T 0993/19 (Bestimmen einer Kenngröße eines IT-Systems/JAZZEY) 18-09-2023
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Verfahren und Vorrichtung zum Bestimmen einer Kenngröße eines IT-Systems
Erfinderische Tätigkeit - Hauptantrag (nein)
Zulässigkeit des Hilfsantrags - (nein)
I. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) legte Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 2 189 908 (im Folgenden "das Patent") zurückzuweisen. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass der Gegenstand der Ansprüche in der erteilten Fassung erfinderisch sei.
II. In der angefochtenen Entscheidung wurde unter anderem auf die folgenden Dokumente verwiesen:
D1 US 5,511,185, veröffentlicht am 23. April 1996;
D3 Angelika Härtel, "Erprobung eines Algorithmus zur Bildspeicherung und Bildsuche", Großer Beleg, Technische Universität Dresden, 5. August 1992;
D5 Vorbenutzung "GUI Roboter", dokumentiert durch die Dokumente D5.1 bis D5.3; siehe dazu auch die Dokumente D5.4 bis D5.6;
D5.1 Jazzey Dokumentation "GUI Roboter Transaktionen - MacroAngel";
D5.2 Jazzey Handbuch - in zwei Versionen: ein Auszug (eingereicht am 11. Januar 2013) und eine vollständige Version (eingereicht am 18. Mai 2018);
D5.3 Rechnung der Jazzey GmbH an die Realtech System Consulting GmbH vom 10. Oktober 2008;
D5.4 Eidesstattliche Versicherung von Andreas Oberhuemer (Jazzey) vom 1. August 2016;
D6 US 6,424,746 Bl, veröffentlicht am 23. Juli 2002.
Die Kammer verwies im Verfahren auch auf das Dokument:
D5.6 Niederschrift über die Beweisaufnahme durch Vernehmung des Zeugen Andreas Oberhuemer, aufgenommen in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung am 19.09.2018.
III. Mit ihrer Beschwerde beantragte die Beschwerdeführerin, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in vollem Umfang wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 100 a) EPÜ) zu widerrufen. Hilfsweise beantragte sie eine mündliche Verhandlung.
Zur Ausräumung noch vorhandener Zweifel bezüglich der offenkundigen Vorbenutzung D5 bot die Beschwerdeführerin eine erneute Zeugeneinvernahme von Andreas Oberhuemer an und reichte das folgende Dokument ein:
D5.5 E-Mail vom 22. Februar 2008 von Andreas Oberhuemer an Thomas Kinateder mit Betreff "Template MacroAngel-Skript" sowie Screenshot
Die Beschwerdeführerin legte dar, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Patents nicht erfinderisch gegenüber der durch die Dokumentensammlung D5 beschriebenen öffentlichen Vorbenutzung, die dem im Patent selbst genannten Stand der Technik entspreche, sei. Insbesondere sei die technische Aufgabe ein "Verbessern der Bilderkennung zur Identifizierung eines Piktogramms". Diese Aufgabe werde von der Fachperson durch Verwendung der aus den Dokumenten D6 oder D3 bekannten konturabhängigen Mustererkennung mit lediglich den bekannten und vorhersehbaren Vorteilen in offensichtlicher Weise gelöst.
IV. In seiner Erwiderung auf die Beschwerdebegründung beantragte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) die Beschwerde zurückzuweisen und das Patent unbeschränkt aufrechtzuerhalten (Hauptantrag). Hilfsweise beantragte er die Aufrechterhaltung des Patents in der Fassung gemäß des Hilfsantrags vom 20. Juni 2013 sowie eine mündliche Verhandlung.
Der Beschwerdegegner argumentierte, die Beschwerde sei offensichtlich unbegründet und somit zurückzuweisen, da die Beschwerdeführerin (1) Tatsachen und Beweismittel verspätet vorbringe, (2) die vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel nicht prima facie relevant seien, (3) in der Argumentation der Beschwerdeführerin die Gründe für die Zurückweisung des Einspruchs nicht adressiert seien und (4) sie nicht nachvollziehbar darlege, weshalb der Anmeldegegenstand des Patents nicht erfinderisch sei.
V. Mit einem auf die Ladung zur mündlichen Verhandlung folgenden Bescheid wurden die Beteiligten über die vorläufige Auffassung der Kammer informiert. Darin äußerte die Beschwerdekammer Zweifel an der erfinderischen Tätigkeit des Hauptantrags sowie an der Zulässigkeit des Hilfsantrags. Die Beschwerdekammer war außerdem der vorläufigen Ansicht, dass die öffentliche Vorbenutzung D5 nicht hinreichend nachgewiesen wurde.
VI. Im Schriftsatz vom 13. September 2022 hielt der Beschwerdegegner seine Anträge aufrecht und reichte Argumente zur erfinderischen Tätigkeit sowie zur Zulässigkeit des Hilfsantrags ein.
VII. Nach einer Terminverlegung fand die mündliche Verhandlung am 18. September 2023 in Anwesenheit der Beschwerdeführerin und des Beschwerdegegners statt. Am Ende der Verhandlung verkündete der Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.
VIII. Die Beschwerdeführerin beantragte, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent in vollem Umfang zu widerrufen.
IX. Der Beschwerdegegner beantragte die Beschwerde zurückzuweisen und das Patent unbeschränkt aufrechtzuerhalten (Hauptantrag). Hilfsweise beantragte er die Aufrechterhaltung des Patents in der Fassung gemäß des Hilfsantrags vom 20. Juni 2013.
