ENTSCHEIDUNGEN DER PRÜFUNGS- UND EINSPRUCHSABTEILUNGEN
Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 13. Mai 1992*
(Amtlicher Text)
Patentinhaber: Müllverbrennungsanlage Wuppertal GmbH
Stichwort: Nichtangriffsverpflichtung
Regel: 56 (1) EPÜ
Schlagwort: "Zulässigkeit des Einspruchs -Nichtangriffsverpflichtung"
Leitsätze
1. Die Berufung auf eine Nichtangriffsverpflichtung steht im Widerspruch zu Sinn und Zweck des zentralen europäischen Einspruchsverfahrens und führt regelmäßig nicht zur Unzulässigkeit eines im übrigen zulässigen Einspruchs.
2. Der Patentinhaber ist in diesen Fällen darauf verwiesen, die Ansprüche aus einer solchen Verpflichtung vor den zuständigen(nationalen) Instanzen geltend zu machen.
Entscheidungsformel
Der Einspruch gegen das europäische Patent 0 157 920 wird zurückgewiesen.
Sachverhalt und Anträge
Für die am 06.12.84 eingereichte europäische Patentanmeldung 84 114 826.5 wurde (...) das europäische Patent 0 157 920 erteilt. Der Hinweis auf die Erteilung des Patents wurde am 26.07.89 im Europäischen Patentblatt 89/30 bekanntgemacht.
Gegen das erteilte europäische Patent hat die Firma (...) am 20.04.90 Einspruch eingelegt. Die Einsprechende beantragt den Widerruf des Patents (...).
Die Patentinhaberin beantragt die Zurückweisung des Einspruchs. Sie macht geltend, der Einspruch sei unzulässig, weil aus einem zwischen den Parteien geschlossenen ausschließlichen Lizenzvertrag, der auch das Streitpatent umfasse, zu folgern sei, daß der Angriff auf das Schutzrecht gegen Treu und Glauben verstoße und der Einspruch folglich unzulässig sei. (...)
Aus den Entscheidungsgründen
(...)
A. Zur Frage der Zulässigkeit
Der Einwand der Patentinhaberin, aus dem zwischen den Parteien geschlossenen ausschließlichen Lizenzvertrag ergebe sich eine Nichtangriffsverpflichtung der Einsprechenden, auch wenn eine solche nicht ausdrücklich vereinbart worden sei, im Wege ergänzender Vertragsauslegung unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben, kann für das Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt aus den nachfolgenden Gründen keine Berücksichtigung finden:
1. Gemäß Artikel 99 EPÜ kann "jedermann" Einspruch einlegen. Dies bedeutet, daß für die Person des Einsprechenden keinerlei einschränkende Voraussetzungen gelten. Insoweit können nur die ganz allgemein geltenden Voraussetzungen für eine Verfahrensbeteiligung in Artikel 58 EPÜ herangezogen werden. Wer diese erfüllt, kann auch einen Einspruch einlegen (Van Empel, The Granting of European Patents, Leyden 1975, Rdnr. 469; Mathely, Le droit européen des brevets d'invention, Paris 1978, S. 297). Artikel 58 EPÜ bezieht sich seinem Wortlaut nach zwar nur auf den Anmelder. Da das EPÜ für das Einspruchsverfahren keine eigenen allgemeinen Regeln für die Verfahrensbeteiligung enthält, ist der in Artikel 58 EPÜ enthaltene Grundsatz auch für das Einspruchsverfahren heranzuziehen.
In Regel 56 (1) EPÜ sind die Mängel, aus denen die Unzulässigkeit des Einspruchs folgt, aufgezählt. Ein Einspruch, der Artikel 99 (1) und den Regeln 1 (1) und 55 c) EPÜ entspricht, ist zulässig. Keine der Vorschriften stellt an die Person des Einsprechenden weitergehende Anforderungen als Artikel 58 EPÜ.
2. In den Vertragstaaten des EPÜ wird teilweise die Auffassung vertreten, daß der Einspruch gegen ein nationales Patent als unzulässig anzusehen sein kann, wenn der Einsprechende vertraglich verpflichtet ist, dieses Patent nicht anzugreifen, wobei die vertragliche Verpflichtung ausdrücklich übernommen sein oder sich aus den Umständen ergeben kann (Dolder, Nachwirkende Nichtangriffspflichten des Arbeitnehmererfinders im Schweizerischen Recht, GRUR Int. 1982, 158, 167 ff.; Schulte, 4. Auflage, 1987, § 59 PatG, Rdnr. 6, Entgegen der Rechtsprechung zum früheren Recht. In diese Richtung deuten auch die Überlegungen bei Benkard-Schäfers, § 59 PatG, Rdnr. 5. Die Frage ist jedoch auch im deutschen Recht noch nicht höchstrichterlich entschieden, siehe dazu die von von Maltzahn geäußerten Zweifel, von Maltzahn, Falk, "Zur rechtlichen Beurteilung von Nichtangriffsabreden über technische Schutzrechte" in Festschrift für Otto Friedrich Freiherr von Gamm, 1990, 597 ff., 602).
