BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Juristischen Berschwerdekammer
Entscheidung der Juristischen Beschwerdekammer vom 4. Dezember 1996 - J 28/94 - 3.1.1
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | J.-C. Saisset |
Mitglieder: | G. Davies |
R. E. Teschemacher |
Anmelder: SOLUDIA S. A.
Stichwort: Aussetzung des Verfahrens/SOLUDIA
Artikel: 60 (1), 64 (1), 65 (1), 97 (2), (4), 98, 107, 109 (2), 110 (2), 113 (1) EPÜ
Schlagwort: "Beteiligte am Beschwerdeverfahren gegen eine Entscheidung über die Zurückweisung eines Antrags auf Aussetzung des Erteilungsverfahrens" - "Aussetzung des Erteilungsverfahrens"
Leitsatz
Ein Patentanmelder, dem kein rechtliches Gehör gewährt wird, wenn das Erteilungsverfahren auf Antrag eines Dritten nach Regel 13 EPÜ ausgesetzt wird, kann diese Aussetzung sachlich anfechten. Er ist von Gesetzes wegen am Beschwerdeverfahren des Dritten beteiligt, das dieser gegen die Zurückweisung seines Antrags durch das EPA eingeleitet hat.
Sachverhalt und Anträge
I. Die europäische Patentanmeldung Nr. 91 402 380.9 wurde am 5. September 1991 von der Firma Soludia S. A. (Frankreich) beim Europäischen Patentamt eingereicht. Die Prüfungsabteilung gab ihren Beschluß über die Erteilung eines europäischen Patents nach Artikel 97 (2) EPÜ am 21. Oktober 1994 an die interne Poststelle des EPA ab, die diesen am 27. Oktober 1994 an die Anmelderin absandte. In diesem Beschluß wurde mitgeteilt, daß der Hinweis auf die Erteilung im Europäischen Patentblatt Nr. 94/49 vom 7. Dezember 1994 bekanntgemacht werde.
II. Mittels Telefax vom 27. Oktober 1994, das am selben Tag beim EPA einging, beantragte ein Dritter - die Firma Renacare Limited - beim EPA die Aussetzung des Erteilungsverfahrens nach Regel 13 (1) EPÜ. Diese Firma wies gleichzeitig nach, daß sie am 7. Oktober 1994 beim Tribunal de Grande Instance von Toulouse ein Verfahren gegen die Patentanmelderin eingeleitet hat, in dem der Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents ihr und nicht der Firma Soludia zugesprochen werden soll.
III. Mit Entscheidung vom 25. November 1994 wies die Rechtsabteilung des EPA den Antrag auf Aussetzung des Verfahrens mit der Begründung zurück, am Tag des Eingangs des Aussetzungsantrags sei der Beschluß über die Erteilung des europäischen Patents von der Prüfungsabteilung nach Artikel 97 (2) EPÜ bereits gefaßt gewesen.
IV. Am 28. November 1994 legte die Beschwerdeführerin (Renacare Limited) Beschwerde ein und entrichtete die entsprechende Gebühr. Gleichzeitig wurde die Beschwerdebegründung eingereicht.
V. Am selben Tag legte die Rechtsabteilung die Beschwerde nach Artikel 109 (2) EPÜ der Beschwerdekammer vor.
VI. Die Beschwerdeführerin beantragte im Hauptantrag den Widerruf der Entscheidung vom 25. November 1994 und die Aussetzung des Erteilungsverfahrens nach Regel 13 (1) EPÜ sowie hilfsweise den Widerruf des Beschlusses der Prüfungsabteilung vom 27. Oktober 1994, eine mündliche Verhandlung für den Fall, daß die Kammer der Beschwerde nicht stattgeben wolle, und in jedem Fall die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
VII. Am 7. Dezember 1994 erließ diese Kammer eine Zwischenentscheidung des Inhalts, die aufschiebende Wirkung der (im vorliegenden Fall zulässigen) Beschwerde verhindere den Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung der ersten Instanz bis zur endgültigen Entscheidung über diese Beschwerde.
Sie ordnete somit an, das EPA habe im Europäischen Patentblatt eine Berichtigung zu veröffentlichen, in der die Öffentlichkeit darüber unterrichtet wird, daß der 7. Dezember 1994 nicht als der Tag der Erteilung des europäischen Patents Nr. 0 475 825 auf die europäische Patentanmeldung Nr. 91 402 380.9 im Sinne der Artikel 64 (1) und 97 (4) EPÜ anzusehen ist.