X. Anspruch 1 des Hauptantrags, d.h. des Patents wie erteilt, lautet wie folgt:
"Verfahren zum Bestimmen der Qualität oder Leistungsfähigkeit von IT-Systemen auf Applikationsebene, wobei wenigstens eine Applikation (21, 21') auf mindestens einem Rechner (5) des Systems gestartet wird, dadurch gekennzeichnet, dass eine Zeit (DELTAt) zwischen dem Starten der Applikation (21, 21') und dem Erreichen eines bestimmten Applikationszustands ermittelt und als Maß für die Qualität oder Leistungsfähigkeit des IT-Systems ausgegeben oder ausgewertet wird, wobei zumindest das Starten der Applikation (21, 21') und die Messung der Zeit (DELTAt) automatisierbar durch einen Software-Roboter (11) erfolgt, welcher die Applikation (21, 21') grafisch anhand eines ihr zugeordneten ersten Piktogramms (22) identifiziert und durch Anwahl einer dem ersten Piktogramm (22) zugeordneten Verknüpfung startet, wodurch zugleich die Messung der Zeit (DELTAt) ausgelöst wird, wobei die Identifizierung mittels einer konturabhängigen Mustererkennung erfolgt, zu welchem Zweck das erste Piktogramm (22) zunächst in eine Kontur- oder Kantenbilddarstellung (22') umgewandelt wird, unter dessen Verwendung anschließend die Mustererkennung durchgeführt wird, und dass das Erreichen des bestimmten Applikationszustands grafisch anhand eines dem Applikationszustand zugeordneten zweiten Piktogramms (25) erkannt wird, wobei die Identifizierung des zweiten Piktogramms (25) ebenfalls mittels einer konturabhängigen Mustererkennung durch den Software-Roboter (11) erfolgt, wobei nach erfolgter Identifizierung des zweiten Piktogramms (25) die Messung der Zeit (DELTAt) durch den Software-Roboter (11) gestoppt wird."
XI. Anspruch 1 des Hilfsantrags unterscheidet sich von Anspruch 1 des Hauptantrags dadurch, dass am Ende des Anspruchs der folgende Text hinzugefügt wurde:
", wobei die Mustererkennung anhand einer vorbekannten Position des Piktogramms (22, 25) zunächst in einem beschränkten, vorgegebenen Bereich (26) einer Anzeigeeinheit (7) des Rechners (5) durchgeführt wird".
XII. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin und des Beschwerdegegners wird, insoweit es entscheidungsrelevant ist, in den Entscheidungsgründen dargestellt und behandelt.
1. Gemäß Absatz [0001] der Patentschrift betrifft die Erfindung ein Verfahren zum Bestimmen der Qualität und/oder der Leistungsfähigkeit von IT-Systemen auf Applikationsebene, wobei wenigstens eine Applikation auf mindestens einem Rechner des Systems gestartet wird.
Hauptantrag
2. Gliederung der Anspruchsmerkmale
Die Kammer verwendet für Anspruch 1 des Hauptantrages die folgende Gliederung:
0.0 Verfahren zum Bestimmen der Qualität oder Leistungsfähigkeit von IT-Systemen auf Applikationsebene,
1.0 wobei wenigstens eine Applikation (21, 21') auf mindestens einem Rechner (5) des Systems gestartet wird,
dadurch gekennzeichnet, dass
2.0 eine Zeit (Deltat) zwischen dem Starten der Applikation (21, 21') und dem Erreichen eines bestimmten Applikationszustands ermittelt und als Maß für die Qualität oder Leistungsfähigkeit des IT-Systems ausgegeben oder ausgewertet wird,
3.0 wobei zumindest das Starten der Applikation (21, 21') und die Messung der Zeit (Deltat) automatisierbar durch einen Software-Roboter (11) erfolgt,
4.1 welcher die Applikation (21, 21') grafisch anhand eines ihr zugeordneten ersten Piktogramms (22) identifiziert und
4.2 durch Anwahl einer dem ersten Piktogramm (22) zugeordneten Verknüpfung startet,
4.3 wodurch zugleich die Messung der Zeit (Deltat) ausgelöst wird,
4.4 wobei die Identifizierung mittels einer konturabhängigen Mustererkennung erfolgt,
4.5 zu welchem Zweck das erste Piktogramm (22) zunächst in eine Kontur- oder Kantenbilddarstellung (22') umgewandelt wird, unter dessen Verwendung anschließend die Mustererkennung durchgeführt wird, und
5.1 dass das Erreichen des bestimmten Applikationszustands grafisch anhand eines dem Applikationszustand zugeordneten zweiten Piktogramms (25) erkannt wird,
5.2 wobei die Identifizierung des zweiten Piktogramms (25) ebenfalls mittels einer konturabhängigen Mustererkennung durch den Software-Roboter (11) erfolgt,
5.3 wobei nach erfolgter Identifizierung des zweiten Piktogramms (25) die Messung der Zeit (Deltat) durch den Software-Roboter (11) gestoppt wird.