3. Dieser Auffassung kann jedenfalls für das Einspruchsverfahren vor dem EPA nicht gefolgt werden. Die Anerkennung einer Nichtangriffsverpflichtung als Zulässigkeitshindernis für den Einspruch steht mit dem Sinn des europäischen Einspruchsverfahrens im Widerspruch. Dieses dient dem Zweck, im Interesse des einzelnen Wettbewerbers, aber auch der Allgemeinheit, die Prüfung auf der Basis des Standes der Technik fortzusetzen, der vom Patentamt nicht gefunden wurde oder diesem nicht zugänglich war und nunmehr von Dritten in das Verfahren eingeführt wird (vgl. Van Empel, a.a.O., Rdnr. 461, 463).
Aus dem Übereinkommen ergibt sich, daß in dieser Hinsicht der Einsprechende weder über den Streitstoff (Art. 114 (1) EPÜ) noch über das Verfahren (Regel 60 (1) und (2) EPÜ) frei verfügen kann. Die verfahrensrechtliche Anerkennung eines Verzichts auf die Einspruchsbefugnis wäre mit dem Ziel, das Patent nur nach einer umfassenden Prüfung des relevanten Standes der Technik unter Einbeziehung der Allgemeinheit bestehen zu lassen, nicht zu vereinbaren.
Im Vergleich zu dem nationalen Einspruchsverfahren ergibt sich die besondere Bedeutung des Einspruchs gegen ein europäisches Patent daraus, daß sie die einzige Möglichkeit für eine zentrale Überprüfung der Rechtsbeständigkeit des in seinem Inhalt und seinen Schutzvoraussetzungen einheitlichen europäischen Patentes darstellt.
4. Hinzu kommt, daß die Zulässigkeit und Reichweite von Nichtangriffsabreden außerordentlich umstritten ist (vgl. z. B. für das deutsche Recht die Ausführungen von von Maltzahn, Falk, "Zur rechtlichen Beurteilung von Nichtangriffsabreden über technische Schutzrechte" in Festschrift für Otto Friedrich Freiherr von Gamm, 1990, 597 ff., 602).
Im Bereich der Anwendbarkeit des EG-Kartellrechts, die bei Nichtangriffsabreden zu europäischen Patenten stets in Frage steht, wird die Zulässigkeit von Nichtangriffsabreden weitestgehend abgelehnt. Die Kommission sieht Nichtangriffsklauseln als über den Inhalt der Schutzrechtsgarantie des Artikel 36 EWGV hinausgehende Beeinträchtigungen des zwischenstaatlichen Handels und des Wettbewerbs an, die nicht von der Freistellungsverordnung für Patentlizenzvereinbarungen vom 23. Juli 1984 (VO (EWG) Nr. 2349/84, ABl. L 219 vom 16. August 1984, 15 ff.) umfaßt werden (so ausdrücklich deren Art. 3 (1)), und die deshalb allenfalls bei Vorliegen besonderer Umstände einer Einzelfreistellung gemäß Artikel 85 (3) EWGV zugänglich sind.
Der EuGH hat in der RS 193/83 "Windsurfing International" die in Patentlizenzverträgen enthaltene Nichtangriffsverpflichtung der Lizenznehmer als unzulässige Beschränkung des Wettbewerbs zwischen Herstellern und - im Leitsatz 2 - diese als einen Verstoß gegen Artikel 85 EWGV bezeichnet. Eine solche Klausel gehöre offenkundig nicht zum spezifischen Gegenstand des Patents, der sich nicht in dem Sinne auslegen lasse, daß er auch gegen Angriffe auf das Patent Schutz gewähre, denn es liege im öffentlichen Interesse, alle Hindernisse für die Wirtschaftstätigkeit auszuräumen, die sich aus einem zu Unrecht erteilten Patent ergeben könnten (GRUR Int. 1986, 635, 640/641). In der RS 65/86 (GRUR Int. 1989, 56) "Süllhöfer" hat der EUGH diesen Grundsatz für besondere und hier nicht vorgetragene Fallgestaltungen modifiziert. Auch erscheint die Tragweite dieser Entscheidung noch klärungsbedürftig (vgl. dazu von Maltzahn a.a.O., 610 ff.).
Die kartellrechtlichen Verbote bestimmen auch, ob eine Nichtangriffsverpflichtung aus den Umständen abgeleitet werden kann, wenn sie nicht ausdrücklich vereinbart wurde. Wo eine entsprechende ausdrückliche Verpflichtung wegen Kartellverstoßes gesetzwidrig und unwirksam wäre, kann der Lizenznehmer zu einem entsprechenden Verhalten nicht nach Treu und Glauben verpflichtet sein.
5. Für den Geltungsbereich eines europäischen Patentes bestünde ferner die Möglichkeit, daß verschiedene nationale Zivil- und Kartellrechtsordnungen auf eine einzige Nichtangriffsabrede anwendbar sind oder daß sich das EG-Kartellrecht nur auf einen Teil der benannten Vertragsstaaten bezieht. Andersartige Auswirkungen für verschiedene Vertragsstaaten können im Verfahren vor dem EPA schon wegen Artikel 99 (2) EPÜ nicht berücksichtigt werden.
