T 0915/23 21-01-2025
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MIT ALKYLENOXID UND HYDROCARBYL-SUBSTITUIERTER POLYCARBONSÄURE QUATERNISIERTE STICKSTOFFVERBINDUNGEN UND IHRE VERWENDUNG ALS ADDITIV IN KRAFT- UND SCHMIERSTOFFEN
Änderungen - Erweiterung über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinaus (ja)
Änderung nach Zustellung der Mitteilung gem. Art. 15(1) VOBK - außergewöhnliche Umstände (nein)
I. Diese Entscheidung betrifft die Beschwerde der Einsprechenden gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung (angefochtene Entscheidung), dass das europäische Patent Nr. 3 205 705 (Patent) in geänderter Fassung den Erfordernissen des EPÜ genügt.
II. In Vorbereitung der auf Antrag beider Parteien anberaumten mündlichen Verhandlung erließ die Kammer eine Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK.
III. Mit ihrem Schriftsatz vom 23. Dezember 2024 nahm die Patentinhaberin Stellung zur Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK.
IV. Am 10. Januar 2025 reichte die Einsprechende einen weiteren Schriftsatz ein.
V. Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 21. Januar 2025 in Anwesenheit beider Parteien statt.
Die Patentinhaberin verfolgte die von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachtete Fassung des Patents als Hauptantrag weiter, alle übrigen mit ihrer Beschwerdebegründung und -erwiderung eingereichten Anträge sowie ihre Beschwerde nahm sie zurück.
Mit der Rücknahme der Beschwerde der Patentinhaberin wurde die Einsprechende alleinige Beschwerdeführerin. Die Einsprechende wird in der Folge daher als Beschwerdeführerin, die Patentinhaberin als Beschwerdegegnerin bezeichnet.
Die Beschwerdegegnerin reichte in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer den Anspruchssatz eines Hilfsantrags 1 ein. Die Kammer entschied, diesen nicht ins Verfahren zuzulassen.
Am Ende der mündlichen Verhandlung verkündete der Vorsitzende den Tenor der vorliegenden Entscheidung.
VI. Am Ende der mündlichen Verhandlung lauteten die Anträge der Parteien wie folgt:
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents in vollem Umfang.
Die Beschwerdegegnerin beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, d.h. die Aufrechterhaltung des Patents in der von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachteten Fassung, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf Basis der Ansprüche des Hilfsantrags 1, eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer.
VII. Zusammenfassungen des für die vorliegende Entscheidung relevanten Parteivorbringens sowie wesentlicher Aspekte der angefochtenen Entscheidung finden sich in den Entscheidungsgründen.
Hauptantrag (die von der Einspruchsabteilung für gewährbar erachteten Fassung des Patents) - Änderungen (Artikel 123 (2) EPÜ)
1. In Übereinstimmung mit der Beschwerdegegnerin wird in der Folge auf die Veröffentlichung der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung Bezug genommen, d. h. EP 3 205 705 A1. Die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung wird in der Folge der Einfachheit halber als "ursprüngliche Anmeldung" bezeichnet. Entsprechendes gilt für ihre Bestandteile.
2. Anspruch 1 des Hauptantrags lautet wie folgt (zur leichteren Bezugnahme mit zusätzlicher Gliederung der Merkmale von [1] bis [6C]):
"[1] Verfahren zur Herstellung eines eine quaternisierte Stickstoffverbindung umfassendes Reaktionsprodukt [sic], durch
[2] Quaternisierung einer quaternisierbaren Stickstoffverbindung, enthaltend wenigstens eine quaternisierbare, tertiäre Aminogruppe
[3] mit einem Quaternierungsmittel, das die wenigstens eine quaternisierbare, tertiäre Aminogruppe in eine quaternäre Ammoniumgruppe überführt,
[4] wobei das Quaternierungsmittel ein Hydrocarbyl-epoxid in Kombination mit einer freien hydrocarbyl-substituierten Polycarbonsäure ist,
[5] wobei der Hydrocarbylrest der Polycarbonsäure ein zahlengemitteltes Molekulargewicht (Mn) von 85 bis 20.000 aufweist; und wobei die quaternisierbare Stickstoffverbindung ausgewählt ist unter:
[6] wenigstens einem Alkylamin der folgenden allgemeinen Formel 3
RaRbRcN (3)
worin
[6A] wenigstens einer der Reste Ra, Rb und Rc für einen geradkettigen oder verzweigten, gesättigten oder ungesättigten C8-C40-Hydrocarbylrest, insbesondere geradkettiges oder verzweigtes C8-C40-Alkyl, steht und die übrigen Reste für gleiche oder verschiedene, geradkettige oder verzweigte, gesättigte oder ungesättigte C1-C6-Hydrocarbyl-reste, insbesondere C1-C6-Alkyl, stehen; oder
[6B] worin alle Reste Ra, Rb und Rc für gleiche oder verschiedene geradkettige oder verzweigte, gesättigte oder ungesättigte C8-C40-Hydrocarbyl-reste, insbesondere geradkettige oder verzweigte C8-C40-Alkyl-Reste stehen. [sic] oder
[6C] die Reste Ra, Rb und Rc für gleiche oder verschiedene kurzkettige Alkylreste, insbesondere geradkettige oder verzweigte Alkylgruppen mit 1 bis 7, insbesondere 1 bis 4, Kohlenstoffatomen stehen."
