BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Technische Beschwerdekammern
Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.2.5 vom 9. Juni 1997 - T 742/96 - 3.2.5
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | G. O. J. Gall |
Mitglieder: | H. P. Ostertag |
C. G. F. Biggio |
Patentinhaber/Beschwerdegegner: UNILEVER PLC et al.
Einsprechender/Beschwerdeführer: Procter & Gamble European Technical Center N. V.
Stichwort: Textilien/UNILEVER
Artikel: 112 (1) a), 108 EPÜ
Schlagwort: "Befassung der Großen Beschwerdekammer" - "Beschwerdegebühr" - "Vertrauensschutz"
Leitsatz
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Sind die Beschwerdekammern entsprechend dem Grundsatz von Treu und Glauben selbst in dem Fall verpflichtet, den Beschwerdeführer auf das Ausstehen der Beschwerdegebühr aufmerksam zu machen, wenn die Beschwerde so frühzeitig eingereicht wurde, daß der Beschwerdeführer die Gebühr noch fristgerecht entrichten könnte, aber weder der Beschwerdeschrift noch irgendeinem anderen auf die Beschwerde bezüglichen Dokument zu entnehmen ist, daß der Beschwerdeführer die Frist für die Entrichtung der Beschwerdegebühr ohne eine solche Mitteilung versehentlich versäumen würde?
Sachverhalt und Anträge
I. Die Einsprechende legte zwar innerhalb der in Artikel 108 Satz 1 EPÜ vorgeschriebenen Frist gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung zur Zurückweisung des Einspruchs Beschwerde ein, hielt die Frist für die Entrichtung der Beschwerdegebühr (Artikel 108 Satz 2 EPÜ) aber nicht ein. Daher wurde ihr gemäß Regel 69 (1) EPÜ mitgeteilt, daß die Beschwerde als nicht eingelegt gelte (Artikel 108 Satz 2 EPÜ).
II. Daraufhin entrichtete die Beschwerdeführerin die Beschwerdegebühr und beantragte eine Überprüfung nach Regel 69 (2) EPÜ mit der Begründung, daß die Beschwerde mehr als fünf Wochen vor Ablauf der Frist für die Zahlung der Beschwerdegebühr eingelegt worden sei und die Mitteilung der Geschäftsstelle der Kammer über den Eingang der Beschwerde geraume Zeit (zwei Wochen) vor Ablauf dieser Frist ergangen sei, aber keinen Hinweis darauf enthalten habe, daß die Beschwerdegebühr noch ausstehe. Die Beschwerdeführerin machte geltend, daß sie nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes an die ausstehende Zahlung hätte erinnert werden sollen. Sie verwies auf die in einem angeblich ähnlich gelagerten Fall ergangene Entscheidung, wo dem Beteiligten die Möglichkeit zur Beseitigung des Mangels eingeräumt worden sei (T 14/89, ABl. EPA 1990, 432 zur Nichtentrichtung der Gebühr für einen Wiedereinsetzungsantrag).
III. Bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung - die später auf Wunsch der Beschwerdeführerin abgesagt wurde - verwies die Beschwerdekammer auf die Entscheidung J 2/94 und insbesondere auf die Nr. 5 der Entscheidungsgründe, in denen festgestellt wurde, daß der Beschwerdeführer nicht erwarten könne, daß er vom EPA unmittelbar nach Eingang seines Wiedereinsetzungsantrags über ausstehende Gebühren unterrichtet werde. Zwar sei das EPA in Anwendung des in den Verfahren vor dem EPA geltenden Grundsatzes des Vertrauensschutzes (G 5/88, ABl. EPA 1991, 137) unter Umständen verpflichtet, konkrete Anfragen unverzüglich zu beantworten; ein Beteiligter könne aber nicht erwarten, auf alle Mängel hingewiesen zu werden, die im Laufe des Verfahren auftreten könnten (J 41/92, ABl. EPA 1995, 93, Nr. 2.4 der Entscheidungsgründe).