6. Schließlich handelt es sich bei diesen Fragen um solche, deren Prüfung in die Zuständigkeit der nationalen Zivil- und/oder Kartellgerichte, gegebenenfalls auch der nationalen und europäischen Kartellbehörden fällt. Im nationalen Bereich kann der Gesetzgeber der Wahrung der Kompetenzverteilung zwischen den normalen Zivil- und den Kartellinstanzen durch eine entsprechende Gesetzgebung Rechnung tragen, wie dies z. B. für das deutsche Recht in § 96 GWB geschehen ist.
Eine eigenständige Prüfung aller dieser Fragen durch das EPA würde einen Eingriff in diese Zuständigkeiten bedeuten und die Gefahr divergierender Entscheidungen mit sich bringen.
7. Aus all dem folgt, daß das Vorliegen einer ausdrücklichen oder im Wege ergänzender Vertragsauslegung nach Treu und Glauben gewonnenen Nichtangriffsverpflichtung nicht zur Unzulässigkeit eines Einspruchs gegen ein europäisches Patent führen kann. Der Patentinhaber ist im Falle einer solchen Abrede vielmehr gehalten, vor den zuständigen nationalen Instanzen seinen Vertragspartner zum vertragstreuen Verhalten zu veranlassen oder im Fall der Vertragsverletzung Ansprüche hieraus geltend zu machen.
8. Es kann hier dahingestellt bleiben, wie ein Fall zu beurteilen wäre, in dem dem Einsprechenden durch rechtskräftiges Urteil verboten worden wäre, gegen das europäische Patent vorzugehen, oder in dem sich der Einsprechende in einem Prozeßvergleich zum Nichtangriff auf das Schutzrecht verpflichtet hätte, oder in dem der Einsprechende zu einer Nichtangriffsverpflichtung ein Negativ-Attest (Art. 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates: erste Durchführungsverordnung zu den Art. 85 und 86 des Vertrages) oder eine Einzelfreistellungserklärung der Kommission (Art. 6 derselben Verordnung in Verbindung mit Art. 85 (3) EWGV) erlangt hätte, wenn in dem europäischen Patent ausschließlich Mitgliedstaaten der EG benannt wären.
Keine dieser Fallgestaltungen ist vorliegend gegeben.
9. Im übrigen hat die Patentinhaberin auch keine Umstände dargetan, die nach deutschem Zivilrecht, dem der geschlossene Lizenzvertrag unterliegt, die Annahme einer nach Treu und Glauben gebotenen Nichtangriffsverpflichtung rechtfertigen würden.
Die Patentinhaberin leitet allein aus der Tatsache, daß der zwischen den Parteien geschlossene Lizenzvertrag ein ausschließlicher gewesen sei, ab, daß diese Vereinbarung ein auf gegenseitiges Vertrauen begründetes gewolltes Zusammenarbeitsverhältnis in einer Weise begründet habe, die einen Angriff auf die Vertragsschutzrechte als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lasse.
Diese Betrachtungsweise wird der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht gerecht.
Der Bundesgerichtshof hat zwar in der Vergangenheit (I a ZR 93/65 "Gewindeschneidvorrichtungen", GRUR 1971, 243, 245) und erneut in der Rechtssache X ZR 3/88 "Flächenentlüftung" (GRUR 1989, 39, 40) ausgesprochen, daß das Bestehen eines Lizenzvertrages über das Streitpatent die Annahme eines sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben ergebenden Angriffsverbotes vielfach geboten erscheinen läßt, wenn die vertraglichen Beziehungen der Parteien einen gesellschaftsähnlichen Charakter haben oder wenn eine vertrauensvolle Zusammenarbeit der Parteien vereinbart ist, die eine besondere Rücksichtnahme auf die gegenseitigen Interessen erfordert. Jedoch bedarf es für die Feststellung, ob dies der Fall ist, jeweils einer Prüfung und rechtlichen Würdigung des Vertragsverhältnisses insgesamt. Derartige Umstände sind hier nicht vorgetragen worden. Eine sich aus den Umständen ergebende Nichtangriffsverpflichtung kann nicht allein aus der Tatsache hergeleitet werden, daß ein Lizenzvertrag eine Ausschließlichkeitsklausel enthält ("Gewindeschneidvorrichtungen" a.a.O.).
10. Aus den genannten Gründen kann der Vortrag der Patentinhaberin, eine Nichtangriffsverpflichtung ergebe sich vorliegend nach Treu und Glauben aus den Umständen, die Bejahung der Unzulässigkeit des Einspruchs nicht rechtfertigen.
Es kann deshalb hier auch dahingestellt bleiben, ob es für die Zulässigkeit des Einspruchs eine Bedeutung hätte, daß der Lizenzvertrag nach Ablauf der Einspruchsfrist gekündigt worden und zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr wirksam ist.
B. Zur Frage der Patentfähigkeit
(...)
* Die Entscheidung ist hier nur auszugsweise (bezüglich der Zulässigkeit des Einspruchs) abgedruckt. Sie ist noch nicht rechtskräftig.