3. Die ursprünglichen Ansprüche enthalten das folgende essentielle Merkmal:
"wobei der Quaternisierungsgrad, bestimmt per **(1)H-NMR-Spektroskopie, mindestens 85% beträgt"
Dieses Merkmal ist in Anspruch 1 des Hauptantrags nicht mehr enthalten. Vor diesem Hintergrund waren sich die Parteien uneinig darüber, ob die ursprünglichen Ansprüche überhaupt als Basis für den Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags in Betracht kommen können.
Nach gefestigter Rechtsprechung führt die Streichung eines essentiellen Merkmals eines ursprünglichen unabhängigen Anspruchs nur dann nicht über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus, wenn es an anderer Stelle der ursprünglichen Anmeldung eine Basis für den nach der Streichung des essentiellen Merkmals verbleibenden Gegenstand gibt (Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 10. Auflage 2022, II.E.1.4.1).
Es war daher zu entscheiden, ob sich der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags in unmittelbarer und eindeutiger Weise ergibt, wenn man von einer anderen Stelle der ursprünglichen Anmeldung ausgeht. Diese Stelle wird in der Folge als "Ausgangspunkt" bezeichnet. Da sich die Parteien in Bezug auf die Gewährbarkeit der Änderungen nicht auf die ursprünglichen Zeichnungen beriefen, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die ursprüngliche Beschreibung.
4. Anspruch 1 des Hauptantrags (siehe oben) ist ein Verfahrensanspruch. Er ist gerichtet auf die Herstellung eines Reaktionsprodukts.
4.1 In ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK hatte die Kammer schon ihre vorläufige Auffassung im Hinblick auf Anspruch 1 des zu diesem Zeitpunkt anhängigen Hauptantrags erläutert (damaliger Anspruch 1). Der damalige Anspruch 1 hatte folgenden Wortlaut (wiederum mit zusätzlicher Merkmalsgliederung):
"[1] Quaternisierte Stickstoffverbindung umfassendes Reaktionsprodukt, wobei das Reaktionsprodukt erhältlich ist durch
[2] ...
[6C] ..."
Da die Merkmale [2] bis [6C] des damaligen Anspruchs 1 denen in Anspruch 1 des Hauptantrags entsprechen, war also der damalige Anspruch 1 gerichtet auf ein Reaktionsprodukt erhältlich nach dem Verfahren von Anspruch 1 des Hauptantrags.
In Bezug auf diesen damaligen Anspruch 1 hatte die Kammer die Ausführungsform 1 in Absatz [0020] der ursprünglichen Beschreibung als möglichen Ausgangspunkt angesehen und festgestellt,
i) dass sich der Gegenstand des damaligen Anspruchs 1 von der Ausführungsform 1 durch die zusätzlichen Merkmale [5] und [6] bis [6C] unterscheidet und
ii) dass die im Hinblick auf den damaligen Anspruch 1 angestellten Überlegungen entsprechend auch unter anderem für den damaligen Hilfsantrag 5 gelten, welcher dem vorliegenden Hauptantrag entspricht.