3. Die Beschwerdeführerin argumentierte zur erfinderischen Tätigkeit, dass das Verfahren gemäß Anspruch 1 des Patents ausgehend von dem im Patent selbst genannten Stand der Technik (siehe Absätze [0004] bis [0007] des Patents; vgl. auch Absätze [0004] bis [0006] der veröffentlichten Patentanmeldung) offensichtlich sei. Dieser Stand der Technik offenbare alle Merkmale des Anspruchs 1 bis auf die Merkmale zur kantenbasierten Mustererkennung, d.h. die Merkmale 0.0 bis 4.3, 5.1 und 5.3 seien nicht neu. Die gegenüber diesem im Patent selbst beschriebenen Stand der Technik zu lösende objektive technische Aufgabe sei, wie im Patent selbst angegeben, eine Verbesserung der Mustererkennung, um die Identifizierung der Piktogramme zuverlässiger gegenüber Änderungen von Bildpunktwerten auszugestalten.
3.1 Die Beschwerdeführerin vertrat außerdem die Ansicht, dass die Lösung der objektiven technischen Aufgabe in der Verwendung einer konturabhängigen Mustererkennung bestehe. Diese Art der Mustererkennung sei der Fachperson aus ihrem allgemeinen Fachwissen (siehe hierzu auch Absatz [0016] des Patents) oder aus den Dokumenten D3 oder D6 bekannt gewesen. Die angebliche Erfindung liege darin, dass die Fachperson das bekannte Wissen zur konturabhängigen Mustererkennung mit dem im Patent beschriebenen Stand der Technik verbinde. Die Fachperson habe zumindest auch Kenntnisse im Bereich der Bilderkennung, weil die zu lösende objektive technische Aufgabe auf diesem Gebiet liege. Daher habe sie die beanspruchte Lösung auch tatsächlich zur Weiterentwicklung des im Patent beschriebenen Stands der Technik in Betracht gezogen, da ihr die Vorteile einer konturabhängigen Mustererkennung aus dem Stand der Technik, beispielsweise aus D6, oder aus dem allgemeinen Fachwissen bekannt gewesen seien.
Insbesondere offenbare D6 in Figur 19 und Spalte 1, Zeilen 18 bis 20, Spalte 4, Zeile 10 folgende sowie in Spalte 18, Zeile 19, bis Spalte 19, Zeile 7, explizit das Auffinden eines Bildes durch eine konturabhängige Mustererkennung. Weiterhin offenbare D6 in Spalte 1, Zeilen 22 bis 24, dass eine Kontur sämtliche Informationen eines Bildes oder eines Objekts enthalte, so dass die Fachperson von einem erfolgreichen Ergebnis bei der Kombination der Lehre der D6 mit dem bereits bekannten Stand der Technik ausgehen würde. Somit liege keine erfinderische Tätigkeit wegen der bloßen Anwendung einer an sich bekannten konturabhängigen Mustererkennung vor.
3.2 Falls die Verwendung des zweiten Piktogramms zur Identifikation eines Applikationszustands als neu angesehen werden sollte, dann sei dies nach Ansicht der Beschwerdeführerin für die Fachperson nur eine von mehreren naheliegenden Möglichkeiten zur Identifizierung eines Applikationszustands nach dem Starten eines Programms, also wenn sich z.B. ein Fenster öffne. Die entsprechenden Anspruchsmerkmale könnten daher keine erfinderische Tätigkeit begründen.
4. Der Beschwerdegegner argumentierte, dass der Offenbarungsgehalt des im Patent vom Erfinder beschriebenen Stands der Technik durch Auslegung ermittelt werden müsse. Dieser Stand der Technik umfasse nur die Absätze [0004] und [0006] sowie den ersten Satz des Absatzes [0007] des Patents. Dort seien zwar bereits einige Anspruchsmerkmale offenbart, aber nicht die Verwendung eines Software-Roboters zur Zeitmessung, die Identifizierung eines bestimmten Applikationszustands anhand eines zweiten Piktogramms und eine konturabhängige Mustererkennung. Hinsichtlich des Merkmals 3.0 vertrat der Beschwerdegegner die Ausfassung, dass Absatz [0004] offenbare, dass das Starten der Applikation und damit auch die simulierte Mauseingabe durch eine Benutzereingabe erfolge, also nicht durch einen Software-Roboter. Folglich seien die Merkmale 3.0, 4.4, 4.5 sowie 5.1 bis 5.3 neu. Diese Unterschiede beträfen einerseits die Mustererkennung und andererseits die Feststellung des zu erreichenden Zielzustands für die Zeitmessung.
4.1 Nach Ansicht des Beschwerdegegners sei die Aufgabe, die sich für die Fachperson ausgehend von dem in der Patentschrift beschriebenen Stand der Technik gestellt habe, ein Verfahren zum Bestimmen der Qualität der Leistungsfähigkeit von IT-Systemen auf Applikationsebene, wobei wenigstens eine Applikation auf mindestens einem Rechner des Systems gestartet wird, das Starten der Applikation über eine simulierte Mausanzeige erfolgt und bei der Simulation der Mausanzeige ein Piktogramm, das die Applikation repräsentiert, durch Bilderkennung ausgewertet wird, dahingehend zu verbessern, dass dieses robust gegenüber unterschiedlichen Auflösungen der Graphikkarte und gegenüber Variationen der Bildpunktwerte in dem wiedergegebenen Bild ist und für einen Benutzer einfacher zu handhaben ist (siehe Schreiben des Beschwerdegegners vom 13. September 2022, Punkt 1.4).
