BERICHTE NATIONALER RICHTER
Aktuelle Entwicklungen des Patentrechts und der Rechtsprechung auf europäischer und nationaler Ebene
EPA Europäisches Patentamt
Yvonne PODBIELSKI
Juristin, Rechtswissenschaftlicher Dienst der Beschwerdekammern, Europäisches Patentamt
Jüngste Entwicklungen in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA
Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist eine unmögliche Aufgabe, die gesamte Rechtsprechung der Beschwerdekammern aus den letzten beiden Jahren kurz zusammenzufassen. Ein Überblick ist dem Buch "Rechtsprechung der Beschwerdekammern" sowie der zugehörigen Aktualisierung zu entnehmen, die Sie vor einigen Wochen in Form einer Zusatzpublikation zum Amtsblatt erhalten haben. Beide Veröffentlichungen stammen von meiner Abteilung, und daher bin ich immer sehr dankbar für Kommentare, Vorschläge und natürlich auch Kritik.
Für meinen Vortrag habe ich drei Themen ausgewählt, die – so hoffe ich – von Interesse für Sie sind: zunächst die Klarheit von Ansprüchen im Einspruchsverfahren, dann zwei Fälle zu Fragen der Patentierbarkeit im Bereich der Biotechnologie sowie schließlich einen neueren Fall zur möglichen Doppelpatentierung und zur schweizerischen Anspruchsform.
I. Klarheit von Ansprüchen im Einspruchsverfahren – Vorlage an die Große Beschwerdekammer
Beginnen wir mit der Klarheit von Ansprüchen im Einspruchsverfahren. Mit der Entscheidung T 373/12 vom April 2014 wurden der Großen Beschwerdekammer verschiedene Rechtsfragen vorgelegt. Die Vorlage ist unter dem Aktenzeichen G 3/14 anhängig. Die Antworten der Großen Beschwerdekammer werden – wie auch immer sie ausfallen – maßgeblichen Einfluss auf alle Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren haben.
Die Ausgangssituation ist wie folgt: Nach Artikel 84 EPÜ müssen die Ansprüche "deutlich und knapp gefasst sein und von der Beschreibung gestützt werden". Die Klarheit wird somit vor der Erteilung von den Prüfungsabteilungen geprüft. Nach der Erteilung können Klarheitseinwände im Einspruchsverfahren in der Regel nur eingeschränkt vorgebracht werden. Hauptgrund dafür ist, dass mangelnde Klarheit kein Einspruchsgrund ist. Wie Sie wissen, ist sie auch kein Nichtigkeitsgrund auf nationaler Ebene nach Artikel 138 EPÜ. Mangelnde Klarheit kann im Einspruchsverfahren traditionell nur dann geltend gemacht werden, wenn im Laufe des Verfahrens Änderungen vorgenommen wurden, die zu einem neuen, d. h. zu einem vorher noch nicht bestehenden Klarheitsproblem geführt haben. In solchen Fällen wird die Klarheit im Einklang mit dem EPÜ (Artikel 101 (3) b)) geprüft, um sicherzustellen, dass das Patent in der aufrechterhaltenen Fassung allen Erfordernissen des EPÜ genügt. Die Große Beschwerdekammer befand in einer frühen Entscheidung (G 9/91), dass "... Änderungen der Ansprüche oder anderer Teile eines Patents, die im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vorgenommen werden, in vollem Umfang auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ zu prüfen sind."
Viele Beschwerdekammerentscheidungen zur Rolle von Artikel 84 EPÜ im Einspruchsverfahren gehen der Frage nach, im Falle welcher Arten von Änderungen des Anspruchswortlauts Einsprechende Klarheitseinwände erheben können. In der Vergangenheit wurde dabei zumeist erklärt, dass nur solche Änderungen eine Klarheitsprüfung erlauben, die zu einer sachlichen, d. h. technisch relevanten Änderung des Anspruchsinhalts führen. Eine bloße Kombination des Wortlauts der erteilten unabhängigen und abhängigen Ansprüche wurde nicht als sachliche und damit eine Klarheitsprüfung rechtfertigende Änderung betrachtet. Dies wurde damit begründet, dass ein so geänderter Anspruch im Wesentlichen ein erteilter Anspruch ist, bei dem mangelnde Klarheit nicht als Einspruchsgrund geltend gemacht werden kann.