In der mündlichen Verhandlung wurde dies von keiner der Parteien in Frage gestellt. Auch wählte keine der Parteien einen anderen Ausgangspunkt als die Ausführungsform 1 in der ursprünglichen Beschreibung. Es kann somit festgehalten werden, dass sich der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags durch die zusätzlichen Merkmale [5] und [6] bis [6C] von dieser Ausführungsform 1 unterscheidet.
4.2 Es war entscheidungsrelevant, ob sich der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags - d. h. die Kombination der Merkmale [1] bis [4] aus der Ausführungsform 1 mit den weiteren Merkmalen [5] und [6] bis [6C] - in unmittelbarer und eindeutiger Weise aus der ursprünglichen Beschreibung ergibt, wenn man von der Ausführungsform 1 ausgeht.
5. Zu Merkmal [5]
5.1 Merkmal [5] schränkt die in der Ausführungsform 1 schon genannte hydrocarbylsubstituierte Polycarbonsäure dahingehend ein, dass der Hydrocarbylrest ein zahlengemitteltes Molekulargewicht (Mn) von 85 bis 20.000 aufweist.
5.2 Der Begriff "Hydrocarbyl" wird in der ursprünglichen Anmeldung in den Absätzen [0022] bis [0028] definiert. Unterschieden wird zunächst zwischen lang- und kurzkettigen Hydrocarbylresten. Jede dieser beiden Klassen wird in der Folge eingehender beschrieben.
In Bezug auf die langkettigen Hydrocarbylreste wird in dem von der Beschwerdegegnerin als Basis angeführten Absatz [0023] ausgeführt, dass sie ein Mn von 85 bis 20.000, wie z.B. 113 bis 10.000, oder 200 bis 10.000 oder 350 bis 5.000, wie z.B. 350 bis 3.000, 500 bis 2.500, 700 bis 2.500, oder 800 bis 1.500 aufweisen können. Laut Absatz [0027] können die langkettigen Hydrocarbylreste auch Polyalkylenreste mit einem Polymerisationsgrad von 2 bis 100, oder 3 bis 50 oder 4 bis 25 umfassen. Die beiden Definitionen der langkettigen Hydrocarbylreste in Form ihres Mn bzw. des Polymerisationsgrads ihres Polyalkylenrests finden sich vergleichbar im ursprünglichen Anspruch 6, auf den die Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung ebenfalls als Basis verwies.
5.3 Die Kammer stimmt mit der Beschwerdeführerin darin überein, dass das Merkmal [5] das Resultat einer mehrmaligen Auswahl aus der ursprünglichen Beschreibung ist: zunächst müssen die lang- gegenüber den kurzkettigen Hydrocarbylresten ausgewählt werden, gefolgt von der Wahl der weiteren Einschränkung hinsichtlich ihres Mn und nicht etwa des Polymerisationsgrads ihres Polyalkylenrests. Zu guter Letzt ist auch der anspruchsgemäße Mn-Bereich auszuwählen. Vor diesem Hintergrund ist das Argument der Beschwerdegegnerin, die Beschränkung auf langkettige Hydrocarbylreste stelle keine Auswahl dar, weil die zugehörige Liste der lang- und kurzkettigen Hydrocarbylreste nur zwei Bedeutungen umfasse und daher nicht ausreichend lang sei, im vorliegenden Fall nicht relevant.
5.4 In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer bezog sich die Beschwerdegegnerin auch auf die Absätze [0116] und [0117] der ursprünglichen Beschreibung als Basis für das Merkmal [5]. Wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, überzeugt dieser Verweis aber schon deshalb nicht, weil sich die Ausführungen in diesen beiden Absätzen auf eine gänzlich andere Reaktionskomponente beziehen, nämlich nicht auf die in Rede stehende hydrocarbylsubstituierte Polycarbonsäure, sondern auf eine spezielle Untergruppe der quaternisierbaren Stickstoffverbindungen (siehe unten, Untergruppe A3.4)).
5.5 Im schriftlichen Verfahren verwies die Beschwerdegegnerin auf die Entscheidung T 3066/19.
In ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK hatte die Kammer ausgeführt, dass der dieser Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt vom vorliegenden verschieden und diese Entscheidung daher nicht relevant ist. Denn im Gegensatz zum vorliegenden Ausgangspunkt, der Ausführungsform 1, bezogen sich die bei dieser Entscheidung als Ausgangspunkte herangezogenen ursprünglichen Ansprüche 11 und 12 explizit auf einen langkettigen Hydrocarbylrest, so dass zumindest diesbezüglich eine Auswahl überflüssig war. In der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ging die Beschwerdegegnerin darauf nicht mehr ein.
