AUS DEN VERTRAGS- / ERSTRECKUNGSSTAATEN
DE Deutschland
Urteil des Bundesgerichtshofs, X. Zivilsenat, vom 5. Mai 1998
(X ZR 57/96)*
Stichwort: "Regenbecken"
§§ 1, 3, 4, 14 PatG
Schlagwort: "Auslegung des Patents und Bewertung des Stands der Technik im Einspruchs- und Beschwerdeverfahren vor dem EPA - sachverständige Stellungnahme - keine Bindungswirkung für das nationale Nichtigkeitsverfahren - europäisches Patent 211 058"
Leitsatz:
Bei der Auslegung eines europäischen Patents ist - ebenso wie bei der Würdigung eines vorbekannten Standes der Technik - die in einer abweisenden Einspruchsentscheidung vertretene Ansicht des Europäischen Patentamts als eine sachverständige Stellungnahme zu berücksichtigen. Sie hat jedoch keine Verbindlichkeit für ein späteres Nichtigkeits- oder Verletzungsverfahren.
Sachverhalt und Anträge
Die Beklagten sind Inhaber des europäischen Patents 211 058 (Streitpatent), das auch mit Wirkung für Deutschland erteilt ist.
Der mit der Nichtigkeitsklage allein angegriffene Patentanspruch 1 des Streitpatents hat folgenden Wortlaut:
"Flüssigkeitsspeicherraum (1), insbesondere Regenbecken- oder Kanalstauraum, mit mindestens einer im Bereich eines Sohlhochpunktes des Speicherraums angeordneten, mit Speicherflüssigkeit füllbaren Spülkammer (1 b), die bei leergelaufenem Speicherraum über mindestens eine Spülöffnung (10) die Speicherflüssigkeit als Spülschwall auslaufen läßt,
dadurch gekennzeichnet, daß die Spülkammer (1 b) sich mit steigendem Speicherflüssigkeitsniveau von selbst mit Speicherflüssigkeit füllt, Mittel (12) vorgesehen sind, die die zugelaufene Speicherflüssigkeit in der Spülkammer (1 b) zurückhalten und die Spülöffnung (10) durch einen vom Speicherflüssigkeitsniveau des Speicherraums (1) gesteuerten Verschluß (13) verschlossen und freigegeben wird."
Die Kl. hat geltend gemacht, der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents sei mit Rücksicht auf den Stand der Technik nicht patentfähig und beantragt, das Streitpatent im Umfang seines Patentanspruchs 1 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig zu erklären.
Die Bekl. haben die Abweisung der Nichtigkeitsklage beantragt.
Das Bundespatentgericht (BPatG) hat der Klage stattgegeben.
Dagegen richtet sich die Berufung der Bekl., mit der sie ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiterverfolgen. Die Kl. beantragt die Zurückweisung der Berufung.
Aus den Gründen
I. Die Berufung der Bekl. hat keinen Erfolg. Der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents ist nicht patentfähig.
1. (...)
2. Patentanspruch 1 enthält eine sehr allgemein gefaßte Lehre. Im Hinblick auf den Streit der Parteien über den Gegenstand des Patentanspruchs 1 ist folgendes festzuhalten.
a) (...)
b) Nach dem Wortlaut des Patentanspruchs 1 ist eine Spülkammer mit einer Spülöffnung vorgesehen, die durch einen vom Speicherflüssigkeitsniveau des Speicherraums gesteuerten Verschluß verschlossen und freigegeben wird (...). Wie das BPatG ausgeführt und der gerichtliche Sachverständige bestätigt hat, entnimmt der Fachmann dem Anspruchswortlaut nur, daß Spülkammer, Spülöffnung und Verschluß so ausgebildet sein müssen, daß die Speicherflüssigkeit bei leergelaufenem Speicherraum "als Spülschwall" auslaufen kann.
Der Begriff "Spülschwall" wird in der Streitpatentschrift nicht definiert, es wird lediglich gesagt, daß der Spülschwall "kräftig" (...) und daß eine "vollständige Spülung" gewährleistet sein soll (...). Wie das BPatG und der gerichtliche Sachverständige ausgeführt haben, verbindet der Fachmann (...) mit dem Begriff "Spülschwall" einen Abflußvorgang, bei dem ein aufgestautes Wasservolumen plötzlich freigegeben wird. Hierdurch entstehe eine Welle, durch die abgelagerte Schmutzstoffe aufgewirbelt und fortgetragen würden.
Der Senat teilt diese Auffassung, die auch durch die Fachliteratur belegt ist (...).
Die Bekl. haben dagegen eingewandt, (...) im Kontext der Streitpatentschrift sei unter einem Spülschwall ein "durch plötzliches Öffnen erreichter, schlagartiger, optimaler Spülschwall mit Breitenwirkung" zu verstehen. So habe es auch die Technische Beschwerdekammer 3.2.3 des EPA in der Entscheidung T 892/90 vom 12.1.1993 gesehen. Unter "Verschluß" im Sinne des Patentanspruchs 1 des Streitpatents sei daher eine Vorrichtung zu verstehen, "die sich plötzlich öffnet und dadurch einen schlagartigen Spülschwall ermöglicht"; auch das entspreche dem Verständnis der Technischen Beschwerdekammer des EPA.