4.2 Nach den Ausführungen des Beschwerdegegners sei es zwar richtig, dass das Patent in Absatz [0016] anerkenne, dass eine konturabhängige Mustererkennung grundsätzlich bekannt war. Allerdings habe die Fachperson, die im vorliegenden Fall die objektive technische Aufgabe zu lösen habe, keine speziellen Kenntnisse über Bildverarbeitungsalgorithmen, sondern einen allgemeinen Informatikhintergrund mit Kenntnissen zu Verfahren zum Prüfen von Software und insbesondere zur Ermittlung von Leistungsdaten einer gegebenen Software.
4.3 Es habe laut Beschwerdegegner (siehe dessen Schreiben vom 13. September 2022, Punkt 1.5) für die Fachperson keinen Anlass gegeben, von dem grundsätzlich gewählten Ansatz, ein Piktogramm nach einer Anordnung von Bildpunkten mit vorbestimmten Farbwerten zu detektieren, abzugehen. Die Fachperson hätte also das aus Absatz [0007] des Patents bekannte Verfahren modifiziert, statt zu einem grundsätzlich anderen Bildverarbeitungsverfahren zu wechseln. Naheliegende Modifikationen umfassten etwa Anpassungen der Auflösung oder eine gerätespezifische Kalibrierung der Bilderkennung. Die Fachperson konnte auch nicht absehen, dass sich durch eine Transformation des zu analysierenden Bildes in eine Kantendarstellung die Qualität der Bilderkennung verbessern würde, da bei einer Kantendarstellung die Information, die für einen Bildvergleich zur Verfügung steht, reduziert wird, weil sie auf die Geometrie der Kanten beschränkt ist. Dadurch werde gerade die Farbinformation weggelassen, die aber die Fachperson jedenfalls in dem im Patent beschriebenen Stand der Technik als wesentlich erachtet habe. Damit fehle es an einer Anregung im Stand der Technik, die die Fachperson veranlasst hätte, die beanspruchte Lösung überhaupt in Betracht zu ziehen.
4.4 Der Beschwerdegegner trug vor, dass selbst unter der Annahme, dass die Merkmale 4.4, 4.5 und 5.2 aus dem Dokument D6 bekannt seien, die Fachperson auch aus D6 keinerlei Anregung erhalten habe, die bitmapbasierte Mustererkennung durch eine konturabhängige Mustererkennung zu ersetzen (siehe die Antwort auf die Beschwerdebegründung, Seite 9, letzte 2 Absätze). Die besondere erfinderische Leistung des Patentinhabers bestehe darin, die Eignung der vorbekannten konturabhängigen Mustererkennung zur Überwachung von Applikationen, insbesondere zum Zwecke einer farb- und auflösungsunabhängigen Überwachung von Programmen, als Erster erkannt und umgesetzt zu haben (siehe die Antwort auf die Beschwerdebegründung, Seite 10, vorletzter Absatz).
Das Dokument D6 betreffe die Klassifizierung und Suche von Bildern in großen Bilddatenbanken auf der Grundlage eines strukturellen Index (D6, Spalte 1, Zeilen 18 bis 20, 30 bis 43 und 63 bis 65). D6 ziele daher nicht auf eine Bilderkennung wie beansprucht ab, sondern auf eine Vorauswahl von ähnlichen Bildern im Rahmen einer Bildsuche. Auch beschäftige sich D6 mit Problemen, die sich bei der kantenbasierten Bildsuche durch Rauschen bzw. Deformation von Bilddaten ergeben. Die Fachperson hätte daher das Dokument D6 für die Erkennung eines Piktogramms gar nicht berücksichtigt (siehe das Schreiben vom 13. September 2022, Punkt 1.6).
4.5 Nach Ansicht des Beschwerdegegners sei daher das Verfahren nach Anspruch 1 für die Fachperson ausgehend vom im Patent beschriebenen Stand der Technik in Verbindung mit den weiteren vorliegenden Dokumenten nicht naheliegend gewesen.
5. Die Absätze [0004], [0006] und [0007], erster Satz, des Patents lauten wie folgt:
"[0004] Zur Überwachung der Servicequalität in Rechnersystemen (IT-Systemen) ist bekannt, Applikationen oder Anwendungen in Form von Computerprogrammen, auf welchen die entsprechenden Services basieren, definiert zu starten und dann diejenige Zeit zu ermitteln, die vergeht, bis die jeweilige Applikation einen bestimmten Zustand erreicht hat, beispielsweise durch Tätigen von Eingaben, Befehlen oder dergleichen."
"[0006] Um dabei die für einen Benutzer tatsächlich wahrnehmbare Servicequalität zu bestimmen, erfolgt das Starten der betreffenden Applikationen regelmäßig durch eine simulierte Mauseingabe auf/in einer Anzeigeeinheit eines betreffenden Rechners, das heißt auf dem Bildschirm bzw. direkt in der entsprechenden Grafikkarte. Dazu ist es erforderlich, die betreffenden Applikationen grafisch zu identifizieren, was anhand von so genannten Icons oder Piktogrammen geschieht, welche den Applikationen regelmäßig zugeordnet sind.
[0007] Nach dem Stand der Technik wird dazu auf eine Art der Bilderkennung zurückgegriffen, welche die betreffenden Piktogramme durch Suchen nach einer Anordnung von Bildpunkten oder Pixeln mit vorbestimmten Farbwerten, insbesondere RGB-Werten, detektiert."