In T 459/09 vom Dezember 2012 gelangte die Kammer zu einem anderen Ergebnis. Sie befand, dass ein geänderter Anspruch grundsätzlich auf Klarheit geprüft werden sollte, selbst wenn die Änderung nur in einer bloßen wortgetreuen Kombination von Ansprüchen des erteilten Patents besteht. Die Unterscheidung zwischen "sachlichen" und "nicht sachlichen Änderungen" hielt die Kammer für problematisch, weil alle im Einspruchsverfahren vorgenommenen Änderungen zwangsläufig "sachlich" sind (da sie sonst nicht vorgenommen worden wären und auch nicht hätten vorgenommen werden können) und somit eine uneingeschränkte Klarheitsprüfung rechtfertigen. Diese Entscheidung wurde in T 409/10 bestätigt.
In T 1459/05 hielt sich die Kammer für befugt, die Klarheit eines Merkmals zu prüfen, das aus einem erteilten abhängigen Anspruch wörtlich in einen erteilten unabhängigen Anspruch übernommen worden war. Ihrer Auffassung nach kann die Annahme, die Prüfungsabteilung habe im Erteilungsverfahren sämtliche Merkmale der abhängigen Ansprüche eines erteilten Patents systematisch im Hinblick auf die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ geprüft, nicht mehr uneingeschränkt gelten.
Aufgrund dieser abweichenden Rechtsprechung legte die mit T 373/12 befasste Kammer der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfragen vor:
1. Ist der Begriff "Änderungen" in der Entscheidung G 9/91 so zu verstehen, dass er die wörtliche Übernahme von a) Elementen aus abhängigen Ansprüchen in der erteilten Fassung und/oder b) vollständigen abhängigen Ansprüchen in der erteilten Fassung in einen unabhängigen Anspruch umfasst, sodass die Einspruchsabteilungen und die Beschwerdekammern verpflichtet sind, so im Verfahren geänderte unabhängige Ansprüche immer auf Klarheit zu prüfen?
2. Falls die Große Beschwerdekammer die Frage 1 bejaht, ist dann eine Prüfung des unabhängigen Anspruchs auf Klarheit in solchen Fällen auf die übernommenen Merkmale beschränkt oder kann sie sich auch auf Merkmale erstrecken, die bereits im unveränderten unabhängigen Anspruch enthalten waren?
3. Falls die Große Beschwerdekammer die Frage 1 verneint, ist dann eine Prüfung so geänderter unabhängiger Ansprüche auf Klarheit immer ausgeschlossen?
4. Falls die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss kommt, dass eine Prüfung so geänderter unabhängiger Ansprüche auf Klarheit weder immer erforderlich noch immer ausgeschlossen ist, welche Kriterien sind dann bei der Entscheidung anzuwenden, ob eine Prüfung auf Klarheit in einem bestimmten Fall infrage kommt?
Da die Beantwortung dieser Fragen maßgeblichen Einfluss auf alle Einspruchs- und Einspruchsbeschwerdeverfahren haben wird, wird dieser Fall prioritär behandelt. Die Entscheidung wird online veröffentlicht, sobald sie vorliegt. Falls Sie über neue Entscheidungen benachrichtigt werden möchten, können Sie einen RSS-Feed abonnieren.
II. Ausnahmen von der Patentierbarkeit in der Biotechnologie: Fälle zu menschlichen embryonalen Stammzellen
Mein nächstes Thema sind die Ausnahmen von der Patentierbarkeit im Bereich der Biotechnologie. Zunächst möchte ich auf die Entscheidung T 2221/10 eingehen. Sie ist im Februar dieses Jahres ergangen und folgt dem Urteil des EuGH im Fall Brüstle. Wie Sie wissen, wird nach Artikel 53 a) EPÜ in Verbindung mit Regel 28 c) EPÜ für eine Erfindung, die die "Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken" betrifft, kein Patent erteilt.
