BESCHWERDEKAMMERN
Zwischenentscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.2.01 vom 24. Juni 2024 - T 439/22
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | G. Pricolo |
Mitglieder: | V. Vinci |
Beschwerdegegnerin/Patentinhaberin:
Philip Morris Products S.A.
Beschwerdeführerin/Einsprechende:
Yunnan Tobacco International Co., Ltd.
Stichwort:
Zusammengefasstes Flächengebilde
Relevante Rechtsnormen:
Art. 52 (1), 54, 56, 69 (1), 112 (1) a) EPÜ
Schlagwort:
Befassung der Großen Beschwerdekammer
Anspruchsauslegung
Orientierungssatz:
Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung [siehe Nr. 3 der Entscheidungsgründe] und weil sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt [siehe Nr. 4 der Entscheidungsgründe], werden der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfragen vorgelegt:
1. Sind Artikel 69 (1) Satz 2 EPÜ und Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ auf die Auslegung von Patentansprüchen anzuwenden, wenn die Patentierbarkeit einer Erfindung nach Artikel 52 bis 57 EPÜ beurteilt wird? [Siehe Nrn. 3.2, 4.2 und 6.1 der Entscheidungsgründe.]
2. Dürfen die Beschreibung und die Zeichnungen für die Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit herangezogen werden und falls ja, darf dies generell getan werden oder nur, wenn der Fachmann einen Anspruch bei isolierter Betrachtung für unklar oder mehrdeutig hält? [Siehe Nrn. 3.3, 4.3 und 6.2 der Entscheidungsgründe.]
3. Darf eine Definition oder vergleichbare Information, die zu einem in den Ansprüchen verwendeten Begriff in der Beschreibung ausdrücklich gegeben wird, bei der Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit außer Acht gelassen werden und, falls ja, unter welchen Bedingungen? [Siehe Nrn. 3.4, 4.4 und 6.3 der Entscheidungsgründe.]
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, den Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 3 076 804 zurückzuweisen.
Der unabhängige Anspruch in der ursprünglich erteilten Fassung lautet wie folgt (Markierung der Merkmale entsprechend der angefochtenen Entscheidung):
"a) Erwärmter aerosolerzeugender Artikel zum Gebrauch mit einer elektrisch betriebenen Aerosolerzeugungsvorrichtung, die ein Heizelement aufweist,
b) wobei der aerosolerzeugende Artikel ein aerosolbildendes Substrat aufweist,
c) wobei das aerosolbildende Substrat ein zusammengefasstes Flächengebilde aus aerosolbildendem Material aufweist, das durch eine Umhüllung abgegrenzt ist,
d) die von einem Flächengebilde aus wärmeleitfähigem Material radial umschlossen ist, wobei die Umhüllung das Flächengebilde aus wärmeleitfähigem Material ist, das als eine wärmeleitende Flammensperre zum Verteilen von Wärme agiert und das Risiko eines Benutzers abschwächt, der das aerosolbildende Substrat durch Anwenden einer Flamme an dem aerosolerzeugenden Artikel entzündet."
Die Einspruchsabteilung stellte in ihrer Entscheidung fest, dass der einzige von der Einsprechenden nach Artikel 100 a) EPÜ in Verbindung mit den Artikeln 54 und 56 EPÜ geltend gemachte Einspruchsgrund der Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung nicht entgegenstehe, und wies den Einspruch daher zurück. Sie bejahte die Neuheit und erfinderische Tätigkeit gegenüber folgenden Dokumenten des Stands der Technik:
D1: EP 2 368 449A1
D2: WO 2011 117750 A
D3: WO 2012 164009 A
D4: WO 2013 098405 A
Strittig war in der Neuheitsbeurteilung der Einspruchsabteilung allein die Frage, ob ein aerosolbildendes Substrat, das laut Merkmal c) des erteilten Anspruchs 1 ein "zusammengefasstes Flächengebilde" umfasst, unmittelbar und eindeutig aus den Dokumenten D1 und D2 herleitbar war, in denen unstreitbar alle übrigen Merkmale des unabhängigen Anspruchs offenbart waren. Ausschlaggebend für die Feststellung, dass der Erfindungsgegenstand in der ursprünglich erteilten Fassung gegenüber der Offenbarung dieser Dokumente des Stands der Technik neu war, war die Auffassung der Einspruchsabteilung, dass der Begriff "zusammengefasstes Flächengebilde" eine eindeutige und anerkannte Bedeutung habe, die in der Tabakindustrie weit verbreitet sei. Der Begriff bedürfe also nicht der Auslegung im Lichte der Beschreibung, die in Absatz [0035] – wie von der Einsprechenden hervorgehoben – eine ausdrückliche und breitere Definition des Begriffs "zusammengefasstes Flächengebilde" im technischen Kontext des Patents gebe, der zufolge der Begriff angeblich eine gerollte/gewickelte Tabakfolie und einen zylindrischen Propfen aus homogenisiertem Tabakmaterial einschließe, wie sie in D1 bzw. D2 offenbart seien.