6. Zu den Merkmalen [6] bis [6C]
6.1 Die Merkmale [6] bis [6C] schränken die in der Ausführungsform 1 schon genannte quaternisierbare Stickstoffverbindung dahingehend ein, dass sie aus Verbindungen ausgewählt ist, die den in den Merkmalen [6A] bis [6C] angegebenen Definitionen entsprechen. Der Einfachheit halber werden diese Verbindungen in der Folge als Verbindungen [6A], [6B] und [6C] bezeichnet.
6.2 Welche Verbindungen als quaternisierbare Stickstoffverbindungen eingesetzt werden können, wird in der ursprünglichen Beschreibung an den folgenden Stellen offenbart.
6.2.1 Laut der auf die Ausführungsform 1 zurückbezogenen Ausführungsform 2 (Absatz [0020]) ist die quaternisierbare Stickstoffverbindung ausgewählt aus:
a) wenigstens einem Alkylamin, das wenigstens eine Verbindung der folgenden allgemeinen Formel 3 umfasst,
RaRbRcN (3)
worin wenigstens einer der Reste Ra, Rb und Rc, wie z.B. einer oder zwei, für einen geradkettigen oder verzweigten, gesättigten oder ungesättigten C8-C40-Hydrocarbylrest, insbesondere geradkettigen oder verzweigten C8-C40-Alkylrest, steht und die übrigen Reste für gleiche oder verschiedene, geradkettige oder verzweigte, gesättigte oder ungesättigte C1-C6-Hydrocarbylreste, insbesondere C1-C6-Alkylreste, stehen
b) wenigstens einem Polyalken-substituierten Amin, enthaltend wenigstens eine quaternisierbare, insbesondere tertiäre, Aminogruppe
c) wenigstens einem Polyether-substituierten Amin, enthaltend wenigstens eine quaternisierbare, insbesondere tertiäre, Aminogruppe
d) wenigstens einem Reaktionsprodukt eines hydrocarbylsubstituierten Acylierungsmittels und einer Verbindung, enthaltend ein Stickstoff- oder Sauerstoffatom und zusätzlich enthaltend wenigstens eine quaternisierbare, insbesondere tertiäre Aminogruppe
e) Mischungen davon
Die quaternisierbare Stickstoffverbindung a) entspricht der Verbindung [6A] in Anspruch 1 des Hauptantrags.
6.2.2 Laut der ebenfalls auf die Ausführungsform 1 zurückbezogenen Ausführungsform 2a ist die quaternisierbare Stickstoffverbindung ein Alkylamin, das wenigstens eine Verbindung der folgenden allgemeinen Formel 3 umfasst,
RaRbRcN (3)
worin alle Reste Ra, Rb und Rc, für gleiche oder verschiedene geradkettige oder verzweigte, gesättigte oder ungesättigte C8-C40-Hydrocarbylreste, insbesondere geradkettige oder verzweigte C8-C40-Alkylreste stehen.
Diese quaternisierbare Stickstoffverbindung entspricht der Verbindung [6B] in Anspruch 1 des Hauptantrags.
6.2.3 Die weitere Aufzählung quaternisierbarer Stickstoffverbindungen in den Absätzen [0049] bis [0136] gliedert sich in die folgenden vier Untergruppen:
- A3.1) Tertiäre Amine (Absätze [0049] bis [0055])
- A3.2) Quaternisierbare, Polyether-substituierte Amine, enthaltend wenigstens eine quaternisierbare, insbesondere tertiäre, Aminogruppe (Absätze [0056] bis [0079])
- A3.3) Polyalkensubstituierte Amine mit wenigstens einer tertiären, quaternisierbaren Stickstoffgruppe (Absätze [0080] bis [0114])
- A3.4) Reaktionsprodukte eines hydrocarbylsubstituierten Acylierungsmittels und einer Verbindung enthaltend ein Stickstoff- oder Sauerstoffatom und zusätzlich enthaltend wenigstens eine quaternisierbare Aminogruppe (Absätze [0115] bis [0136])
Die in Anspruch 1 des Hauptantrags genannten Verbindungen [6A], [6B] und [6C] gehören zu den tertiären Aminen A3.1). Die Verbindungen [6B] und [6C] in Anspruch 1 des Hauptantrags werden in den Absätzen [0052] und [0053] gesondert erwähnt.