Die Auslegung des erteilten Patentanspruchs 1 im Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren vor dem EPA ist für das Nichtigkeitsverfahren nicht bindend. Im Streitfall ergibt sich dies bereits daraus, daß der Einspruch und die Beschwerde gegen die Erteilung des Streitpatents in vollem Umfang zurückgewiesen worden sind mit der Folge, daß der erteilte Patentanspruch 1 ohne jede Änderung aufrechterhalten geblieben ist. Der Auslegung ist damit allein die erteilte Fassung des Patentanspruchs 1 unter Heranziehung der Patentbeschreibung und der Zeichnungen zugrunde zu legen. Die in den Entscheidungsgründen des Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahrens über den Gegenstand der Erfindung angestellten Erwägungen sind jedoch - gleichgültig, ob sie in einem einschränkenden oder erweiternden Sinne zu verstehen sind - gewichtige sachverständige Stellungnahmen, die als solche bei der Auslegung des Patentanspruchs 1 zu beachten sind - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Im übrigen folgt auch aus Art. 69 EPÜ, daß es nicht Aufgabe des Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahrens ist, durch Auslegung des Inhalts erteilter Patentansprüche den Schutzbereich eines Patents zu bestimmen.
Im Patentnichtigkeitsverfahren ist zudem in die Prüfung der Patentfähigkeit eines europäischen Patents ohne Einschränkung der gesamte vorliegende Stand der Technik einzubeziehen, insbesondere auch der Stand der Technik, der bereits Gegenstand der Prüfung im Erteilungsverfahren gewesen ist (vgl. BGH GRUR 1996, 862, 864 - Bogensegment). Die Nichtigerklärung eines europäischen Patents kann auch (allein) wegen eines solchen Standes der Technik erfolgen, der bereits im Erteilungsverfahren sowie in dem anschließenden Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren vor dem europäischen Patentamt berücksichtigt wurde (BGH GRUR Int. 1996, 56 f. - Zahnkranzfräser). Daß im Nichtigkeitsverfahren ohne Einschränkung der gesamte Streitstoff berücksichtigt werden muß, folgt notwendig aus der Funktion dieses Verfahrens und seines Verhältnisses zum Einspruchsverfahren. Die Bewertung des Standes der Technik im Erteilungsverfahren, dem Einspruchs- und dem Einspruchsbeschwerdeverfahren kann rechtlich keine Bindungswirkung für das Nichtigkeitsverfahren entfalten. Die dort ergangenen Entscheidungen sind allerdings sachverständige Stellungnahmen von erheblichem Gewicht, die bei der Beurteilung der Patentfähigkeit im Nichtigkeitsverfahren zu würdigen sind; eine darüber hinausgehende rechtliche Wirkung kommt ihnen indes nicht zu.
Der Senat vermag sich in Übereinstimmung mit dem BPatG und dem gerichtlichen Sachverständigen der Auslegung des erteilten Patentanspruchs 1 durch das EPA im Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren nicht anzuschließen, denn diese Auffassung unterschreitet den Wortlaut des Patentanspruchs 1 und findet darüber hinaus auch in der Patentbeschreibung keine Stütze. Der gerichtliche Sachverständige hat ausgeführt (...), ein Spülschwall "mit Breitenwirkung" solle offenbar auf die geometrische Form des zu spülenden Bodens abstellen. Darüber werde aber weder in Patentanspruch 1 noch in der Patentbeschreibung etwas gesagt. Der Fachmann werde eine solche Breitenwirkung als besonderes Kennzeichen des patentgemäßen Spülschwalls dem Streitpatent darüber hinaus auch deshalb nicht entnehmen, weil Patentanspruch 1 ausdrücklich Kanalstauräume einschließe, bei denen es sich um Kanäle mit großem, meist kreisrundem Querschnitt und meistens sehr schmaler Sohle handele.
Auch über die konstruktive Gestaltung des Verschlusses könne der Fachmann dem Patentanspruch 1 nichts entnehmen. (...)
c) Einer Erörterung bedarf weiter der (...) Begriff "Speicherflüssigkeit". Eine Definition des Begriffs "Speicherflüssigkeit" enthält die Streitpatentschrift nicht. Es liegt nahe, unter "Speicherflüssigkeit" schlechterdings die Flüssigkeit zu verstehen, die (von außen) in den Speicherraum einfließt. Sprachlich kann unter "Speicherflüssigkeit" aber auch die Flüssigkeit verstanden werden, die aus dem Speicherraum entnommen wird.
Der gerichtliche Sachverständige hat erklärt, bei ungekünstelter Betrachtung verstehe der Fachmann unter "Speicherflüssigkeit" die Flüssigkeit, die in den Speicher einfließe. Diese Auffassung wird durch die Patentbeschreibung und die Zeichnungen gestützt.
Daß der "Speicherflüssigkeit" für die Lehre des Streitpatents besondere Bedeutung zukomme, ist der Patentschrift nicht zu entnehmen (...). Diese allgemeinen Angaben stützen die Auffassung des gerichtlichen Sachverständigen, der Fachmann werde unter "Speicherflüssigkeit" schlechterdings die Flüssigkeit verstehen, "die in dem Kanal ankommt und in den Speicher geleitet wird". (...)
II. Die Lehre des so verstandenen Patentanspruchs 1 ist unstreitig neu. Sie war dem Fachmann im Zeitpunkt der Priorität des Streitpatents aber durch den Stand der Technik und sein allgemeines Fachwissen nahegelegt (...).
Der Gedanke, den Spülvorgang über den Verschluß der Spülkammer in irgendeiner Weise in Abhängigkeit vom Speicherflüssigkeitsniveau zu steuern, war dem Fachmann (...) durch sein allgemeines Fachwissen und durch den Stand der Technik nahegelegt. Eine erfinderische Leistung kann darin nicht gesehen werden. Konkrete Mittel zur Realisierung dieser Steuerung sind auch in Patentanspruch 1 nicht genannt und können daher dessen Patentfähigkeit nicht begründen (...).
DE 1/99
* Amtlicher, für die Veröffentlichung gekürzter Text der Entscheidung, deren Gründe vollständig in GRUR 1998, 895 veröffentlicht sind.