T 1991/23 (Wabe/EURO-COMPOSITES) 10-03-2025
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WABE, INSBESONDERE VERFORMBARE WABE, FÜR LEICHTBAUTEILE SOWIE WABENBLOCK ZUR HERSTELLUNG DER WABE UND ENTSPRECHENDES HERSTELLUNGSVERFAHREN
PLASCORE, INC.
(a Michigan corporation)
Neuheit - Hauptantrag (ja)
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (ja)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - Verletzung des rechtlichen Gehörs
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - wesentlicher Verfahrensmangel
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - Übergehen eines Gegenbeweisangebots (ja)
I. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) legte Beschwerde gegen die Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung ein, die den damaligen Hilfsantrag 3ter für gewährbar erachtete.
II. Die (ehemalige, s.u. Ziffer IV.) Einsprechende hatte den Widerruf des Patents auf Grundlage der Einspruchsgründe gemäß Artikel 100 a) EPÜ (mangelnde Neuheit und mangelnde erfinderische Tätigkeit), Artikel 100 b) und Artikel 100 c) EPÜ beantragt.
III. Die Einspruchsabteilung entschied, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Patents in der erteilten Fassung (Hauptantrag) sowie Anspruch 1 der Hilfsanträge 1 und 2bis gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung (OV1) nicht neu sei. Die Einspruchsabteilung entschied ferner, dass Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 nicht die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ erfülle. Hilfsantrag 3bis wurde von der Einspruchsabteilung nicht zum Verfahren zugelassen. Sie entschied darüber hinaus, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hilfsantrags 3ter gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung (OV1) neu sei und auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
IV. Die am erstinstanzlichen Verfahren beteiligte (einzige) Einsprechende hat mit Schreiben vom 4. September 2023 den Einspruch gegen das Patent zurückgenommen und ist somit nicht am Beschwerdeverfahren beteiligt.
V. Die folgenden Dokumente wurden im vorliegenden Fall zitiert:
A1: Bestellauftrag zu PAMG-XR1-4.5-1/8-001-N-5052
A2: Lieferschein zu PAMG-XR1-4.5-1/8-001-N-5052
A3: E-Mail von Herrn Grzegorz Galezowski bezüglich
einer Beanstandung der gelieferten Wabe (PAMG-
XR1-4.5-1/8-001-N-5052), inklusive eines Fotos der
fehlerhaften Wabe
A4: Katalogprodukt "PAMG-XR1 5052 Aluminum Honeycomb",
von Plascore Incorporated
E1: Eidesstattliche Erklärung von Herrn Huebner,
inklusive Anlagen
E2: Eidesstattliche Erklärung von Herrn Denker,
inklusive Anlagen
I1: Niederschrift zur Inaugenscheinnnahme einer
vorbenutzten Wabe
Z1: Niederschrift zur Zeugeneinvernahme von Herrn
Denker
Z2: Niederschrift zur Zeugeneinvernahme von Herrn
Huebner
VI. Anspruch 1 des Hauptantrags (Patent wie erteilt) lautet wie folgt:
"Wabe (120... 420) für Leichtbauteile, insbesondere verformbare Wabe z.B. für Leichtbauteile mit einer gekrümmten Oberfläche, umfassend
längliche Bänder (122...422), welche aus, [sic] blatt- oder folienartigem Material hergestellt sind, eine Längsrichtung (L) aufweisen und in Querrichtung (W) quer zur Längsrichtung (L) flächig gegenüberliegend angeordnet sind;
eine Vielzahl, jeweils zwischen zwei gegenüberliegenden Bändern vorgesehene [sic] Verbindungsbereiche (123... 423), insbesondere Klebestreifen, welche die Bänder in Querrichtung (W) abschnittsweise stoffschlüssig miteinander verbinden und in regelmäßigen Abständen angeordnet sind, nämlich mit periodischem und zwischen allen Verbindungsbereichen identischem Mittenabstand (I) entlang der Längsrichtung (L) eines Bands, und wabenartige Zellen (124... 424), welche Hohlräume zwischen den Bändern bilden; dadurch gekennzeichnet, dass, bezogen auf drei aufeinander folgende Bänder (122... 422), ein Versatz (S1') der Verbindungsbereiche zwischen erstem und zweitem Band (122-1, 122-2... 422-1, 422-2) zu den Verbindungsbereichen zwischen zweitem und drittem Band (122-2, 122-3... 422-2, 422-3) zu einer ersten Seite (D1) der Längsrichtung (L) deutlich geringer ist, als zur anderen, zweiten Seite (D2) der Längsrichtung (L); und
dass zumindest ein Teil der Zellen (24) im Querschnitt in der L/W-Ebene, eine Form aufweisen [sic], mit zumindest einem, dem größeren Versatz entsprechenden, längeren Schenkel (S2) und vorzugsweise zumindest einem, dem geringeren Versatz entsprechenden, kürzeren Schenkel (S1)."
