T 0710/20 (Zustellen von Schriftstücken / hpc DUAL) 07-12-2022
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Verfahren zum Zustellen von Schriftstücken
Erfinderische Tätigkeit - nicht funktionale Änderung
Änderungen - Zwischenverallgemeinerung
Zurückverweisung an die erste Instanz
Zurückverweisung - (nein)
Rückzahlung der Beschwerdegebühr - (nein)
I. Die Beschwerde der Beschwerdeführerin richtet sich gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung, die Anmeldung 13450052.9 gemäß des Hauptantrags und des einzigen Hilfsantrags zurückzuweisen.
II. Die Prüfungsabteilung hat entschieden, dass der Gegenstand der unabhängigen Ansprüche sowohl des dort zur Entscheidung gestellten Hauptantrags als auch des Hilfsantrags nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
III. Im Prüfungsverfahren wurden unter anderem folgende Dokumente verwendet:
D1 US 2006/168074
D2 WO 01/13576
IV. Die Beschwerdeführerin beantragt in der Beschwerdebegründung, die angefochtene Entscheidung der Prüfungsabteilung aufzuheben, ein Patent gemäß des gleichen Hauptantrags oder hilfsweise gemäß der neuen, mit der Beschwerdebegründung vorgelegten Hilfsanträge 1 bis 6 zu erteilen, das Verfahrens an die Prüfungsabteilung zur weiteren Prüfung zurückzuverweisen und die Beschwerdegebühr zurückzuzahlen.
V. In einem Bescheid nach Artikel 15(1) VOBK 2020 teilte die Kammer der Beschwerdeführerin ihre vorläufige Meinung über die Erfolgsaussichten der Beschwerde mit.
VI. Die mündliche Verhandlung fand am 7. Dezember 2022 in Form einer Videokonferenz statt.
VII. Die Hilfsanträge 2 bis 6 wurden während der mündlichen Verhandlung zurückgezogen.
VIII. Schlussanträge
Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der Zurückweisung und die Erteilung eines Patents auf der Grundlage des Hauptantrags oder des Hilfsantrags 1, beide eingereicht mit der Beschwerdebegründung vom 2. März 2020. Hilfsweise beantragte sie die Zurückverweisung des Verfahrens an die Prüfungsabteilung zur weiteren Prüfung und die Rückzahlung der Beschwerdegebühr.
IX. Anspruch 1 des Hauptantrags hat den folgenden Wortlaut:
"Verfahren zum Zustellen von Schriftstücken an einen Empfänger mit Empfängerdaten, die in einem Empfänger-Registrierungs-Verzeichnis hinterlegt sind, welches die Empfängerdaten mit einer Empfänger-Identifikation verknüpft, wobei das Verfahren folgende Schritte aufweist:
i) ein Nutzer hinterlegt ein digitales Schriftstück in einem Abhol-Verzeichnis,
ii) es wird eine Empfänger-Identifikation abgefragt,
ii.1) wenn der Nutzer eine Empfänger-Identifikation eingibt folgt Schritt iii),
iii) es wird überprüft ob die Empfänger-Identifikation im Empfänger-Registrierungs-Verzeichnis vorhanden ist,
iii.1) wenn die Überprüfung aus Schritt iii) erfolgreich ist und eine nicht-analoge Benachrichtigungsmöglichkeit verzeichnet ist, folgt Schritt iv),
iv) anhand der korrekten Empfänger-Identifikation wird der Empfänger informiert, dass ein für ihn bestimmtes digitales Schriftstück zur Abholung bereit ist,
iv.1) der Empfänger holt das digitale Schriftstück ab und es folgt Schritt v),
v) dem Schriftstück wird das Attribut "zugestellt" zugewiesen,
vi) wenn einer der Punkte ii) bis v) nicht durchführbar ist oder nicht erfolgt, wird das Schriftstück als "nicht digital zugestellt" markiert."
X. Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 entspricht Anspruch 1 des Hauptantrags, jedoch sind die Merkmale iv.1) und v) wie folgt formuliert:
"iv.1) der Empfänger ruft von sich aus das Abholverzeichnis auf, holt das digitale Schriftstück ab und es folgt Schritt v),
v) wenn der Empfänger das Schriftstück abgeholt hat, wird dem Schriftstück das Attribut "zugestellt" zugewiesen."
1. Die Anmeldung betrifft ein Verfahren zur Zustellung von Schriftstücken an einen Empfänger. Der Absender hinterlegt ein digitales Schriftstück in einem Verzeichnis und gibt eine Identifikation des Empfängers ein. Falls diese Identifikation registriert ist und eine digitale Benachrichtigungsmöglichkeit verzeichnet ist, wird der Empfänger informiert, dass ein Schriftstück für ihn bereitsteht. Er kann es abholen; danach wird das Schriftstück als "zugestellt" markiert. Falls diese digitale Zustellung nicht erfolgreich ist, wird das Schriftstück als "nicht digital zugestellt" markiert.