Die erforderliche Berichtigung wurde am 15. Februar 1995 im Europäischen Patentblatt veröffentlicht.
VIII. Am 13. Dezember 1994 teilte die Kammer der Beschwerdeführerin und der Anmelderin des europäischen Patents in einer Mitteilung nach Artikel 110 (2) EPÜ mit, daß nach ihrer Auffassung die formalen und die materiellrechtlichen Erfordernisse nach Regel 13 (1) EPÜ a priori offensichtlich erfüllt seien und der Beschwerde stattgegeben werden könne.
IX. In ihrer beim EPA am 12. Januar 1995 eingegangenen Erwiderung behauptete die Beschwerdeführerin, die Anmelderin des europäischen Patents, die Firma Soludia, sei nicht zu Recht am Beschwerdeverfahren beteiligt; dieses betreffe nur die Beschwerdeführerin einerseits, die als Dritte die Aussetzung des Verfahrens nach Regel 13 EPÜ beantrage, und das EPA andererseits. Im übrigen müsse die Aussetzung vom EPA angeordnet werden, sobald die Beschwerdeführerin nachweise, daß ein Verfahren eingeleitet worden ist, in dem der Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents ihr zugesprochen werden soll; dies sei laut Regel 13 zwingend vorgeschrieben.
X. Die Anmelderin des Patents, die Firma Soludia, brachte in ihrer am 3. Februar 1995 eingegangenen Erwiderung im wesentlichen folgendes vor:
In der angefochtenen Entscheidung sei zu Recht betont worden, daß es einen Unterschied gebe zwischen dem "Ende des Erteilungsverfahrens", dessen Zeitpunkt sich nach dem Tag der Abgabe des Erteilungsbeschlusses an die Poststelle des EPA bestimme, und dem "Wirksamwerden des Erteilungsbeschlusses" am Tag der Veröffentlichung des entsprechenden Hinweises im Europäischen Patentblatt. Würde man als spätesten Zeitpunkt für die Anwendung der Regel 13 (1) das zweite Datum bestimmen, so würden die an die Zustellung eines Beschlusses zu stellenden strikten Anforderungen der Rechtssicherheit nicht erfüllt. Dies hätte namentlich eine ungebührliche Verlängerung der Fristen zuungunsten des Anmelders zur Folge, der zu diesem Zeitpunkt insbesondere alle erforderlichen Maßnahmen getroffen haben müsse, um die Erfordernisse bestimmter Staaten gemäß Artikel 65 (1) EPÜ zu erfüllen; durch ihr spätes Tätigwerden habe die Beschwerdeführerin eher den Interessen der Anmelderin schaden als ihre eigenen Interessen wahren wollen. Ein solches Verhalten sei rechtsmißbräuchlich. Im übrigen richte sich der Anspruch der Beschwerdeführerin nur auf einen Teil der Patentanmeldung, in dem es um eine einfache Ausführungsart der Erfindung gehe, und nicht auf die Gesamtheit der Erfindung.
Die Firma Soludia beantragte die Bestätigung der angefochtenen Entscheidung und hilfsweise eine mündliche Verhandlung.
XI. Am 4. April 1996 übersandte die Beschwerdeführerin der Kammer eine Abschrift einer von den beiden Beteiligten unterzeichneten Übertragungserklärung mit der Bestätigung, daß das Recht an der in Frage stehenden Patentanmeldung zu gleichen Teilen zwischen der Firma Soludia S. A. und der beschwerdeführenden Firma Renacare Ltd. aufgeteilt worden war. Bei dieser Gelegenheit beantragten die Beteiligten nach Regel 20 EPÜ, den Rechtsübergang der Patentanmeldung auf die beiden Firmen Soludia S. A. und Renacare Limited in das europäische Patentregister einzutragen. Am 24. April 1996 teilte das EPA den Beteiligten die Eintragung dieses Rechtsübergangs mit Wirkung vom 4. April 1996 mit.
XII. Die beiden Beteiligten zogen infolgedessen ihre Anträge auf mündliche Verhandlung zurück.
Entscheidungsgründe
1. In der Zwischenentscheidung, die in dieser Sache am 7. Dezember 1994 erlassen wurde, ist die Beschwerde bereits für zulässig erklärt worden.