Der Wortlaut der Ansprüche der Hilfsanträge ist für die vorliegende Entscheidung nicht relevant.
VII. Die relevanten Argumente werden nachfolgend in den Entscheidungsgründen behandelt.
VIII. Anträge
Die Beschwerdeführerin beantragte, dass die Entscheidung aufgehoben und ein Patent in der erteilten Fassung (Hauptantrag) aufrechterhalten wird, hilfsweise auf Grundlage eines der Hilfsanträge 1 und 2 (vom 18. September 2019), Hilfsantrag 2bis (vom 4. Juli 2022), Hilfsantrag 3bis.1 (eingereicht mit der Beschwerdebegründung) oder Hilfsantrag 3ter (eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung).
HAUPTANTRAG (Patent in der erteilten Fassung)
1. Neuheit gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung (OV1) (gestützt auf A1 bis A4, E1 und E2, I1, Z1 und Z2)
1.1 Anspruch 1 ist durch folgende Merkmale charakterisiert:
M1.1 Wabe (120... 420) für Leichtbauteile,
M1.2 umfassend längliche Bänder (122...422), welche
aus blatt- oder folienartigem Material
hergestellt sind, eine Längsrichtung (L)
aufweisen und in Querrichtung (W) quer zur
Längsrichtung (L) flächig gegenüberliegend
angeordnet sind;
M1.3a eine Vielzahl, jeweils zwischen zwei
gegenüberliegenden Bändern vorgesehener,
Verbindungsbereiche (123... 423), welche die
Bänder in Querrichtung (W) abschnittsweise
stoffschlüssig miteinander verbinden und
M1.3b in regelmäßigen Abständen angeordnet sind,
nämlich mit periodischem und zwischen allen
Verbindungsbereichen identischem Mittenabstand
(I) entlang der Längsrichtung (L) eines Bands,
M1.4 und wabenartige Zellen (124... 424), welche
Hohlräume zwischen den Bändern bilden;
M1.5 dadurch gekennzeichnet, dass, bezogen auf drei
aufeinander folgende Bänder (122... 422), ein
Versatz (S1') der Verbindungsbereiche zwischen
erstem und zweitem Band (122-1, 122-2... 422-1,
422-2) zu den Verbindungsbereichen zwischen
zweitem und drittem Band (122-2, 122-3... 422-2,
422-3) zu einer ersten Seite (D1) der
Längsrichtung (L) deutlich geringer ist, als zur
anderen, zweiten Seite (D2) der Längsrichtung
(L);
M1.6 und dass zumindest ein Teil der Zellen (24) im
Querschnitt in der L/W-Ebene eine Form
aufweist, mit zumindest einem, dem größeren
Versatz entsprechenden, längeren Schenkel (S2)
und vorzugsweise zumindest einem, dem geringeren
Versatz entsprechenden, kürzeren Schenkel (S1).
1.2 Die Beschwerdeführerin war der Ansicht, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags entgegen der Einschätzung der Einspruchsabteilung gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung (OV1), gestützt auf die Anlagen A1 bis A4, die eidesstattlichen Erklärungen E1 und E2, die Zeugenaussagen Z1 und Z2 und die Inaugenscheinnahme I1, neu sei.
1.3 Aus den folgenden Gründen teilt die Kammer die Einschätzung, dass der beanspruchte Gegenstand des Hauptantrags gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung (OV1) neu ist, selbst wenn davon ausgegangen wird, dass die Vorbenutzung öffentlich zugänglich war und wie von der ehemaligen Einsprechenden vorgetragen stattgefunden hat.
1.3.1 Hinsichtlich der zwischen der ehemaligen Einsprechenden und der Patentinhaberin im Einspruchsverfahren strittigen Merkmale M1.3b, M1.5 und M1.6 hat die Einspruchsabteilung die folgenden Schlüsse gezogen(siehe Punkt 28.3 der Entscheidung; Hervorhebungen im Original) und gefolgert, dass die Wabe gemäß Anspruch 1 gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung (OV1) nicht neu sei:
"Die Wabe der OV1 wurde maschinell hergestellt. Während der Fertigung erfolgte eine falsche, versetzte Positionierung jeder zweiten Folienlage (siehe Zeugenaussage von Herrn Huebner sowie eidesstattlichen [sic] Erklärung E2 von Herrn Denker, insbesondere Punkt 7 und Inaugenscheinnahme); um das regelmäßiges [sic] Muster der Wabe zu bekommen (siehe Foto der A3) musste dabei sowohl der maschinell eingestellte Versatz jeder zweiten Folienlage wie auch der Mittenabstand zwischen allen Verbindungsbereichen entlang einer Längsrichtung einer Folie immer gleich sein.