6.3 Ausgehend von der Ausführungsform 1 müssen also aus der ursprünglichen Beschreibung die Verbindungen [6A], [6B] und [6C] ausgewählt werden, um zum Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags zu gelangen. Denn die in der ursprünglichen Beschreibung ebenfalls genannten Verbindungen b) bis d) bzw. die Verbindungen der Untergruppen A3.2) bis A3.4) sind in Anspruch 1 des Hauptantrags nicht genannt.
Dass die Verbindungen [6A], [6B] und [6C] nach wie vor generischer Natur sind und keine individualisierten Verbindungen darstellen, ändert entgegen dem Argument der Beschwerdegegnerin nichts an der Notwendigkeit einer Auswahl. Denn die ursprüngliche Beschreibung grenzt diese tertiären Amine als chemisch verschieden von den übrigen Verbindungen ab, die als quaternisierbare Stickstoffverbindung eingesetzt werden können (vgl. die Verbindungen b) bis d) und die Untergruppen A3.2) bis A3.4) oben).
7. In Übereinstimmung mit der Beschwerdeführerin und entgegen der Feststellung in der angefochtenen Entscheidung (vgl. Seite 23, Punkt 4.2.10) führt also nur eine mehrmalige Auswahl aus der ursprünglichen Beschreibung zum Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags. Eine solche Mehrfachauswahl ist nur bei Vorliegen entsprechender Hinweise ("Pointer") hin zur beanspruchten Merkmalskombination gewährbar.
8. Vorliegend sind solche Pointer nicht ersichtlich.
8.1 Zu Merkmal [5]
Die Herstellungsbeispiele 1 bis 15 der ursprünglichen Beschreibung betreffen Verfahren zur Herstellung eines Reaktionsprodukts gemäß Anspruch 1 des Hauptantrags. Diese Beispiele setzen als freie hydrocarbylsubstituierte Polycarbonsäure eine der folgenden Verbindungen ein:
- Polyisobutylenbernsteinsäure
- Tetrapropenylbernsteinsäure
- i-Hexadecenylbernsteinsäure
- i-Octadecenylbernsteinsäure
Die Beschwerdegegnerin sah in dem Einsatz dieser Säuren einen Hinweis auf die Bevorzugung langkettiger Hydrocarbylreste. Selbst wenn man dies zugunsten der Beschwerdegegnerin akzeptiert, so belegt der Einsatz dieser Säuren gleichzeitig auch eine Bevorzugung von Bernsteinsäure als Polycarbonsäure. Die Herstellungsbeispiele offenbaren also im Hinblick auf die in der Ausführungsform 1 genannte hydrocarbylsubstiuierte Polycarbonsäure zwei voneinander nicht trennbare Bevorzugungen, nämlich sowohl hinsichtlich der Hydrocarbylreste (langkettig) als auch hinsichtlich der Polycarbonsäure (Bernsteinsäure). Eingang gefunden in Anspruch 1 des Hauptantrags hat jedoch nur die erste, denn die Art der Polycarbonsäure ist in Anspruch 1 gänzlich unbeschränkt.
Zu keinem anderen Schluss gelangt man bei Betrachtung der Abbildung in Absatz [0279], auf die die Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung verwies. Diese Abbildung zeigt ein verallgemeinertes Reaktionsschema für die Herstellungsbeispiele 1 bis 4. Sie weist zwar den Hydrocarbylrest R1 der Polycarbonsäure ausdrücklich als langkettig, gleichzeitig aber auch die Polycarbonsäure als Bernsteinsäure aus.
8.2 Zu den Merkmalen [6] bis [6C]
8.2.1 Entgegen dem Argument der Beschwerdegegnerin offenbart die ursprüngliche Beschreibung in Absatz [0049] keine generelle Bevorzugung der tertiären Amine der Untergruppe A3.1) gegenüber den anderen oben genannten Untergruppen. Denn dieser Absatz hebt lediglich die Verbindungen der Formel 3 innerhalb der Untergruppe der tertiären Amine A3.1) als bevorzugt hervor.