6. Es bestand zwischen den Parteien Einvernehmen, dass die oben zitierten Passagen des Patents (im Folgenden als der im Patent beschriebene Stand der Technik bezeichnet) als eine Beschreibung von relevantem Stand der Technik anzusehen sind und dass darin zwar die Anspruchsmerkmale 0.0 bis 2.0 sowie 4.1 bis 4.3 offenbart sind, die Anspruchsmerkmale 4.4, 4.5 und 5.2 jedoch nicht. Die Parteien hatten lediglich zur Frage der Neuheit der Anspruchsmerkmale 3.0, 5.1 und 5.3 unterschiedliche Ansichten. Da die Kammer hinsichtlich der unstrittigen Merkmale den Parteien zustimmt, reicht es die hinsichtlich der Neuheit strittigen Merkmale 3.0, 5.1 und 5.3 zu betrachten.
6.1 Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin zu, dass der im Patent beschriebene Stand der Technik auch das Anspruchsmerkmal 3.0 offenbart, weil laut Absatz [0006] das Starten der betreffenden Applikationen regelmäßig durch eine simulierte Mauseingabe erfolgt und somit durch einen Software-Roboter, der entsprechende Mauseingaben des Benutzers simuliert. Für die Fachperson ist implizit offenbart, dass auch die Messung der Zeit "automatisierbar" durch einen Software-Roboter erfolgt, da im Kontext des Anspruchs 1 eine Zeitmessung durch einen Benutzer keine brauchbare Zeitmessung ergeben würde. Entgegen der Ansicht des Beschwerdegegners bezieht sich das "Tätigen von Eingaben, Befehlen oder dergleichen" im oben zitierten Absatz [0004] des Patents nicht auf Eingaben zur Zeitmessung oder zum Starten der Applikation, sondern auf eventuell notwendige (zu simulierende) Eingaben zum Erreichen eines bestimmten Applikationszustands.
6.2 Die Kammer stimmt dem Beschwerdegegner zu, dass die Merkmale 5.1 sowie 5.3 nicht in dem im Patent beschriebenen Stand der Technik offenbart sind, da sich
dort keine Offenbarung zu einem Piktogramm findet, das einem bestimmten, zu erreichenden Applikationszustand zugeordnet ist.
7. Gemäß den Absätzen [0006] und [0007] des Patents, ergaben sich bei Anwendung des im Patent beschriebenen Stands der Technik Probleme durch Änderungen von für die Bilderkennung verwendeten Bildwerten, da diese Werte beispielsweise von der Rechnerplattform, der verwendeten Grafikkarte und dem Treiber abhingen. Nach Ansicht der Beschwerdekammer mussten diese Probleme regelmäßig bei einer Verwendung des im Patent beschriebenen Stands der Technik auftreten, da verschiedene Rechnerplattformen mit verschiedenen Grafikkarten, Treibern und Betriebssystemen üblich waren. Das Erkennen der genannten Probleme ist keineswegs selbst als erfinderisch anzusehen, sondern bildete Teil der Routinetätigkeit einer mit dem Beheben von Fehlern befassten Fachperson. Die Kammer weist darauf hin, dass auch der Beschwerdegegner dem zuzustimmen scheint, da er die Aufgabe formuliert (siehe oben, Punkt 4.1), das bekannte Verfahren sei so zu verbessern, dass es robust gegenüber unterschiedlichen Auflösungen der Graphikkarte und gegenüber Variationen der Bildpunktwerte in dem wiedergegebenen Bild ist.
7.1 Die Fachperson war mit der Zeitmessung bei der Ausführung von Applikationen zur Bestimmung bzw. Überwachung einer Servicequalität vertraut, da dies dem Ausgangspunkt gemäß dem im Patent beschriebenen Stand der Technik entspricht.
7.2 Die Kammer stimmt der Beschwerdeführerin zu, dass die Fachperson im vorliegenden Fall auch Kenntnisse der Bildverarbeitung besaß oder zumindest eine Fachperson mit entsprechenden Kenntnissen hingezogen hätte. Schon der im Patent beschriebene Stand der Technik beschreibt die Verwendung einer Art der Bilderkennung zur Identifizierung eines Piktogramms und der Fachmann würde routinemäßig etwaige Fehler durch Abweichungen von Pixelwerten bei der Identifizierung eines Piktogramms als Problem einer mangelhaften Bilderkennung erkennen. Folglich war der Fachperson die konturabhängige Mustererkennung mit Umwandlung in eine Kontur- oder Kantenbilddarstellung als eine Art der Bilderkennung aus ihrem allgemeinen Fachwissen wohlbekannt (siehe auch z.B. Absatz [0016] des Patents, Unterstreichung durch die Kammer: "Die genannte konturabhängige Mustererkennung ist auch als "Pattern Matching" bekannt [...]").
7.3 Die Unterschiede zum im Patent beschriebenen Stand der Technik, d.h. die Merkmale 4.4, 4.5 sowie 5.1 bis 5.3 des Anspruchs 1, haben die Wirkungen (1) die Erkennung eines Piktogramms bei abweichenden Farbwerten von Pixeln zu verbessern (vgl. die Merkmale 4.4, 4.5 und 5.2) und (2) die Zeitmessung bei Erreichen eines bestimmten Applikationszustands zu stoppen (vgl. die Merkmale 5.1 und 5.3).