Aus dem Foto der A3 ist deutlich ersichtlich, dass die Schenkellänge der Wabenzellen rechts und links unterschiedlich lang sind, sodass sowohl
Merkmal M1.6 wie auch Merkmal 1.5 in der OV1 gegeben sind."
1.3.2 Die Kammer teilt diese Einschätzung aus folgenden Gründen nicht.
1.3.3 Hinsichtlich der Frage des Umfangs der Befugnis der Beschwerdekammern zur Überprüfung von Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz, insbesondere wenn diese Zeugen vernommen hat, sind die Kammern in Verfahren vor dem EPA die erste und letzte gerichtliche Instanz und somit das einzige Rechtsprechungsorgan, das Tatsachen sowohl in faktischer als auch in rechtlicher Hinsicht feststellt. Dementsprechend sind die Kammern in jeder Phase des Beschwerdeverfahrens befugt, die maßgebenden Tatsachen eines ihnen vorliegenden Falls festzustellen und damit die Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz zu ersetzen (siehe T 1604/16, Catchword und Nr. 3.1.6 der Entscheidungsgründe sowie T 1138/20, Nr. 1.2.4 der Entscheidungsgründe).
1.3.4 Es wird folglich untersucht, ob die von der Einspruchsabteilung angeführten Anlagen A1 bis A4, eidesstattlichen Erklärungen E1 und E2, Zeugenaussagen Z1 und Z2, und die Inaugenscheinnahme I1 hinreichend belegen, dass eine Wabe mit allen Merkmalen des Anspruchs 1 öffentlich zugänglich wurde. Hierbei sind insbesondere die eidesstattliche Erklärung E2 von Herrn Denker, das Foto der Anlage A3, die Niederschrift der Zeugeneinvernahme von Herrn Denker (Z1) und die Niederschrift der Zeugenaussage von Herrn Huebner (Z2) zu untersuchen. Eine Neubewertung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ist in diesem Zusammenhang nicht erforderlich (siehe T 1604/16, Catchword und Nr. 3.1.6 der Entscheidungsgründe sowie T 1138/20, Nr. 1.2.4 der Entscheidungsgründe).
1.3.5 Punkt 7 der eidesstattlichen Erklärung E2 von Herrn Denker, die von der Einspruchsabteilung unter Punkt 28.3 der Entscheidung zitiert worden ist, lautet wie folgt:
"7. Anlage 10 + 11
Darüber hinaus kann ich bestätigen, dass die Plascore GmbH & Co. KG am 28.11.2014 eine E-Mail mit Foto (Anhang 10) des Kunden AgustaWestland PZL S.A. erhalten hat, die sich zweifelsfrei auf die Position 1 der Bestellung 4800609803 und damit auf die Position 1 der Lieferung aus Lieferschein 2013-20563 (siehe Anlage 8) bezogen hat. Dieser E-Mail ist ein Foto (Anhang 11) angehängt, welches eine Wabe zeigt, dessen Ausgestaltung eine Zellgeometrie aufweist, die, nach Luftfahrtnorm, einer verzerrten Zellgeometrie und, im Verhältnis zu einem typischen Sechseck, einer ungleichen Expansion am nächsten kommt.
Nach Luftfahrtnorm nicht ganz korrekt, aber ggf. aufgrund des Ursprungs des Fehlers, nämlich einem falsch eingegebenen Versatz zur Ablage der jeweils zweiten Folienlage bei der Blockherstellung, welcher zu einer sich kontinuierlich wiederholenden, falschen (versetzten) Positionierung jeder zweiten Folienlage führt, welcher zu einer versetzten Ablage aller Klebestreifen auf dieser Folie im Verhältnis zu allen Klebestreifen auf der dieser vorhergehenden Folienlage führt, könnte diese Ausgestaltung auch als versetzte Klebestelle bezeichnet werden."
1.3.6 Aus diesem Punkt 7 der eidesstattlichen Erklärung E2 von Herrn Denker geht nach Ansicht der Kammer nicht hervor, geschweige denn unmittelbar und eindeutig, dass sowohl der maschinell eingestellte Versatz jeder zweiten Folienlage als auch der Mittenabstand zwischen allen Verbindungsbereichen entlang einer Längsrichtung einer Folie immer gleich sein musste.