8.2.2 Die Herstellungsbeispiele der ursprünglichen Beschreibung setzen als quaternisierbare Stickstoffverbindung die folgenden Verbindungen ein:
a) Cocoyldimethylamin (Herstellungsbeispiele 1 bis 3 und 13)
N-Methyl-N,N-Ditalgfettamin (Herstellungsbei-spiel 4)
n-Hexadecyl-N,N-Dimethylamin (Herstellungsbei-spiele 6 bis 12)
i-Tridecyl-N-N-Dimethylamin (Herstellungsbei-spiel 15)
Diese vier Verbindungen entsprechen der Verbindung [6A] in Anspruch 1 des Hauptantrags.
b) Trimethylamin (Herstellungsbeispiel 5)
Diese Verbindung entspricht der Verbindung [6C] in Anspruch 1 des Hauptantrags.
c) N,N-Dimethylethanolamin, welches 15-fach propoxyliert ist (Herstellungsbeispiel 16) und
PIBSA-DMAPA Succinimid (Herstellungsbeispiel 17)
Diese beiden Verbindungen entsprechen keiner der Verbindungen [6A], [6B] und [6C] in Anspruch 1 des Hauptantrags.
In der Tatsache, dass die Mehrzahl der in den Herstellungsbeispielen eingesetzten Verbindungen einer der drei anspruchsgemäßen Verbindungen [6A], [6B] oder [6C] entspricht (vgl. a) und b) vs. c)), sah die Beschwerdegegnerin einen eindeutigen Hinweis auf die Bevorzugung der Verbindungen [6A], [6B] und [6C].
Die Kammer kann dem alleine schon deswegen nicht folgen, weil keines der Herstellungsbeispiele eine Verbindung einsetzt, welche der Verbindung [6B] in Anspruch 1 des Hauptantrags entspricht.
Ganz unabhängig davon gilt aber auch das Folgende. Alle der in den Herstellungsbeispielen eingesetzten quaternisierbaren Stickstoffverbindungen werden in der ursprünglichen Beschreibung als erfindungsgemäß offenbart. Wenn man nun, wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, aus der Anzahl von Verbindungen eine Bevorzugung ableiten will, dann wären auch die Verbindungen [6A] gegenüber den Verbindungen [6C] bevorzugt, denn schließlich
- werden in 13 Herstellungsbeispielen vier Verbindungen eingesetzt, die der Verbindung [6A] entsprechen, aber in nur einem Herstellungsbeispiel eine Verbindung, die der Verbindung [6C] entspricht (vgl. a) vs. b))
- wird in nur einem Herstellungsbeispiel eine Verbindung eingesetzt, die der Verbindung [6C] entspricht, wohingegen in zwei Herstellungsbeispielen zwei Verbindungen eingesetzt werden, die keiner der Verbindungen [6A], [6B] und [6C] entsprechen (vgl. b) vs. c))
Aus den Herstellungsbeispielen der ursprünglichen Beschreibung lässt sich also, auch wenn man dem Argument der Beschwerdegegnerin folgt, keine Bevorzugung der Verbindungen [6C] in Anspruch 1 des Hauptantrags ableiten.
Die obigen Punkte sind nach Ansicht der Kammer ausreichend für die Feststellung, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinausgeht.
8.3 Unabhängig von dem Vorhergehenden kommt vorliegend das Folgende erschwerend hinzu.
Die Ausführungsform 1 der ursprünglichen Beschreibung betrifft u. a. ein Verfahren zur Herstellung eines Reaktionsprodukts, bei dem drei Komponenten miteinander umgesetzt werden, nämlich eine quaternisierbare Stickstoffverbindung, eine hydrocarbylsubstituierte Polycarbonsäure und ein Hydrocarbylepoxid.
Die oben schon genannten Herstellungsbeispiele der ursprünglichen Beschreibung sind Ausführungsbeispiele dieses auf drei Reaktionskomponenten basierenden Verfahrens. Es ist nicht ersichtlich, weshalb bei der Feststellung bevorzugter quaternisierbarer Stickstoffverbindungen und hydrocarbylsubstituierter Polycarbonsäuren aus diesen Herstellungsbeispielen (s. oben), das Hydrocarbylepoxid gänzlich unbeachtet bleiben sollte. Denn das Hydrocarbylepoxid stellt ebenfalls eine notwendige Reaktionskomponente des Verfahrens dar. In den Herstellungsbeispielen werden nur die folgenden drei Hydrocarbylepoxide eingesetzt: Ethylenoxid (Herstellungsbeispiel 9), Dodecenoxid (Herstellungsbeispiel 5) und Propylenoxid (alle anderen Herstellungsbeispiele). Im Gegensatz hierzu ist jedoch Anspruch 1 des Hauptantrages hinsichtlich des Hydrocarbylepoxids nicht auf diese drei spezifischen Epoxide der Herstellungsbeispiele eingeschränkt.