In dieser Sache betrafen die Ansprüche 1 und 2 des einzigen Antrags des Beschwerdeführers Verfahren zur Erhaltung von menschlichen embryonalen Stammzellen – kurz hES-Zellen genannt – in Kultur in einem undifferenzierten Stadium. Anspruch 5 betraf eine hES-Zellen umfassende Zellkultur. Dabei wurde bewusst vermieden, einen Schritt zur Gewinnung von hES-Zellen unter der Verwendung einschließlich der Zerstörung menschlicher Embryonen in den Wortlaut der Ansprüche aufzunehmen. Eine Ausführungsart der Erfindung beruht auf der Verwendung kommerziell erhältlicher hES-Zelllinien. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass Verfahren, bei denen kommerziell oder anderweitig öffentlich zugängliche hES-Zelllinien verwendet würden, nicht unter das Patentierbarkeitsverbot fielen, weil zur Durchführung dieser Verfahren nicht eigens neue menschliche Embryonen zerstört werden müssten.
Die Kammer war anderer Ansicht. Die Erfindung ist nach Artikel 53 a) EPÜ in Verbindung mit Regel 28 c) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen, weil die kommerziell erhältlichen hES-Zelllinien, auf denen die Erfindung beruht, ursprünglich durch ein mit der Zerstörung von Embryonen einhergehendes Verfahren gewonnen wurden. Die Kammer verwies auf die Entscheidung G 2/06, die so auszulegen ist, dass für die Zwecke der Regel 28 c) EPÜ alle der beanspruchten Verwendung der hES-Zellen vorausgehenden Schritte in Betracht zu ziehen sind, die eine zwingende Voraussetzung für die Ausführung der beanspruchten Erfindung sind. Ob die Schritte vom Erfinder oder von einer anderen Person ausgeführt wurden und ob sie in unmittelbarer Vorbereitung der zu einer Erfindung führenden Versuche oder mit einem größeren zeitlichen Abstand zu diesen Versuchen stattgefunden haben, ist dabei unerheblich.
Der Fall lässt sich somit folgendermaßen zusammenfassen: Erfindungen, bei denen öffentlich zugängliche hES-Zelllinien verwendet werden, die ursprünglich in einem Verfahren gewonnen wurden, das zur Zerstörung menschlicher Embryonen führte, sind von der Patentierbarkeit ausgenommen.
Der zweite interessante Fall zu embryonalen Stammzellen ist T 1836/10. Hier war Anspruch 1 auf ein Verfahren zur embryonenerhaltenden Gewinnung pluripotenter embryonaler Stammzellen gerichtet. Als Ausgangsmaterial wurden in dem beanspruchten Verfahren Blastocysten verwendet. Um das Patentierungsverbot zu umgehen, nahm der Anmelder in Anspruch 1 einen Disclaimer auf, wonach die gewonnenen Zellen keiner industriellen oder kommerziellen Nutzung zugeführt werden, falls die Blastocyste eine menschliche Blastocyste ist. Die Kammer hatte zu entscheiden, ob dieser Disclaimer den beanspruchten Gegenstand dahin gehend einschränkte, dass er nicht mehr nach Artikel 53 a) EPÜ in Verbindung mit Regel 28 c) EPÜ von der Patentierung ausgeschlossen war.
Sie kam zu dem Schluss, dass der Anspruchsgegenstand durch die Aufnahme des Disclaimers in keiner Weise eingeschränkt wurde, weil die offenbarte mögliche zukünftige Verwendung der Stammzellen gar nicht unter den Schutzumfang des Anspruchs fiel. Der Disclaimer war daher unzulässig im Hinblick auf Artikel 123 (2) EPÜ. Der Anspruchsgegenstand, der sich auch nach der Aufnahme des Disclaimers noch auf die Verwendung von menschlichen Embryonen als Ausgangsmaterial in einem gewerblich anwendbaren Verfahren zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen bezog, war folglich als "Verwendung zu industriellen oder kommerziellen Zwecken" anzusehen und damit von der Patentierbarkeit ausgeschlossen.