1.3.7 Auch die angefochtene Entscheidung legt nicht näher dar, weswegen die Merkmale M1.3b und M1.5 in der offenkundigen Vorbenutzung (OV1) unmittelbar und eindeutig erfüllt sein sollen und trifft diesbezüglich lediglich folgende, oben bereits wiedergegebene Aussage: "... um das regelmäßiges Muster der Wabe zu bekommen (siehe Foto der A3) musste dabei sowohl der maschinell eingestellte Versatz jeder zweiten Folienlage wie auch der Mittenabstand zwischen allen Verbindungsbereichen entlang einer Längsrichtung einer Folie immer gleich sein".
1.3.8 Nach Ansicht der Kammer kann weder durch die eidesstattliche Erklärung E2 noch durch das Foto der Anlage A3 hinreichend belegt werden, dass die offenkundige Vorbenutzung (OV1) die in Frage stehenden Merkmale M1.3b und M1.5 unmittelbar und eindeutig offenbart.
1.3.9 Entgegen der Aussage in der angefochtenen Entscheidung ist aus dem Foto der Anlage A3 keineswegs ein durchgängig regelmäßiges Muster der Waben ersichtlich. Vielmehr ist auf dem Foto der Anlage A3 eine Vielzahl stark verzerrter Waben zu erkennen. Es gibt sowohl fünfeckige als auch sechseckige verzerrte Waben, insbesondere auch sechseckige verzerrte Waben, die eine (quasi) pfeilartige Form aufweisen, in denen eine Ecke nach innen gerichtet ist. Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass in der geltend gemachten vorbenutzten Wabe (siehe Foto der Anlage A3) der Mittenabstand aller Verbindungsbereiche entlang der Längsrichtung des Bandes (immer) identisch ist (siehe Merkmal M1.3b). Eine graphische Auswertung der im Foto der Anlage A3 gezeigten Wabe liegt nicht vor.
1.3.10 Merkmal M1.5 ist nach Ansicht der Kammer so zu verstehen, dass die Verbindungsbereiche jedes zweiten Bandes (d.h. des ersten Bandes und des dritten Bandes) wieder übereinander liegen (siehe auch die Figuren 1C und 6(a) des Patents). Somit folgt aus Merkmal M1.5, dass alle Schenkel S1 (wie in Figur 1B des Patents gezeigt) gleich lang sein müssen. Wie in der Abbildung auf Seite 20 der Beschwerdebegründung, die eine Vergrößerung des Rückstellmusters aus Bild 9 auf Seite 10/17 der Niederschrift zur Inaugenscheinnahme (I1) entspricht, verdeutlicht, sind die Schenkel K1 und K2 (die den Schenkeln S1 aus Figur 1B des Patents entsprechen) nicht gleich lang. Somit liegen in dem Rückstellmuster die Verbindungsbereiche des ersten und dritten Bandes nicht übereinander. Merkmal M1.5 ist somit im Rückstellmuster (das der in Anlage A3 gezeigten Wabe entsprechen soll) nicht erfüllt.
1.3.11 Die relevante Stelle der Niederschrift der Zeugeneinvernahme von Herrn Denker (Z1) findet sich auf Seite 23/40 des 1. Teils der Zeugeneinvernahme, die wie folgt lautet (Hervorhebung hinzugefügt):
"Um das perfekte Zellbild zu erreichen, muss der Versatz gleich bleiben, und von einer Folienlage zur nächsten auf Lücke erfolgen. Insofern sollte er gleich bleiben, und bei der Maschine, die verwendet wird, gelingt dies auch. Wir sehen relativ viele Waben, die ein sehr gleichmäßiges Zellbild haben."