II. In einer Mitteilung nach Artikel 15 (1) VOBK vom 5. Dezember 2023 unterrichtete die Kammer die Verfahrensbeteiligten, dass der Ausgang des Falls davon abhängen dürfte, ob die Beschreibung auch bei der Auslegung eines Anspruchs zu berücksichtigen sei, der einen mutmaßlich eindeutigen Begriff enthalte. In ihrer Mitteilung identifizierte die Kammer abweichende Rechtsprechungslinien zu dieser Frage (so verwies sie z. B. auf die Schlussfolgerungen in den Entscheidungen T 1473/19 und T 169/20) und befand, dass diese Frage von grundsätzlicher Bedeutung für die Auslegung des EPÜ durch das Europäische Patentamt sowie durch nationale und multinationale Gerichte sei und zur Entscheidung des vorliegenden Falls geklärt werden müsse. Sie erklärte daher ihre Absicht, die Große Beschwerdekammer mit Vorlagefragen zu befassen.
Mit Schreiben vom 18. Dezember 2023 begrüßte die Beschwerdeführerin (Einsprechende) den Vorschlag der Kammer, die Große Beschwerdekammer mit der Rechtsfrage der Anspruchsauslegung zu befassen, und nahm ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurück.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) vertrat in ihrem Schreiben vom 5. Januar 2024 die Auffassung, die in der Mitteilung der Kammer aufgeführten Fälle stellten keine so klare Abweichung in der Rechtsprechung der einzelnen Beschwerdekammern dar, dass eine Befassung der Großen Beschwerdekammer erforderlich oder zur Behandlung des vorliegenden Falls notwendig sei, und erhielt ihren Antrag auf mündliche Verhandlung aufrecht.
Am 10. April 2024 fand die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt.
III. Die Beschwerdeführerin (Einsprechende) beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und den Widerruf des Patents.
Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
IV. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin (Einsprechenden) lässt sich, soweit es für die vorliegende Entscheidung relevant ist, wie folgt zusammenfassen:
In der mündlichen Verhandlung räumte die Beschwerdeführerin ein, dass, obwohl der Begriff "zusammengefasstes Flächengebilde" – entgegen der von der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung vertretenen Auffassung – keine eindeutige und anerkannte Bedeutung habe, ein Fachmann, der den Anspruch für sich genommen und getrennt von der Beschreibung des Streitpatents liest, trotzdem davon ausgehen würde, dass ein "zusammengefasstes Flächengebilde" Falten aufweise. Eine gleichmäßig gewickelte Folie, wie sie in D1 dargestellt sei, würde also nicht darunter fallen. Die Beschreibung des Patents liefere jedoch in Absatz [0035] eine Definition dessen, was im Patent unter einem "zusammengefassten [Tabak-]Flächengebilde" zu verstehen sei, nämlich ein Flächengebilde aus Tabakmaterial, das "verzwirbelt, gefaltet oder auf andere Weise im Wesentlichen quer zur zylindrischen Achse des Stabs komprimiert oder verdichtet ist". Diese Definition ergebe technisch gesehen Sinn und stehe nicht im Widerspruch zu auf dem technischen Gebiet etablierten Bedeutungen. Sie schließe eindeutig die gewickelte Tabakfolie aus D1 ein. Folglich sei das Dokument D1 neuheitsschädlich für Anspruch 1 in der erteilten Fassung.
Gemäß Artikel 69 EPÜ und dem Protokoll über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ seien die Beschreibung und somit insbesondere der Absatz [0035] bei der Auslegung der Ansprüche zu berücksichtigen.