7.4 Der Fachperson stellten sich somit ausgehend von den Unterschieden zum im Patent beschriebenen Stand der Technik (also den Merkmalen 4.4, 4.5 sowie 5.1 bis 5.3) die folgenden, voneinander unabhängig zu lösenden Aufgaben: Erstens, Fehler bei der Bilderkennung eines Piktogramms zum Starten der Applikation zu beheben und zweitens, einen Applikationszustand zum Beenden der Zeitmessung zu definieren und zu erkennen.
7.5 Sobald die Fachperson im Rahmen ihrer Routinetätigkeit erkennt, dass ein Fehler bei der Bilderkennung vorliegt, wird sie routinemäßig Alternativen zur fehleranfälligen pixelbasierten Bilderkennung in Betracht ziehen. Zu diesen Alternativen gehört die an sich bekannte, konturabhängige Mustererkennung. Der Auswahl dieser Alternative steht keineswegs entgegen, dass die Fachperson vielleicht auch versuchen würde, die schon verwendete farbabhängige Bildpunktsuche zu verbessern, wie vom Beschwerdegegner behauptet. Allerdings scheint es eher unwahrscheinlich, dass die Fachperson an einem farbabhängigen Mustererkennungsverfahren festhalten würde, wenn sie erkennt, dass gerade die Farbwerte der Pixel in der Praxis Abweichungen unterliegen. Diese Erkenntnis legt es der Fachperson vielmehr nahe, eine farbunabhängigere Mustererkennung wie zum Beispiel eine konturbasierte Mustererkennung auszuprobieren.
7.6 Die Offensichtlichkeit der Lösung folgt auch unter Berücksichtigung des Dokuments D6, da in den von der Beschwerdeführerin genannten Fundstellen eine konturabhängige Mustererkennung mit Hilfe einer Umwandlung eines Bildes in eine Kontur- oder Kantenbilddarstellung offenbart wird. Die Fachperson würde bei der Suche nach Alternativen zur Bilderkennung Dokument D6 berücksichtigen, weil darin eine konturabhängige Mustererkennung für einen Bildvergleich offenbart ist. Dass die Mustererkennung in D6 im Rahmen einer Bildsuche in einer Datenbank erfolgt, würde den Fachmann keineswegs davon abhalten Dokument D6 zu berücksichtigen, da die Fachperson auch Anwendungen von Bilderkennungsverfahren bei ihrer Suche berücksichtigen würde. Daher sind die Merkmale 4.4 und 4.5 als offensichtliche Maßnahmen der Fachperson zu beurteilen.
7.7 Was die Definition eines Applikationszustands zum Beenden der Zeitmessung und die automatische Erkennung dieses Zustands betrifft, stimmt die Beschwerdekammer der Beschwerdeführerin zu, dass es eine von mehreren Möglichkeiten war, hierfür ein dem Applikationszustand zugeordnetes Piktogramm zu erkennen. Beispielsweise konnte ein Piktogramm in einem nach dem Starten der Applikation auf dem Bildschirm erscheinenden Fenster enthalten sein.
Da es die Funktionsweise eines Software-Roboters ist, Interaktionen eines menschlichen Benutzers mit einem Rechner zu simulieren (siehe hierzu Absatz [0006] des Patents: "durch eine simulierte Mauseingabe auf/in einer Anzeige eines betreffenden Rechners") wird mit dem Erkennen eines Applikationszustands anhand eines Piktogramms nur ein Erkennen dieses Zustands durch den Benutzer anhand eines angezeigten Piktogramms simuliert, was eine von mehreren naheliegenden Möglichkeiten war (je nachdem welcher Zustand mit welcher Ausgabe auf der Anzeigeeinheit für ein gestartetes Programm zu erkennen war). Da das Erkennen eines Piktogramms bereits aus dem im Patent beschriebenen Stand der Technik zum Starten der Applikation bekannt war, kann das Beenden der Zeitmessung bei Erkennen eines weiteren Piktogramms keine erfinderische Tätigkeit beinhalten, sondern fällt ebenfalls in den Bereich der routinemäßigen Anwendung bekannten Wissens mit der erwartbaren Wirkung. Somit sind die Merkmale 5.1 bis 5.3 offensichtlich. Da die Lösung der zweiten Aufgabe nach Ansicht der Beschwerdekammer naheliegend war, kann es dahingestellt bleiben, ob diese Lösung überhaupt einen technischen Beitrag leistet.
7.8 Folglich beruht das Verfahren nach Anspruch 1 des Hauptantrags nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).
Hilfsantrag
8. Die Änderungen an Anspruch 1 im Hilfsantrag gegenüber der erteilten Fassung fügen im Wesentlichen die Merkmale des abhängigen Anspruchs 4 zu Anspruch 1 hinzu.
9. Zulässigkeit
9.1 Der Hilfsantrag des Beschwerdegegners wurde zwar bereits im Einspruchsverfahren eingereicht, allerdings wurde dieser Hilfsantrag mit der Beschwerdeerwiderung nicht hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit begründet. Auf Seite 12 der Erwiderung des Beschwerdegegners auf die Beschwerdebegründung findet sich lediglich folgender Absatz zum Hilfsantrag (der auf Seite 1 der Erwiderung gestellt wurde):
"Die hilfsweise beantragte Aufrechterhaltung des Europäische Patents in beschränkter Fassung gemäß Hilfsantrag vom 20. Juni 2013 und die höchst hilfsweise beantragte mündliche Verhandlung gemäß Artikel 116 EPÜ, dürfen an dieser Stelle wiederholt werden".