1.3.12 Nach Ansicht der Kammer ist auch aus der Zeugeneinvernahme von Herrn Denker (Z1) nicht ableitbar, dass die in Frage stehenden Merkmale M1.3b und M1.5 im Vorbenutzungsprodukt (OV1) unmittelbar und eindeutig offenbart waren. Dies ist auch den fotografischen Darstellungen der Anlagen 10 und 11 von E2 (die dem Foto der Anlage A3 zu entsprechen scheinen) nicht entnehmbar. In der oben zitierten Aussage von Herrn Denker ist keine Erklärung enthalten, warum die Wabe der geltend gemachten Vorbenutzung (OV1) die in Frage stehenden Merkmale erfüllt. Die Aussage "Um das perfekte Zellbild zu erreichen, muss der Versatz gleich bleiben, und von einer Folienlage zur nächsten auf Lücke erfolgen" alleine ist nicht ausreichend, um diese Frage zu klären. Es wurde nicht erläutert, was unter einem "perfekten Zellbild" zu verstehen ist (vielmehr handelt es sich bei dem Vorbenutzungsprodukt um ein fehlerhaftes Produkt) und es werden keine Auswertungen bzw. Berechnungen der fotografischen Abbildungen vorgebracht, die zeigen könnten, warum diese Wabe möglicherweise unter die in Frage stehenden Merkmale fallen könnte. Selbst wenn die in Anlage A3 bzw. den Anlagen 10 und 11 der eidesstattlichen Versicherung E2 gezeigte Wabe den in den Figuren 1A und 1B des Patents abgebildeten Waben ähnlich sieht, ist dies nicht ausreichend, um zu belegen, dass und warum die Kombination der Merkmale M1.3b und M1.5 in OV1 erfüllt ist.
1.3.13 Die Einspruchsabteilung hat ferner pauschal auf die Zeugenaussage von Herrn Huebner (Z2) verwiesen. Nach Ansicht der Kammer sind folgende Passagen daraus relevant:
(1) Seite 7/32
"Einspruchsabteilung:
Mhm. In Ordnung. Dann würden uns noch die technischen Merkmale von dem gelieferten Block interessieren, können Sie das genauer beschreiben? Wie war die Geometrie, wie war die Verklebung?
Beteiligter:
Das kann ich Ihnen in diesem Detail nicht sagen. Die - die Typenbeschreibung ist an sich offensichtlich gemäß der Blocknummer zu erkennen. Es handelt sich um eine - eine Art von Zellwabe aus der Folie Aluminium 5052. Und alle anderen Informationen, die könnte ich aus den Qualitätstestergebnissen entnehmen."
(2) Seiten 16/32 und 17/32
"Einsprechende(r):
Für die Einsprechende würden wir gerne den Herrn Huebner fragen, ähm, ob er uns erklären kann, wie letztendlich diese Zellgeometrie, die wir vorhin auch gesehen haben, in der Augenscheinnahme, wie diese Zellgeometrie letztendlich zu Stande kommt.
Beteiligter:
OK. Also wir verarbeiten bahnenmäßige Aluminiumfolien. Die werden gereinigt. Und dann drucken wir Kleber quer über die Bahnen hinweg mit einem Abstand zueinander. Diese Bahnen werden dann auf Länge geschnitten und gestapelt. Die Länge der - der abgeschnittenen Folien ist ein - eine Vielzahl der Klebestreifen, die so einen gewissen Abstand haben. Und dann geben wir einen - einen halben - eine halbe Steigung dazu. Also der Abstand zwischen den Klebestreifen in den USA nennen wir "pitch". Das heißt, die Länge der Folie ist die Anzahl der Pitches plus ein halber Pitch. Da ergibt sich diese Länge, und dann stapeln wir eine Lage nach der anderen. Und wenn man die halbe Pitch genau einhält, dann liegen die Klebestreifen genau mittig übereinander. Und in dem Fall erhält man ein genaues Sechseck. Also es heißt, n-Pitch plus ein halbes Pitch ist Länge des - der Bahn, aufeinander ergibt sich dann auf Mittelausrichtung ein Sechseck. In diesem Fall hier wurde ein Fehler gemacht bei der Angabe dieser halben Pitch. Dieses halbe Pitch wurde um ein paar, wahrscheinlich um ein Millimeter zu groß eingewählt. Und dadurch ergab sich dieser Versatz, den wir an dieser kelchförmigen Zellform erkennen können. Wenn man sich die Zellform anschaut, kann man erkennen, dass die - die Länge der einfachen Wände neben der Klebestelle sind unterschiedlich lang. Und das ist der Unterschied, der sich ergibt bei dem ungenauen Ablängen dieser einzelnen Zwischenlagen. Nachdem die alle übereinander liegen, die Scheiben, geht dieser Block da bis zu 2000 Lagen in eine Presse, wird dann unter hohem Druck angedrückt, der Kleber wird aktiv und härtet aus und verbindet all die Lagen miteinander. Die - der Block muss sich abkühlen und dann wird der Testschnitt gemacht, und dann erst kann man erkennen, ob da was faul ist an der Zellgeometrie. Und das heißt, zwischendrin kann ein zweiter Block im Prozess sein, aber generell kann man die Anzahl der Blöcke mit einer falschen Zellgeometrie relativ gering halten."
1.3.14 Auch aus dieser Aussage von Herrn Huebner können keine Erkenntnisse zur genauen Geometrie der Wabe gewonnen werden. Somit kann auch daraus nicht abgeleitet werden, dass die Vorbenutzung (OV1) die in Frage stehenden Merkmale M1.3b und M1.5 erfüllt.