2. Zum Anspruch der Patentanmelderin auf Beteiligung an diesem Verfahren
2.1 Die Beschwerdeberechtigten und die Verfahrensbeteiligten sind in Artikel 107 EPÜ genannt: "Die Beschwerde steht denjenigen zu, die an dem Verfahren beteiligt waren, das zu der Entscheidung geführt hat, soweit sie durch die Entscheidung beschwert sind. Die übrigen an diesem Verfahren Beteiligten sind am Beschwerdeverfahren beteiligt." In der angefochtenen Entscheidung wurde die Patentanmelderin nicht als Beteiligte betrachtet und erhielt somit kein rechtliches Gehör.
Diese Kammer ist der Auffassung, daß ein Patentanmelder zu Recht kein rechtliches Gehör erhält, wenn es um die Aussetzung des Verfahrens geht. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß die Regel 13 EPÜ, die die Bedingungen vorschreibt, unter denen das Erteilungsverfahren ausgesetzt werden kann, keinerlei diesbezügliche Bestimmung enthält; sobald die Bedingungen gemäß Regel 13 erfüllt sind, muß das EPA von Amts wegen das Erteilungsverfahren aussetzen, ohne daß dem Patentanmelder rechtliches Gehör gewährt oder eine förmliche Entscheidung getroffen werden muß. Daß die Aussetzung automatisch und unverzüglich erfolgt, ist dadurch gerechtfertigt, daß es sich um eine vorbeugende Maßnahme zugunsten des sie beantragenden Dritten handelt und daß die Rechte auf Erlangung des in Frage stehenden Patents in vollen Umfang zu wahren sind. Bestünde nämlich ein zeitlicher Abstand zwischen dem Antrag auf Aussetzung und der Aussetzung selbst, so könnten in dieser Zeitspanne die Rechte an dem Patent beispielsweise durch die Nichtentrichtung einer Gebühr verlorengehen.
2.2 Die Kammer ist allerdings der Auffassung, daß dies nicht zur Folge haben kann, den Patentanmelder von dem vom Dritten gegen die Ablehnung der Aussetzung angestrengten Beschwerdeverfahren auszuschließen.
2.2.1 Der vom Dritten nach Regel 13 EPÜ gestellte Antrag greift im Rahmen des Erteilungsverfahrens selbst Platz; ansonsten wäre er gegenstandslos. Mit diesem Antrag wird kein getrenntes Verfahren in Gang gesetzt. Sind die Bedingungen gemäß Regel 13 EPÜ erfüllt, so muß das EPA, wie weiter oben ausgeführt, das Erteilungsverfahren aussetzen, ohne daß eine förmliche Entscheidung getroffen werden muß. Darin kann kein Widerspruch zu Artikel 113 (1) EPÜ gesehen werden, denn die Anmelderin wird von der Aussetzung des Verfahrens unterrichtet und hat anschließend die Möglichkeit, sich ihr zu widersetzen. Sie kann zum Beispiel einwenden, die Tatsachen und Dokumente, auf die der Dritte seinen Aussetzungsantrag gestützt hat, seien nicht stichhaltig. Das EPA muß dann die Aussetzung aufheben oder den Einwand zurückweisen. Im letzteren Fall muß eine förmliche Entscheidung getroffen werden, und die Anmelderin kann Beschwerde einlegen, da sie durch diese Entscheidung des EPA beschwert ist. Wird andererseits die Aussetzung des Verfahrens auf einen Einwand hin aufgehoben, so steht aus demselben Grund dem Dritten das Beschwerderecht zu.
2.2.2 Es kann allerdings vorkommen, daß das EPA den Aussetzungsantrag zurückweist, weil es, wie beispielsweise im vorliegenden Fall, das Erteilungsverfahren für beendet hält. In diesem Fall ist eine förmliche Entscheidung erforderlich, da der Dritte durch diese Zurückweisung beschwert ist, und aus eben diesem Grund steht ihm der Beschwerdeweg offen. Sobald der Antrag des Dritten zurückgewiesen worden ist und er Beschwerde einlegen kann, treten die Gründe für die Handlungen, zu denen der Patentanmelder nicht gehört wurde, hinter dem Recht zurück, das letzterem nach Artikel 107 Satz 2 EPÜ zusteht. Ob nun die Aussetzung ohne Entscheidung angeordnet (vgl. Nr. 2.2.1) oder, wie im vorliegenden Fall, durch eine förmliche Entscheidung zurückgewiesen wird - in beiden Fällen resultiert die Aussetzung bzw. die Entscheidung nicht aus dem Antrag als solchem, sondern erfolgt im Zuge des Patenterteilungsverfahrens. Wie vorstehend erläutert, setzt der Antrag nicht ein spezifisches, vom Erteilungsverfahren getrenntes Verfahren in Gang; sind die erforderlichen Bedingungen erfüllt, so muß ihm das EPA in Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Regel 13 EPÜ von Amts wegen stattgeben; ist der Antrag aus bestimmten Gründen zurückzuweisen, so ist die Zurückweisung in die Form einer beschwerdefähigen Entscheidung zu kleiden. Auf die Beschwerde finden alle Bestimmungen des EPÜ über das Beschwerdeverfahren Anwendung, insbesondere Artikel 107. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß die Patentanmelderin von Gesetzes wegen an diesem Beschwerdeverfahren beteiligt ist.
