÜ zu gestatten, so hätte doch auch dieses Organ, das so genannte Präsidium der Beschwerdekammern, seine Befugnis noch nicht ausgeübt, d. h. es hat die Einreichung von Unterlagen für Beschwerdeverfahren mit epoline® nicht ausdrücklich gestattet.
6. Nachdem festgestellt wurde, dass die Übermittlung einer vermeintlichen Beschwerdeschrift mit epoline®, wie vorstehend unter den Nummern 1 bis 5 ausgeführt, nicht den Formerfordernissen für die Einreichung einer Beschwerdeschrift (als nachgereichtes Schriftstück gemäß Regel 36 (5) EPÜ) entspricht, gilt es zu entscheiden, welche Rechtswirkung eine solche vermeintliche Beschwerdeschrift hat, da Regel 36 (5) EPÜ diesbezüglich keine unmittelbar anwendbare Bestimmung enthält.
7. Artikel 21 (1) EPÜ in Verbindung mit Artikel 23 (3) EPÜ ermächtigt eine Kammer, Beschwerden unabhängig von äußeren Einflüssen zu prüfen. Es gibt jedoch keine Bestimmung im Übereinkommen, der die hier entscheidende Kammer entnehmen könnte, dass es in ihrem Ermessen liegt, diese mit epoline® eingereichte vermeintliche Beschwerde als rechtswirksam eingelegt zu betrachten, zumal im Übereinkommen selbst klar darauf hingewiesen wird, dass es sich hier nicht um ein Thema handelt, das im Übereinkommen absichtlich oder versehentlich ungeregelt blieb, und nur dann wäre eine Kammer unter Umständen berechtigt, eine Lücke in der Gesetzgebung zu schließen. Ganz im Gegenteil - würde die Kammer im Einzelnen prüfen, ob diese vermeintlich eingelegte Beschwerde eventuell den Erfordernissen des Übereinkommens genügt und somit eventuell als eingegangen betrachtet werden könnte, käme dies der Ausübung einer gesetzgeberischen Befugnis gleich, die in Regel 36 (5) EPÜ ganz eindeutig einem anderen Organ innerhalb der Europäischen Patentorganisation, nämlich dem Präsidenten, übertragen wurde. Die Kammer befindet deshalb gemäß Artikel 23 (3) EPÜ, dass sie nicht direkt prüfen kann, ob die vermeintliche Beschwerde als eingegangen gelten kann, denn dies wäre eine Überschreitung ihrer Befugnisse (ultra vires).
8. Es könnte auch zu absurden Ergebnissen führen, wenn verschiedene Beschwerdekammern des EPA den Status vermeintlicher Beschwerden prüfen müssten, die möglicherweise mit verschiedenen "technischen Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung" wie etwa epoline®, E-Mail, vielleicht sogar SMS übertragen wurden, und damit gezwungen wären, ohne Rechtsgrundlage im EPÜ verschiedene technische Kriterien und Rechtsfragen in Einklang zu bringen. Die durchaus plausible Annahme, dass verschiedene Kammern zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen könnten, macht dieses Szenario nicht weniger absurd, gewiss aber weniger nützlich - wenn nicht sogar nutzlos - für den Anmelder. So besteht beispielsweise kaum ein Zweifel daran, dass verschiedene Kammern leicht zu völlig divergierenden Ansichten darüber kommen könnten, ob diese technischen Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung das Erfordernis der Unterschrift erfüllen, und falls dies bejaht wird, welche technischen Kriterien dafür gelten, um hier nur eine der wichtigsten Fragen zu nennen. Dies erscheint umso absurder, wenn man bedenkt, dass in Regel 36 (5) EPÜ ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass dieses Erfordernis überhaupt nicht erfüllt werden muss, wenn der Präsident dies beschließt.
9. Somit ist die Kammer zwar eindeutig nicht aufgerufen, die Rolle des Gesetzgebers zu übernehmen und "motu proprio" festzulegen, welche Rechtswirkung eine vermeintliche Beschwerde hat, die konkret mit epoline® eingereicht wurde, sie ist aber mangels einer unmittelbar anwendbaren Bestimmung im Übereinkommen dennoch verpflichtet, auf der Grundlage des Übereinkommens allgemein die beabsichtigte Rechtswirkung eines Schriftstücks zu bestimmen, das dem EPA über nicht geregelte physische Einrichtungen zugeleitet wurde. Wie vorstehend erläutert, betrachtet die Kammer epoline® bloß als Beispiel für eine nicht geregelte Einrichtung zur Übermittlung von Unterlagen für die Zwecke des Beschwerdeverfahrens.
10. Regel 36 (5) EPÜ sieht vor, dass selbst Unterlagen, die mit erlaubten "technischen Einrichtungen zur Nachrichtenübermittlung" eingereicht werden, als nicht eingegangen betrachtet werden können, wenn sie nicht durch Papierunterlagen bestätigt werden. Umso weniger kann ein mit einer nicht erlaubten "technischen Einrichtung zur Nachrichtenübermittlung" eingereichtes Schriftstück (das wie im vorliegenden Fall nicht anschließend auf Papier bestätigt wird) einen höheren Rechtsstatus erlangen als ein Schriftstück, das mit einer erlaubten technischen Einrichtung zur Nachrichtenübermittlung eingereicht wurde, bei dem aber später etwaige weitere vom Präsidenten nach Regel 36 (5) EPÜ vorgeschriebene Erfordernisse, die auch die physischen Voraussetzungen der Einreichung betreffen, nicht erfüllt wurden. Die Kammer ist deshalb der Auffassung, dass eine mit epoline® eingereichte Beschwerde ohne ausdrückliche Genehmigung durch den Präsidenten ebenfalls keine Rechtswirkung haben kann.
11. Gemäß der Entscheidung J 19/90 vom 30. April 1992 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) bewirkt die bloße Zahlung einer Beschwerdegebühr keine rechtsgültige Beschwerde, selbst wenn dabei die Anmeldung genannt wird. Dementsprechend vertritt die Kammer die Auffassung, dass im vorliegenden Fall keine Beschwerde existiert, da die vermeintliche Beschwerdeschrift als nicht eingereicht gilt.
12. Wie vorstehend unter IV angemerkt, hat die Anmelderin nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, sich zu der Mitteilung zu äußern, wonach die Einreichung einer Beschwerde mit epoline® nicht gestattet ist.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die vermeintliche Beschwerde gilt als nicht eingelegt.
2. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.