1.3.15 Die ehemalige Einsprechende erwähnte die Vorbenutzung (OV1) kursorisch bereits in ihrem Einspruchsschriftsatz, ohne jedoch im Detail zu erklären, warum jedes Anspruchsmerkmal durch die Vorbenutzung (OV1) realisiert sein könnte. Die Behauptung der ehemaligen Einsprechenden unter dem Punkt "(ii) Offenkundige Vorbenutzung" auf den Seiten 19 und 20 der Einspruchsschrift "Die Wabe, die in der E-Mail vom 29. November 2014 zu erkennen ist, entspricht der Wabengeometrie der Figur 1b bzw. Figur 1a des Streitpatents. Entsprechend nimmt die dargestellte Wabe bzw. die offenkundige Vorbenutztung [sic] den Gegenstand des derzeitigen Anspruchs 1 neuheitsschädlich vorweg, so dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht neu ist gegenüber dem Offenbarungsgehalt der offenkundigen Vorbenutzung." überzeugt nicht. Dies ist eine unsubstantiierte Behauptung. Die ehemalige Einsprechende hat nicht im Detail erklärt, warum jedes Anspruchsmerkmal durch die Vorbenutzung (OV1) erfüllt sein könnte.
1.3.16 Erst in ihrem Schreiben vom 15. Oktober 2020 (mehr als 17 Monate nach dem Einspruchsschriftsatz) ging die ehemalige Einsprechende detaillierter auf die geltend gemachte Vorbenutzung (OV1) ein und reichte insbesondere die eidesstattlichen Erklärungen E1 und E2 ein. In diesem Schreiben behauptete sie, dass die Waben der Vorbenutzung (OV1) (Block 031C0313) derart beschaffen seien, dass diese sämtliche Merkmale des unabhängigen Anspruchs 1 zeigten, insbesondere das Merkmal 1.1 sowie das Merkmal 1.3b (siehe Punkt IV.2.c auf Seite 21/30 des Schreibens vom 15. Oktober 2020). Auf die anderen Anspruchsmerkmale, wie die Merkmale M1.5 und M1.6, ist sie in diesem Schreiben nicht eingegangen. Es scheint, dass auf den "Block 031C0313" im Einspruchsschriftsatz nicht eingegangen wurde. Auch wurde im Einspruchsschriftsatz nicht auf alle Anspruchsmerkmale eingegangen.
1.3.17 Auf den Seiten 23 und 24 ihres Schreibens vom 15. Oktober 2020 erklärte die ehemalige Einsprechende zu Merkmal 1.3b Folgendes (Hervorhebung hinzugefügt):
"Merkmal 1.3b:
Auch das Merkmal 1.3b ist in den Waben aus dem Block 031C0313 verwirklicht.
Wie in der eidesstattlichen Erklärung von Herrn Denker in Abschnitt 7. zu entnehmen ist, ist die in dem Block 031C0313 vorgesehene Zellform dadurch verursacht, dass eine versetzte Positionierung jeder zweiten Folienlage während der Fertigung erfolgte. Aufgrund des Umstandes, dass jede zweite Folienlage des Blocks 031C0313 betroffen war bzw. ist, sind auch sämtliche Wabenblöcke des Blocks 031C0313 derart beschaffen, dass diese zwischen allen Verbindungsbereichen einen identischen Mittenabstand entlang der Längsrichtung eines Bandes aufweisen.
Dieser Umstand wird auch noch klarer bei Betrachtung der Anlagen 1 und 2 der eidesstattlichen Erklärung von Herrn Huebner, welche in Übereinstimmung mit dem beigefügten Foto der Beanstandungs-E-Mail von AgustaWestland PZL die resultierende Wabenform aus dem Block 031C0131 zeigt. Darüber hinaus sei auch noch darauf hingewiesen, dass der Fachmann im Bereich von Wabenblöcken davon ausgeht, dass die Waben kontinuierlich in Form des dargestellten Teilabschnitts fortgesetzt sind, sodass der Fachmann das Merkmal 1.3b zumindest auch implizit - unzweifelhaft jedoch ohne eine erfinderische Tätigkeit - dem Foto aus der Beanstandungs-E-Mail vom 28. November 2014 entnimmt.
Folglich ist auch das Merkmal 1.3b durch sämtliche Vorbenutzungen offenbart, welche aus Waben aus dem Block 031C0313 begründet sind."