Auf diesen Umstand hatte die Kammer schon in ihrer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK hingewiesen. In der mündlichen Verhandlung ging die Beschwerdegegnerin darauf nicht mehr ein.
9. Insgesamt ist daher festzustellen, dass es in der ursprünglichen Beschreibung keine Hinweise darauf gibt, dass die in Anspruch 1 des Hauptantrags enthaltene Merkmalskombination bevorzugt wäre. Der Gegenstand von Anspruch 1 geht folglich über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus. Der Hauptantrag ist somit nicht gewährbar.
Hilfsantrag 1
10. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 unterscheidet sich nur dadurch von dem des Hauptantrags, dass die quaternisierte Stickstoffverbindung nun nicht mehr unter den Verbindungen [6A], [6B] und [6C] sondern den folgenden Einzelverbindungen ausgewählt ist: N,N-Dimethyl-N-(2-propylheptyl)amin, Dodecyldimethylamin, Hexadecyldimethylamin, Oleyldimethylamin, Cocoyldimethylamin und Talgfettdimethylamin.
11. In ihrem Schriftsatz vom 23. Dezember 2024 hatte die Beschwerdegegnerin beantragt, die unter dem vorhergehenden Punkt skizzierte Änderung vornehmen zu dürfen. In der mündlichen Verhandlung reichte die Beschwerdegegnerin den Anspruchssatz des Hilfsantrags 1 ein.
12. Auf Antrag der Beschwerdeführerin ließ die Kammer Hilfsantrag 1 aus den folgenden Gründen nicht zum Verfahren zu.
12.1 Hilfsantrag 1 wurde von der Beschwerdegegnerin in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer und damit nach Zustellung der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK eingereicht. Somit ist Artikel 13 (2) VOBK einschlägig.
12.2 Die Einreichung von Hilfsantrag 1 stellt eine Änderung des Beschwerdevorbringens der Beschwerdegegnerin dar. Dass dies nicht der Fall sei, wurde von ihr auch nie behauptet. Gemäß Artikel 13 (2) VOBK bleibt eine solche Änderung grundsätzlich unberücksichtigt, es sei denn, der betreffende Beteiligte hat stichhaltige Gründe dafür aufgezeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.
12.3 Nach Ansicht der Beschwerdegegnerin sei die Einreichung von Hilfsantrag 1 erst nach der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK durch eben diese Mitteilung veranlasst worden. Darin habe die Kammer nämlich zum ersten Mal eine Beanstandung unter Artikel 123 (2) EPÜ erhoben und diese mit einer angeblich nicht gewährbaren Mehrfachauswahl begründet. Die in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 vorgenommene Änderung stelle eine eindeutige, angemessene und rechtzeitige Reaktion der Beschwerdegegnerin dar. Dies seien außergewöhnliche Umstände und Hilfsantrag 1 sei daher zuzulassen.
12.4 Dies ist nicht überzeugend. Wie von der Beschwerdeführerin dargelegt, hatte sie schon in ihrer Beschwerdebegründung darauf hingewiesen, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags das Resultat einer Mehrfachauswahl aus der ursprünglichen Beschreibung ist und dass es keine Hinweise auf eine Bevorzugung der gewählten Merkmalskombination gibt (vgl. insbesondere Beschwerdebegründung, Seite 8, erster und zweiter Absatz). Diesem Einwand war die Kammer in ihrer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK gefolgt. Die Einreichung von Hilfsantrag 1 kann daher nicht durch diese Mitteilung veranlasst gewesen sein.
Zu keinem anderen Schluss gelangt man, wenn man nicht den Tag der Einreichung von Hilfsantrag 1 als maßgeblich erachtet sondern den Tag seiner Ankündigung (23. Dezember 2024) - denn auch dieser Tag lag nach der Zustellung der Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.