3. Zur Aussetzung des Verfahrens
3.1 Nach Regel 13 (1) EPÜ setzt das EPA das Erteilungsverfahren aus, wenn ein Dritter dem Amt nachweist, daß er ein Verfahren gegen den Anmelder eingeleitet hat, in dem der Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents ihm zugesprochen werden soll, es sei denn, daß der Dritte der Fortsetzung des Verfahrens zustimmt, was hier nicht der Fall ist. Weist der Dritte dem EPA nach, daß er bei einem nationalen Gericht ein Verfahren zur Geltendmachung des Anspruchs auf Erteilung eingeleitet hat, so muß nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern das Verfahren ausgesetzt werden, sofern die europäische Patentanmeldung nicht zurückgenommen wird oder als zurückgenommen gilt (T 146/82, ABl. EPA 1985, 267).
3.2 Die Beschwerdeführerin, die Dritte im Sinne der Regel 13 (1) EPÜ ist, hat nachgewiesen, daß sie beim Tribunal de Grande Instance von Toulouse ein rechtserhebliches Verfahren gegen die Patentanmelderin eingeleitet hat, in dem der Anspruch auf Erteilung des europäischen Patents ihr zugesprochen werden soll. Dieser Sachverhalt ist im übrigen unstrittig. Bei Eingang des Antrags auf Aussetzung des Erteilungsverfahrens vor dem EPA, d. h. am 27. Oktober 1994, war die europäische Patentanmeldung weder zurückgenommen noch galt sie als zurückgenommen. Um über die Begründetheit dieser Beschwerde befinden zu können, war somit festzustellen, ob der Erteilungsbeschluß an diesem Tag wirksam oder nicht wirksam war. Zu diesem Zweck wurden die Beteiligten aufgefordert, sich zu dieser Frage, die von der Kammer zunächst einmal bejaht wurde (vgl. Nr. VIII), zu äußern.
4. Nach dem Erlaß der Zwischenentscheidung in diesem Beschwerdeverfahren am 7. Dezember 1994 haben die Beteiligten allerdings untereinander vereinbart, daß die Patentanmeldung Nr. 91 402 380.9 ihr gemeinsames Eigentum sein solle. Nachdem dies der zuständigen Stelle des EPA urkundlich nachgewiesen worden war, wurde der Rechtsübergang mit Wirkung vom 4. April 1996 in das europäische Patentregister eingetragen. Folglich hat der auf Regel 13 (1) EPÜ gestützte Antrag auf Aussetzung des Verfahrens keine Grundlage mehr, und die Firma Renacare, die Mitinhaberin des Anspruchs auf Erteilung des Patents geworden ist, hat keine Aktivlegitimation mehr. Dies kann von der Firma Soludia nicht bestritten werden, die Mitunterzeichnerin der am 4. April 1996 dem EPA vorgelegten Übertragungsurkunde ist. Infolgedessen muß die Beschwerde aus denselben Gründen zurückgewiesen werden.
5. Im vorliegenden Fall konnte das Erteilungsverfahren aus den in der Entscheidung vom 7. Dezember 1994 genannten Gründen nicht fortgesetzt werden. Sobald aber nachgewiesen worden war, daß die Beteiligten vereinbarungsgemäß Anspruch auf Erteilung des Patents hatten, fiel jede Grundlage für den Aussetzungsantrag weg, und das EPA hätte das Erteilungsverfahren fortsetzen können, wenn keine Beschwerde vorgelegen hätte. Wegen der aufschiebenden Wirkung dieser Beschwerde sind jedoch die Voraussetzungen für die Fortsetzung des Erteilungsverfahrens erst ab dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens dieser Entscheidung, wonach die Gründe für den Rechtsstreit zwischen den Beteiligten weggefallen sind, erfüllt.
6. Da dieser Beschwerde nicht stattgegeben wird, wird der Antrag auf Rückzahlung der Beschwerdegebühr zurückgewiesen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.