1.3.18 Die Kammer ist auch davon nicht überzeugt. In der eidesstattlichen Erklärung von Herrn Denker (E2) ist nicht die Rede von einem "identischen Mittenabstand" zwischen allen Verbindungsbereichen entlang der Längsrichtung eines Bandes.
1.3.19 Der relevanten Aussage von Herrn Denker "Um das perfekte Zellbild zu erreichen, muss der Versatz gleich bleiben, und von einer Folienlage zur nächsten auf Lücke erfolgen. Insofern sollte er gleich bleiben, und bei der Maschine, die verwendet wird, gelingt dies auch. Wir sehen relativ viele Waben, die ein sehr gleichmäßiges Zellbild haben." ist dies nicht zu entnehmen. Vielmehr lässt diese Aussage aufgrund der Ausdrücke "Insofern sollte er gleich bleiben ..." und "Wir sehen relative viele Waben, die ein sehr gleichmäßiges Zellbild haben" Zweifel daran entstehen, dass in der geltend gemachten Vorbenutzung ein identischer Mittenabstand vorliegt.
1.3.20 In Zusammenschau ist die Kammer bei Würdigung aller Beweismittel (A1 bis A4, E1, E2, I1, Z1 und Z2) nicht mit dem erforderlichen Grad an Gewissheit davon überzeugt, dass die Vorbenutzung (OV1) die Kombination aller Merkmale des Anspruchs 1, insbesondere die Merkmale M1.3b und M1.5, unmittelbar und eindeutig offenbart.
Somit ist der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung (OV1) neu.
2. Erfinderische Tätigkeit gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung (OV1)
Die Kammer kann nicht erkennen, warum der beanspruchte Gegenstand gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung (OV1) nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen sollte. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich bei der offenkundig vorbenutzten Wabe (OV1) um ein fehlerhaftes Produkt mit verzerrter Zellgeometrie handelt, das sich wesentlich von dem ursprünglich bestellten Katalogprodukt (mit einer auf Seite 1 der Anlage A4 gezeigten Bienenwabenstruktur aus identischen hexagonalen Waben) unterscheidet. Die Kammer kann nicht erkennen, warum es nahegelegen haben sollte, dieses fehlerhafte Produkt als Ausgangspunkt für eine weitere Modifikation heranzuziehen, die sich ebenfalls von dem eigentlichen Katalogprodukt unterscheidet. Dafür scheint es keine Veranlassung gegeben zu haben. Vielmehr würde eine Fachperson den offensichtlichen Fehler erkennen, korrigieren und die gewünschte Bienenwabenstruktur herstellen. Von dem Katalogprodukt gemäß Anlage A4 würde eine Fachperson auch nicht in naheliegender Weise zu der beanspruchten Wabe gelangen.
3. Rückzahlung der Beschwerdegebühr aufgrund wesentlichen Verfahrensmangels (Regel 103 (1) a) EPÜ)
3.1 Die Beschwerdeführerin machte eine Verletzung des rechtlichen Gehörs unter anderem wegen Nichtbeachtung eines von ihr gestellten Beweisantrags geltend (siehe Punkt B)II)1)a) der Beschwerdebegründung) und verwies diesbezüglich auf Punkt 23.2 der Entscheidung und ihre Einspruchserwiderung. Die Beschwerdeführerin beantragte für den Fall der Feststellung eines wesentlichen Verfahrensmangels auch die Rückerstattung der Beschwerdegebühr.
3.2 Der relevante Abschnitt unter Punkt 23.2 der angefochtenen Entscheidung lautet wie folgt:
"Die Patentinhaberin hatte weiter beantragt, Herrn Grzegorz GALEZOWSKI und Frau Sylvia BUCHER als Zeugen zu der offenkundigen Vorbenutzung zu vernehmen. Im Ladungsbescheid wurde darauf hingewiesen, dass die Einspruchsabteilung nicht beabsichtigt, die von der Patentinhaberin benannten Zeugen zu hören, da die Beweislast bei der Einsprechenden liegt und es der Einsprechenden und nicht der Patentinhaberin obliegt geeignete Beweismittel auszusuchen, vorzulegen und zu beantragen. Für den Fall, dass die Abteilung zu dem Schluss kommt, die Behauptungen ausreichend bewiesen sind [sic], könne die Patentinhaberin den Gegenbeweis antreten und die Einvernahme von Gegenzeugen beantragen. Ein Antrag auf Einvernahme von Gegenzeugen wurde daraufhin von der Patentinhaberin nicht gestellt."