2. Druckschrift D1 offenbart ein Verfahren zur digitalen Zustellung von Dokumenten.
Hauptantrag
3. Erfinderische Tätigkeit.
3.1 Die Kammer bestätigt die Schlussfolgerung in der angefochtenen Entscheidung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruht.
3.2 Die Prüfungsabteilung hat festgestellt, dass die Druckschrift D1 das Merkmal vi) des Anspruchs 1 nicht offenbart.
3.3 Die Beschwerdeführerin hat vorgebracht, dass D1 zusätzlich die Merkmale iii.1), iv), iv.1) und v) nicht offenbare.
3.4 Die Kammer ist der Meinung, dass die Druckschrift D1 die strittigen Merkmale wie folgt offenbart:
iii.1): D1 offenbart, dass überprüft wird, ob der Empfänger einen Account in dem ePostal System hat (Absätze 175 und 196, Abbildung 2A). Dem Account ist eine Email-Adresse zugeordnet (Absatz 98, "primary email address"). Der elektronische Brief "eLetter" wird über die Email-Anwendung des Empfängers zugestellt (Absatz 375).
iv): Der Empfänger wird benachrichtigt, dass ein elektronischer Brief bereitsteht (Abbildung 22B, Schritt RP28 und Absatz 375).
iv.1): Der Empfänger öffnet den elektronischen Brief (Abbildung 22B, Schritt RP32, Absatz 382).
v): Mitteilungen über den Empfang und das Öffnen des elektronischen Briefs werden mit dem Brief verknüpft (Abbildung 22B, Schritt RP36, Absätze 116, 117, 157, 169, 184, 340 and 414).
3.5 Folglich unterscheidet sich der Gegenstand des Anspruchs 1 von der Offenbarung der Druckschrift D1 nur durch das Merkmal vi).
3.6 Der Beschreibung der Anmeldung ist keine von diesem Merkmal verursachte Wirkung zu entnehmen; das Merkmal ist zudem in der Beschreibung nicht erwähnt.
Die Beschwerdeführerin hat in der Beschwerdebegründung ebenso wenig eine Wirkung angegeben.
3.7 Während der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung hat die Anmelderin vorgetragen, dass die Sicherheit erhöht werde, wenn die Nicht-Zustellung an den Empfänger erfasst und dokumentiert werde. Das zu lösende technische Problem könne darin gesehen werden, wie die Sicherheit der Erfassung der Zustellung in einem System zur Übertragung von Nachrichten erhöht werden könne (Niederschrift, Absatz 4.6).
Die Kammer ist der Meinung, dass keine solche Wirkung erreicht wird.
Erstens scheint die Markierung des Schriftstücks als "nicht digital zugestellt" nichts zu bewirken. Es gibt keine Merkmale im Anspruch 1, die diese Markierung auswerten oder verwenden.
Zweitens offenbart D1, dass das Attribut "zugestellt" zugewiesen wird (Merkmal v)). Dabei handelt es sich (sowohl in D1 als auch im beanspruchten Verfahren) um eine digitale Zustellung. Das zusätzliche Erfassen des komplementären Sachverhalts "nicht digital zugestellt" kann die Sicherheit der Erfassung der Zustellung nicht erhöhen.
3.8 Die Beschwerdeführerin hat auf Seite 3, 3. Absatz und Seite 6, 4. Absatz der Beschreibung verwiesen.
Die Kammer merkt an, dass diese Absätze die Markierung als "nicht digital zugestellt" nicht erwähnen und dass dort das Schriftstück ausgedruckt und auf analogem Weg versandt wird. Anspruch 1 beinhaltet keine entsprechende Schritte.
3.9 Bezüglich Merkmal v) hat die Beschwerdeführerin ausgeführt, dass es dem Empfänger vollkommen freigestellt sei, welche Software er verwende, weil das Attribut "zugestellt" bei der Abholung aus dem Abholverzeichnis gesetzt werde und der Empfänger dies nicht beeinflussen könne, weil das Attribut nicht von seinem Arbeitsplatz oder System aus gesetzt werde.
Diese Argumente sind nicht überzeugend. Anspruch 1 lässt offen, welche Vorrichtung dieses Attribut setzt und woraus das Schriftstück abgeholt wird. Das Merkmal i) legt lediglich fest, dass das digitale Schriftstück in einem Abhol-Verzeichnis hinterlegt wird; dadurch wird in keiner Weise bestimmt, welche Software das Attribut setzt.
Die Beschwerdeführerin hat weiter argumentiert, dass es nicht erforderlich sei, anzugeben, welche "Vorrichtung" dieses Attribut setzt, weil es sich um einen Verfahrensanspruch handele.
Die Kammer stimmt zu, dass die Angabe einer Vorrichtung nicht per se erforderlich ist. Allerdings kann eine nicht im Anspruch angegebene Vorrichtung nicht zur erfinderischen Tätigkeit beitragen.
Während der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer hat die Beschwerdeführerin vorgetragen, dass die zu lösende technische Aufgabe darin gesehen werden könne, die Sicherheit der Erfassung der Zustellung in einem System zur Übertragung von Nachrichten zu erhöhen, ohne dass eine spezielle Empfänger-Software benötigt werde.