Dies stehe in Einklang mit einer Rechtsprechungslinie (siehe z. B. T 1473/19, T 620/08, T 367/20 oder T 1671/09) ebenso wie mit dem Ansatz, wie er üblicherweise von mehreren nationalen Patentämtern verfolgt werde, so auch jüngst vom Einheitlichen Patentgericht in seiner Entscheidung 335/2023.
Nach dem – von der Einspruchsabteilung bei ihrer Entscheidung offensichtlich angewandten – Ansatz des Vorrangs der Ansprüche (siehe T 169/20) hingegen beschränke sich die Heranziehung der Beschreibung für die Auslegung der Ansprüche auf Ausnahmefälle, in denen der Anspruchsgegenstand geklärt werden müsse. Sei umgekehrt die Bedeutung eines Anspruchs klar für den Fachmann, so sehe diese Rechtsprechungslinie die stützende Rolle der Beschreibung weder als notwendig noch als gerechtfertigt an.
Könne kein Neuheitsmangel gegenüber D1 festgestellt werden, sei eine Befassung der Großen Beschwerdekammer zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung in Bezug auf die Anspruchsauslegung angebracht.
V. Die Erwiderung der Beschwerdegegnerin auf diese Vorbringen lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Wie von der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung betont, habe der Begriff "zusammengefasstes Flächengebilde" in der Tabakindustrie eine eindeutige und weithin anerkannte Bedeutung, nämlich die eines Flächengebildes, das "gefaltet und verzwirbelt ist, um einen dreidimensionalen Raum auszufüllen". Folglich müsse zur Auslegung dieses Begriffs nicht die Beschreibung herangezogen werden. In jedem Fall – selbst wenn Absatz [0035] der Beschreibung zu berücksichtigen sei – könne die durch Aufwickeln hergestellte gerollte Tabakfolie aus D1 trotzdem nicht als "verzwirbelt" oder "auf andere Weise im Wesentlichen in Querrichtung komprimiert oder verdichtet" angesehen werden, da sie hohl sei, eine definierte geometrische Form habe und als solche keiner Komprimierung oder Verdichtung bedürfe, um ihre Form zu wahren. Außerdem sei eine gerollte Folie gemäß D1 für die im Patent im Zusammenhang mit Abbildung 1 beschriebene Ausführungsform auszuschließen. Ein aerosolerzeugendes Substrat, das als zylindrisch gerollte Folie hergestellt werde, würde zudem nicht die dem Streitpatent zugrunde liegende technische Aufgabe lösen. Überdies ließe sich, wenn ein gerolltes aerosolerzeugendes Substrat in dem erfindungsgemäßen erwärmten aerosolerzeugenden Artikel verwendet werde, letzterer nicht ohne Weiteres von einer herkömmlichen Zigarette unterscheiden, was die Gefahr berge, dass der Nutzer irrtümlich das aerosolbildende Substrat anzünden könnte.
Unter den Beschwerdekammern herrsche Konsens über den Grundsatz des "Vorrangs der Ansprüche", der übereinstimmend zur Bestimmung des tatsächlich durch die Ansprüche gewährten Schutzumfangs angewandt werde. T 169/20 (Nr. 1.4 der Entscheidungsgründe), T 1924/20 (Nr. 2.7 der Entscheidungsgründe) und T 111/22 (Nrn. 1.8 und 1.9 der Entscheidungsgründe) unterstützten einhellig die Auffassung, dass die Ansprüche für sich genommen auszulegen seien, zumindest wenn ein in den Ansprüchen verwendeter Begriff eine allgemein anerkannte Bedeutung habe. In T 1473/19 habe die dortige Kammer erklärt, dass "[d]er Vorrang der Ansprüche […] daher auch ein[schränkt], wie weit die Beschreibung als Wörterbuch für die in den Ansprüchen verwendeten Begriffe dienen kann" (Nr. 3.16.2 der Entscheidungsgründe), und somit den Vorrang des Wortlauts der Ansprüche unterstrichen, wenn die fragliche Passage – wie im vorliegenden Fall – für den fachkundigen Leser klar und eindeutig sei. In T 1671/09 (Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe) sei der Rückgriff auf die Beschreibung für legitim erachtet worden, allerdings nur, um einen im Anspruch verwendeten Begriff, nämlich "Punkte", besser zu verstehen, der als solcher nicht besonders präzise und eindeutig sei. De facto gebe es bei der Auslegung eines in einem Anspruch enthaltenen klaren und eindeutigen Begriffs keine klar voneinander abweichenden Rechtsprechungslinien.