3.3 In diesem Zusammenhang wird auf die relevante Passage auf den Seiten 4 und 5 der Einspruchserwiderung der Beschwerdeführerin vom 18. September 2019 hingewiesen, die wie folgt lautet:
"Die Patentinhaberin beantragt daher - nur bedingt, nämlich für den Fall, dass die Einspruchsabteilung eine Relevanz der geltend gemachten Vorbenutzung feststellt (vgl. weiter unten) - zur Rechtssicherheit nach Art. 117 und R. 117 EPÜ sowie aus Gründen der Verfahrensökonomie vielmehr die Zeugenvernehmung tatsächlicher Zeugen zum Sachverhalt, nämlich von:
Herrn Grzegorz GALEZOWSKI (Autor des E-Mails in Anhang A3) zu laden über die Anschrift in Anhang A3
sowie von
Frau Sylvia BUCHER (Empfänger des E-Mails in Anhang A3 und in A2 genannter Ansprechpartner) zu laden über die Einsprechende."
3.4 Auf Seite 8 der Einspruchserwiderung unter dem Punkt "f) Fazit zur Vorbenutzung" hatte die Einsprechende diesen Antrag auf Zeugeneinvernahme bereits für den Fall gestellt, dass die Einspruchsabteilung die Vorbenutzung als relevant einstuft.
3.5 Die Bedingung, dass die Einspruchsabteilung eine Relevanz der Vorbenutzung (OV1) feststellt, ist eingetreten, und die Einspruchsabteilung führt in ihrer Entscheidung keine hinreichenden Gründe an, warum die von der Patentinhaberin angebotenen Zeugen nicht geladen worden sind. Der Verweis auf den Ladungsbescheid, worin die Einspruchsabteilung erwähnte, dass sie nicht beabsichtige, die von der Patentinhaberin benannten Zeugen zu hören, da die Beweislast bei der Einsprechenden liege und es der Einsprechenden und nicht der Patentinhaberin obliege, geeignete Beweismittel auszusuchen, vorzulegen und zu beantragen, kann dies nicht rechtfertigen. Zunächst ist bereits unzutreffend, dass eine Verfahrensbeteiligte generell von der Beibringung von Beweismitteln zu Tatfragen, für die eine andere Verfahrensbeteiligte die Beweislast trägt, ausgeschlossen sein soll. Die (materielle) Beweislast legt fest, zu wessen Ungunsten sich die mangelnde Aufklärbarkeit eines Sachverhaltes auswirkt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass lediglich die beweisbelastete Verfahrensbeteiligte Beweismittel zur Aufklärung dieses Sachverhaltes beitragen darf. Unabhängig davon sah die Einspruchsabteilung die streitige Vorbenutzung letztlich auch als erwiesen an, weswegen ihre in der Ladung getätigte Aussage, dass die Patentinhaberin in diesem Fall den Gegenbeweis antreten könne, einschlägig wurde.
3.6 Die Aussage der Einspruchsabteilung "Ein Antrag auf Einvernahme von Gegenzeugen wurde daraufhin von der Patentinhaberin nicht gestellt." ist nach Ansicht der Kammer unzutreffend. Die Beschwerdeführerin hat beantragt, Herrn Grzegorz Galezowski und Frau Sylvia Bucher als Zeugen zu laden. Dieser Antrag wurde von der Beschwerdeführerin nicht zurückgenommen und musste von ihr auch nicht wiederholt werden.
3.7 Nach Ansicht der Kammer ist in der Vorgangsweise der Einspruchsabteilung eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Artikel 113 (1) EPÜ und somit ein wesentlicher Verfahrensmangel zu sehen.
3.8 Damit die Rückzahlung der Beschwerdegebühr der Billigkeit entspricht, muss grundsätzlich ein Kausalzusammenhang zwischen dem geltend gemachten Verfahrensmangel und der erstinstanzlichen Entscheidung bestehen, die die Einlegung einer Beschwerde notwendig machte (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 10. Auflage, 2022, V.A.11.7.1). Ein solcher Kausalzusammenhang liegt vor, da die Vernehmung der von der Beschwerdeführerin genannten Zeugen zu einem anderen Ergebnis bei der Beurteilung der Neuheit des beanspruchten Gegenstands gegenüber der offenkundigen Vorbenutzung (OV1) führen hätte können. Die bloße Möglichkeit eines anderen Ergebnisses ist in diesem Zusammenhang ausreichend.
Die Rückerstattung der Beschwerdegebühr ist somit gerechtfertigt.
Die Beschwerdegebühr ist somit in voller Höhe rückzuerstatten (Regel 103 (1) a) EPÜ).
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird in unveränderter Form aufrechterhalten.
3. Die Beschwerdegebühr wird zurückgezahlt.