9.2 Die Beschwerdekammer wies in ihrem Bescheid darauf hin, dass der Antrag des Beschwerdegegners, das Streitpatent auf der Grundlage des im erstinstanzlichen Verfahren am 20. Juni 2013 eingereichten Hilfsantrags aufrechtzuerhalten, die Erfordernisse nach Artikel 12 (3) VOBK 2020 (ausdrückliche Angabe aller Argumente der am Beschwerdeverfahren Beteiligten) nicht zu erfüllen scheine und daher unzulässig sei.
9.3 Die Beschwerdeführerin trug in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer vor, dass der Hilfsantrag im Beschwerdeverfahren unzulässig sei. Da es keine Begründung hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit für den Hilfsantrag in der Erwiderung auf die Beschwerdebegründung gebe, sei der Hilfsantrag nicht substantiiert gewesen und gelte damit als verspätet eingereicht.
Die Entscheidung über die Zulässigkeit des Hilfsantrags sei unabhängig von der Entscheidung über den Hauptantrag zu treffen. Die Einsprechende habe auch schon in der Beschwerdebegründung auf den im Patent beschriebenen Stand der Technik abgehoben, so dass die Argumentationslinie basierend auf dem im Patent beschriebenen Stand der Technik nicht neu von der Beschwerdekammer eingeführt worden sei. Eine Zulassung des Hilfsantrags verstoße außerdem gegen das Erfordernis der Verfahrensökonomie und erfülle nicht die von der Verfahrensordnung aufgestellten Kriterien für eine Zulassung, da die bestehenden Einwände ausgeräumt werden müssten.
9.4 Der Beschwerdegegner wandte ein, dass eine Begründung für die erfinderische Tätigkeit des im Hilfsantrag beanspruchten Gegenstands schon implizit gegeben sei, da die Argumente für den Hauptantrag auch auf den Hilfsantrag anwendbar seien. Solche impliziten Begründungen seien nach der laufenden Rechtsprechung der Beschwerdekammern zulässig. Es fehlte höchstens ein expliziter Hinweis, dass die für die erfinderische Tätigkeit des Hauptantrags angeführten Argumente auch für den Hilfsantrag zutreffend seien. Jedoch sei es ausreichend, wenn für alle Beteiligten aus ihrem gesamten Vorbringen klar ersichtlich sei, worauf sich eine Partei im Beschwerdeverfahren stütze. Es sei in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass die Einsprechende in der Beschwerde zwar den vollständigen Widerruf des Streitpatents beantrage, aber keinerlei Gründe dafür angegeben habe, warum das Patent auch im Umfang der Unteransprüche zu widerrufen sei.
Artikel 12 (5) VOBK 2020 sei wegen der Übergangsbestimmungen gemäß Artikel 25 (2) VOBK nicht anwendbar. Folglich sei die Nichterfüllung des Artikels 12 (3) VOBK 2020 kein hinreichender Grund, das Vorbringen eines Beteiligten nicht zuzulassen. Daher habe die Beschwerdekammer Ermessen bei der Zulässigkeit unter Artikel 12 (3) der VOBK 2020.
Außerdem habe die Kammer im Rahmen ihres Ermessens in ihrem Bescheid eine neue Argumentationslinie gegen die erfinderische Tätigkeit ausgehend von dem im Patent beschriebenen Stand der Technik eingeführt. Diese Argumentationslinie sei zumindest für den Beschwerdegegner nicht aus der Beschwerdebegründung erkennbar gewesen. Somit sei dem Beschwerdegegner eine Verteidigungsmöglichkeit unter Artikel 13 (2) VOBK 2020 einzuräumen. Selbst wenn die Kammer den Hilfsantrag als verspätet ansehen sollte, wäre dieser Antrag demnach unter Artikel 13 (2) VOBK 2020 zuzulassen, weil durch die Einführung der neuen Argumentationslinien außergewöhnliche Umstände gegeben seien. Die Zulässigkeit von Anträgen könne sich im Beschwerdeverfahren ändern und müsse nur bei der mündlichen Verhandlung gegeben sein.
9.5 Artikel 12 (3) VOBK 2020 verlangt, dass die Beschwerdebegründung und die Erwiderung das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten müssen. Dementsprechend müssen sie deutlich und knapp angeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung aufzuheben, abzuändern oder zu bestätigen und sollen ausdrücklich alle geltend gemachten Anträge, Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel im Einzelnen anführen.
9.6 Die Beschwerdekammer stellt zunächst fest, dass eine Substantiierung der erfinderischen Tätigkeit des Hilfsantrags sich nicht schon implizit daraus ergibt, dass der Hilfsantrag alle Merkmale des Hauptantrags umfasst. Selbst ein expliziter Verweis auf die Argumente zum Hauptantrag wäre jedoch noch keine ausreichende Substantiierung des Hilfsantrags zur erfinderischen Tätigkeit gewesen. Für den Hilfsantrag war zu substantiieren, warum die Änderung in Anspruch 1 des Hilfsantrags (siehe Punkt 8. oben) die im Beschwerdeverfahren vorgebrachten Einwände zur erfinderischen Tätigkeit überwindet, d.h. warum die gegenüber dem Hauptantrag vorgetragenen Einwände durch die im Hilfsantrag vorgenommenen Änderungen ausgeräumt werden. Daher war der Hilfsantrag nicht ausreichend begründet und erfüllt die Erfordernisse des Artikels 12 (3) VOBK 2020 (und des entsprechenden Artikels 12 (2) VOBK 2007) nicht. Folglich ist der Hilfsantrag wegen fehlender Substantiierung unter Artikel 12 (3) VOBK 2020 unzulässig.