Aus den in diesem Punkt angegebenen Gründen ist die Kammer der Auffassung, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 keine solche Aufgabe zu lösen vermag.
3.10 Weiter argumentiert die Beschwerdeführerin, dass gemäß Anspruch 1 das Attribut "zugestellt" zugewiesen wird, wenn das digitale Schriftstück abgeholt wird.
Anspruch 1 legt lediglich fest, dass der Schritt v) nach dem Schritt iv.1) folgt. D1 nimmt diese Abfolge vorweg: die Mitteilungen über den Empfang und das Öffnen des elektronischen Briefs werden versandt, nachdem der Empfänger den Brief geöffnet (und dabei notwendigerweise abgeholt) hat.
3.11 Zudem argumentiert die Beschwerdeführerin, dass in der Druckschrift D1 der Empfang beziehungsweise das Öffnen des Stücks, nicht aber das Abholen aus dem Verzeichnis, durch die Software des Empfängers gemeldet werde.
Anspruch 1 verlangt lediglich, dass der Empfänger das Stück abholt und es folgt, dass dem Stück das Attribut "zugestellt" zugewiesen wird. D1 offenbart genau diesen Ablauf: der Brief wird aus dem ePost Office empfangen, d.h. abgeholt. Dann wird er geöffnet und das wird beim Brief als "receipt/opening by the recipient" vermerkt. Anspruch 1 verlangt nicht, dass das Attribut "zugestellt" unmittelbar nach dem Abholen gesetzt wird, noch dass dieser Vermerk vor dem Öffnen stattfinden muss.
3.12 Die Beschwerdeführerin führt aus, dass die Formulierung im Anspruch 1 "es folgt" als "es folgt unmittelbar" auszulegen sei.
Die Kammer sieht in den gesamten Unterlagen der Anmeldung keine Basis für eine solche einschränkende Auslegung.
3.13 Entgegen der Argumentation der Beschwerdeführerin sieht Merkmal vi) keine "zwingende Alternative" vor. Auch das weitere Argument bezüglich Merkmal vi) - dass es die Basis für die Merkmale im abhängigen Anspruch 11 darstelle - vermag die Kammer nicht zu überzeugen, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 auf erfinderischen Tätigkeit beruht.
3.14 Aus diesen Gründen beruht der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
Hilfsantrag 1
4. Änderungen
4.1 Die Beschwerdeführerin hat den letzten Absatz auf Seite 2 sowie den vorletzten Absatz auf Seite 6 der Beschreibung als Basis für die Änderungen im Anspruch 1 angegeben.
Die Kammer ist der Meinung, dass der letzte Absatz auf Seite 2 das hinzugefügte Merkmal "der Empfänger ruft von sich aus das Abholverzeichnis auf" nur in Verbindung mit einer Benachrichtigung über SMS offenbart.
Der vorletzte Absatz auf Seite 6 kann nicht als Basis für die Änderungen dienen, da dort nicht offenbart wird, dass der Empfänger das Abholverzeichnis aufruft.
Die Beschwerdeführerin hat weiter argumentiert, dass der letzte Absatz auf Seite 2 nicht nur SMS, sondern auch alternativ eine Benachrichtigung per E-Mail offenbare.
Die Kammer stimmt dem zu. Allerdings wird die Benachrichtigung per E-Mail nicht in Verbindung mit dem hinzugefügten Merkmal offenbart, sondern in Verbindung mit dem Folgen eines Links in der E-Mail.
4.2 Aus diesen Gründen genügt der Hilfsantrag 1 nicht den Anforderungen des Artikels 123(2) EPÜ.
Zurückverweisung
5. Die Beschwerdeführerin hat beantragt, "das Verfahren an die Prüfungsabteilung zurückzuverweisen, damit der Anmelderin alle Möglichkeiten zur rechtmäßigen Verteidigung der Anmeldung zur Verfügung stehen" und auf die erstmals von der Beschwerdekammer im Beschwerdeverfahren erhoben Einwände nach Artikeln 83 und 84 EPÜ verwiesen.
Die Kammer weist diesen Antrag zurück. Erstens basiert die vorliegende Entscheidung nicht auf den Artikeln 83 und 84 EPÜ. Zweitens sind neue Einwände der Kammer im Beschwerdeverfahren im Allgemeinen kein Grund für eine Zurückverweisung, siehe die Rechtsprechung der Beschwerdekammer, 10. Auflage 2022, Kapitel V.A.9.6.2.
Rückzahlung der Beschwerdegebühr
6. Die Beschwerdeführerin hat beantragt, dass die Beschwerdegebühr zurückgezahlt wird. Sie hat diesen Antrag lediglich kursorisch mit der beantragten Zurückverweisung begründet.
Die Kammer weist diesen Antrag zurück. Der Kammer sind keine Umstände bekannt, die eine Rückzahlung nach Regel 103(1)a) EPÜ rechtfertigen würden.
Zusammenfassung
7. Keiner der Anträge der Beschwerdeführerin erfüllt die Erfordernisse des EPÜ.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.