III. Keine Doppelpatentierung: schweizerische Anspruchsform und Ansprüche nach Artikel 54 (5) EPÜ
Damit komme ich zu meinem letzten Thema. Artikel 54 (5) EPÜ wurde mit dem EPÜ 2000 eingeführt und ersetzte die schweizerische Anspruchsform für Ansprüche, die auf eine zweite medizinische Verwendung gerichtet sind. Da ein nach Artikel 54 (5) EPÜ formulierter Anspruch ein Erzeugnisanspruch, ein Anspruch der schweizerischen Form aber ein Verfahrensanspruch ist, war fraglich, inwieweit das Ziel des Gesetzgebers erreicht werden konnte, dass ein Anspruch nach Artikel 54 (5) EPÜ möglichst denselben Schutzumfang bietet wie ein schweizerischer Anspruch.
In T 1780/12 prüfte die Kammer vor dem Hintergrund einer möglichen Doppelpatentierung, ob der Gegenstand und der Schutzbereich eines gemäß Artikel 54 (5) EPÜ formulierten Anspruchs identisch mit denen eines Anspruchs der schweizerischen Form waren.
Dem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Anmeldung war eine Teilanmeldung, deren Ansprüche gemäß Artikel 54 (5) EPÜ formuliert waren. Diese waren auf eine zweite oder weitere therapeutische Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches gerichtet. Die erteilte Stammanmeldung enthielt Ansprüche der schweizerischen Form für dieselbe therapeutische Verwendung desselben Stoffes oder Stoffgemisches.
Die Prüfungsabteilung befand, dass die Ansprüche der Stamm- und der Teilanmeldung insofern auf denselben Gegenstand gerichtet waren, "als beide Ansprüche dieselbe, in unterschiedlicher Form beanspruchte Erfindung betreffen". Sie wies die Anmeldung auf der Grundlage des Verbots der Doppelpatentierung zurück.
Die Kammer befand die Beschwerde gegen diese Entscheidung für zulässig und entschied, dass keine Doppelpatentierung vorlag. Das Doppelschutzverbot bedeutet, dass kein zweites Patent für denselben Gegenstand erteilt werden kann, für den bereits ein Patent erteilt worden ist (G 1/05, G 1/06). Aus G 2/88 folgt, dass der Gegenstand aus der Anspruchskategorie und den technischen Merkmalen besteht und sich daraus auch der Schutzumfang ergibt.
Die in Frage stehenden Ansprüche gehörten verschiedenen Kategorien an: Ansprüche der schweizerischen Form sind zweckgebundene Verfahrensansprüche, während nach Artikel 54 (5) EPÜ formulierte Ansprüche zweckgebundene Erzeugnisansprüche sind. Hinsichtlich der technischen Merkmale waren in beiden Anspruchssätzen dieselbe Verbindung und dieselbe therapeutische Verwendung definiert; der Anspruch der schweizerischen Form umfasste jedoch im Gegensatz zum Anspruch nach Artikel 54 (5) EPÜ zusätzlich die Herstellung eines Arzneimittels. Der beanspruchte Gegenstand war somit ein anderer. Diese Schlussfolgerung wurde in einer erst kürzlich ergangenen Entscheidung bestätigt (T 879/12).
Im Hinblick auf den Schutzumfang berief sich die Kammer auf das dem EPÜ zugrunde liegende allgemeine Prinzip, dass der Schutzbereich eines Anspruchs auf eine bestimmte Tätigkeit – wie ein Verfahren, einen Prozess oder eine Verwendung – kleiner ist als der eines Anspruchs für den Gegenstand per se. Daraus folgt, dass der Schutzumfang eines Anspruchs der schweizerischen Form, der ein zweckgebundener Verfahrensanspruch ist, kleiner ist als der eines Anspruchs nach Artikel 54 (5) EPÜ, der ein zweckgebundener Erzeugnisanspruch ist.
Die Kammer betonte dabei, dass ihre Bewertung in dieser Sache von Bewertungen nach den Artikeln 76 (1), 123 (2) und 87 EPÜ zu unterscheiden ist, wo der gesamte Inhalt der Anmeldung berücksichtigt werden muss.
Damit bin ich auch schon am Ende meines Vortrags über die Rechtsprechung der Beschwerdekammern aus den letzten beiden Jahren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!