Da unter dem im vorliegenden Fall auf die Beschwerdeerwiderung anzuwendenden Artikel 12 (4) VOBK 2007 zwar das gesamte Vorbringen in der Erwiderung berücksichtigt wird, aber nur wenn und soweit es die Erfordernisse des Artikels 12 (2) VOBK 2007 (bzw. des Artikels 12 (3) VOBK 2020) erfüllt, reicht die Nichterfüllung der Erfordernisse von Artikel 12 (3) VOBK 2020 schon für sich genommen aus, um einen unbegründeten Antrag nicht zuzulassen.
Der Umstand, dass die Einsprechende in der Beschwerdebegründung zwar den vollständigen Widerruf des Streitpatents beantragte, aber keinerlei Gründe dafür angab, warum das Patent auch im Umfang der Unteransprüche zu widerrufen sei, ändert nichts an der Begründungspflicht des Beschwerdegegners für seinen Hilfsantrag.
9.7 Die Beschwerdekammer schließt sich der Auffassung der Beschwerdeführerin an, dass die Argumentationslinie gegen die erfinderische Tätigkeit, die von dem im Patent beschriebenen Stand der Technik ausgehe, nicht erstmals von der Beschwerdekammer in das Beschwerdeverfahren eingeführt wurde. Hierzu verwies die Beschwerdekammer in der mündlichen Verhandlung auch auf den Abschnitt II.4 der Beschwerdebegründung. Dort argumentierte die Beschwerdeführerin:
"Im Unterschied zu dem vorstehend diskutierten Stand der Technik, weist der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 den Unterschied auf, dass die Mustererkennung konturabhängig ist und zum Zwecke der Mustererkennung das erste Piktogramm zunächst in eine Kontur- oder Kantenbilddarstellung umgewandelt wird, unter dessen Verwendung anschließend die Mustererkennung durchgeführt wird.
Die Aufgabe stimmt mit der Aufgabe überein, die die Inhaberin beim Abfassen der dem Streitpatent zugrundeliegenden Anmeldung gegenüber dem selbst erkannten Stand der Technik selbst gesehen hat.
Die objektive technische Aufgabe, die sich aus dem Unterschied zum Stand der Technik ergibt, ist eine Verbesserung der Mustererkennung, um die
Identifizierung des ersten Piktogramms bzw. die Identifizierung des zweiten Piktogramms zuverlässiger auszugestalten."
Folglich war es aus der Beschwerdebegründung erkennbar, dass die später in der Beschwerdebegründung folgenden Ausführungen zur mangelnden erfinderischen Tätigkeit sowohl auf den im Patent beschriebenen Stand der Technik als auch auf die von der Beschwerdeführerin behauptete offenkundige Vorbenutzung bezogen waren. Diese Schlussfolgerung wird auch durch die Beschwerdebegründung, Abschnitt II.1 c) gestützt, wo die Beschwerdeführerin ausführt:
"Wenig überraschend entspricht das offenkundig vorbenutzte Verfahren genau dem Stand der Technik, der auch der Patentinhaberin zum Zeitpunkt des Verfassens der dem Patent zugrunde liegenden Anmeldung bekannt war."
Das Argument des Beschwerdegegners, dass die Beschwerdebegründung mit der Formulierung "Stand der Technik" lediglich die offenkundige Vorbenutzung D5 meine und den Angriff auf die erfinderische Tätigkeit ausschließlich auf D5 als nächstliegenden Stand der Technik stütze, kann die Beschwerdekammer daher nicht überzeugen. Vielmehr hätte der Beschwerdegegner auch die Argumentationslinie ausgehend von dem im Patent beschriebenen Stand der Technik erkennen können.
Somit wurde von der Beschwerdekammer keineswegs eine gänzlich neue Argumentationslinie zur erfinderischen Tätigkeit eingeführt, wie von der Beschwerdeführerin behauptet.
9.8 Es ist richtig, dass der Beschwerdegegner in seiner Antwort auf die Mitteilung der Kammer (siehe oben Punkt V.) eine Begründung zur erfinderischen Tätigkeit des Hilfsantrags vorgebracht hat, was als Änderung des Beschwerdevorbringens des Beschwerdegegners anzusehen ist. Diese Änderung kann jedoch nicht mit außergewöhnlichen Umständen wegen eines erstmals erhobenen Einwands zugelassen werden, wie seitens des Beschwerdegegners vorgebracht, weil kein neuer Einwand erhoben wurde. Folglich stehen auch die Erfordernisse des Artikels 13 (2) VOBK 2020 der Zulassung des verspätet substantiierten Hilfsantrags entgegen.
9.9 Folglich ist der Hilfsantrag unzulässig (Artikel 12 (3) und 13 (2) VOBK 2020).
10. Da das Patent gemäß Hauptantrag nicht aufrechterhalten werden kann und der Hilfsantrag unzulässig ist, ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Das Patent wird widerrufen.