IV. In einem weiteren Schriftsatz argumentierte die Beschwerdeführerin, daß die Geschäftsstelle der Beschwerdekammer bei der Bestätigung des Eingangs der Beschwerde, die geraume Zeit (zwei Wochen) vor Ablauf der Frist für die Entrichtung der Beschwerdegebühr ergangen sei, nicht auf die ausstehende Zahlung hingewiesen habe. Der Mitteilung sei nicht zu entnehmen gewesen, ob die Beschwerde als zulässig gelte oder nicht, und sie hätte als Bestätigung dafür ausgelegt werden können, daß eine rechtskräftige Beschwerde vorliege. Der darin enthaltene Hinweis, daß "eine Beschwerde" eingelegt worden sei, habe nach Auffassung der Beschwerdeführerin eindeutig den Eindruck erweckt, daß die Beschwerde ordnungsgemäß eingelegt worden sei; die Mitteilung sei deshalb als mißverständlich anzusehen.
V. Auf die vorläufige Stellungnahme der Beschwerdekammer (s. Nr. III) erwiderte die Beschwerdeführerin, daß die Entscheidung J 2/94 im Widerspruch zur Entscheidung T 14/89 stehe, und ersuchte die Kammer, die Große Beschwerdekammer mit folgender Frage zu befassen:
"Liegt ein eindeutiger Mangel vor, der nach dem Grundsatz von Treu und Glauben einen Hinweis seitens des EPA rechtfertigt, wenn ein Beteiligter schriftlich einen Wiedereinsetzungsantrag oder eine Beschwerde (oder einen Antrag auf Weiterbehandlung) an das EPA richtet und in seinem Schreiben nicht ausdrücklich auf die Zahlung der betreffenden Gebühr Bezug nimmt?"
Entscheidungsgründe
1. Artikel 112 (1) a) EPÜ ermächtigt die Beschwerdekammern, von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten die Große Beschwerdekammer mit einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu befassen, wenn sie eine diesbezügliche Entscheidung für erforderlich halten.
2. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer (z. B. G 5/88, ABl. EPA 1991, 137) gehört der Vertrauensschutz zu den wichtigsten Grundsätzen in den Verfahren vor dem EPA. Ob die Beschwerdekammern in Anwendung dieses Grundsatzes verpflichtet sind, die Beschwerdeführerin auf das Ausstehen der Beschwerdegebühr aufmerksam zu machen, wenn die Beschwerde so frühzeitig eingereicht wurde, daß die Beschwerdeführerin die Gebühr noch fristgerecht entrichten könnte, aber weder der Beschwerdeschrift noch irgendeinem anderen auf die Beschwerde bezüglichen Dokument zu entnehmen ist, daß die Beschwerdeführerin die Frist für die Entrichtung der Beschwerdegebühr ohne eine solche Mitteilung versehentlich versäumen würde, handelt es sich um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, die eine Befassung der Großen Beschwerdekammer gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ rechtfertigt. Daher gibt die Beschwerdekammer dem unter der Nummer V dargelegten Antrag der Beschwerdeführerin grundsätzlich statt.
3. Wie dem oben dargelegten Sachverhalt zu entnehmen ist, geht es bei der zu klärenden Rechtsfrage um die Zahlung einer Beschwerdegebühr und nicht einer Wiedereinsetzungsgebühr. Die Frage ist daher entsprechend einzugrenzen und - ohne Änderung der Aussage - so zu formulieren, daß der strittige Punkt deutlich wird.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer wird folgende Rechtsfrage vorgelegt:
Sind die Beschwerdekammern entsprechend dem Grundsatz von Treu und Glauben selbst in dem Fall verpflichtet, den Beschwerdeführer auf das Ausstehen der Beschwerdegebühr aufmerksam zu machen, wenn die Beschwerde so frühzeitig eingereicht wurde, daß der Beschwerdeführer die Gebühr noch fristgerecht entrichten könnte, aber weder der Beschwerdeschrift noch irgendeinem anderen auf die Beschwerde bezüglichen Dokument zu entnehmen ist, daß der Beschwerdeführer die Frist für die Entrichtung der Beschwerdegebühr ohne eine solche Mitteilung versehentlich versäumen würde?