Daher sei eine Befassung der Großen Beschwerdekammer nicht gerechtfertigt.
Entscheidungsgründe
Neuheit gegenüber D1
1. In ihrer Beschwerde hat die Beschwerdeführerin die Schlussfolgerung der Einspruchsabteilung angefochten, dass Anspruch 1 in der ursprünglich erteilten Fassung neu gegenüber dem Dokument D1 sei.
1.1 Die Beteiligten stimmten darin überein, dass D1 einen erwärmten aerosolerzeugenden Artikel (siehe Absätze [0005] und [0014]) zum Gebrauch mit einer elektrisch betriebenen Aerosolerzeugungsvorrichtung offenbart, die ein Heizelement (siehe Absätze [0006] und [0013]) aufweist, wobei der aerosolerzeugende Artikel ein aerosolbildendes Substrat (die Tabakfolie 21, siehe Absatz [0022]) und das aerosolbildende Substrat ein zusammengefasstes Flächengebilde (die Tabakfolie 21) aus aerosolbildendem Material (Tabak) aufweist, das durch eine Umhüllung (22, siehe Absätze [0007] und [0014]) abgegrenzt ist, die von einem Flächengebilde aus wärmeleitfähigem Material radial umschlossen ist, wobei die Umhüllung das Flächengebilde aus wärmeleitfähigem Material ist, das als wärmeleitende Flammensperre zum Verteilen von Wärme agiert und das Risiko mindert, dass ein Benutzer durch Anwenden einer Flamme an dem aerosolerzeugenden Artikel das aerosolbildende Substrat entzündet (siehe Absatz [0015]).
D1 offenbart, wie auch aus Abbildung 1 ersichtlich, einen aerosolerzeugenden Artikel in Form einer Rolle 20, die durch die Innenfläche eines Heizelements gleichmäßig erhitzt werden soll, das die Form eines hohlen Zylinders hat (siehe Absatz [0020]). Nach der Lehre von D1 umfasst die Rolle 20 eine Tabakfolie 21; diese "kann in einer oder mehreren Schichten gewickelt sein. In diesem Fall kann nur die Tabakfolie 21 spiralförmig gewickelt sein, oder es kann ein Laminat aus der Tabakfolie 21 und Aluminiumfolie spiralförmig gewickelt sein" (siehe Absatz [0018]).
Unstrittig ist auch, dass eine spiralförmig gewickelte Tabakfolie 21 wie in D1 nicht als ein "zusammengefasstes Flächengebilde" angesehen würde, wenn dieser Begriff so zu verstehen ist, dass er erfordert, dass das Flächengebilde "gefaltet und verzwirbelt" ist.
Beispielsweise wird in der im Streitpatent offenbarten Ausführungsform (siehe Abs. [0064] und [0065] sowie Abb. 1) eine durchgängige Folie aus Tabak in eine Vorrichtung geführt, wo sie von Faltwalzen erfasst und zu einer durchgängigen gefalteten Folie geformt wird, die mehrere parallel zur Längsachse der Folie durch die Vorrichtung verlaufende, voneinander beabstandete Wulste oder Wellen aufweist, und anschließend in einen sich verjüngenden Trichter geführt wird, der die durchgängige Folie quer zu seiner Längsachse zusammenfasst. Die Tabakfolie nimmt, während sie durch den sich verjüngenden Trichter geführt wird, eine im Wesentlichen zylindrische Konfiguration an. Das dabei entstehende Tabakflächengebilde erhält auf diese Weise Falten und nimmt einen dreidimensionalen Raum ein.
Im Einklang mit der angefochtenen Entscheidung vertritt die Kammer die Auffassung, dass der Fachmann auf dem vorliegenden technischen Gebiet den Begriff "zusammengefasstes Flächengebilde" für sich genommen so verstehen würde, dass es ein längs gefaltetes Flächengebilde ist, das einen dreidimensionalen Raum einnimmt.
Wenn also dem Begriff "zusammengefasstes Flächengebilde" diese übliche Bedeutung zugewiesen wird, muss der Gegenstand von Anspruch 1 in Anbetracht des Unterscheidungsmerkmals, wonach das aerosolbildende Substrat ein zusammengefasstes Flächengebilde aus aerosolbildendem Material aufweist, als neu angesehen werden. Unter dieser Annahme wurde die Neuheit von der Beschwerdeführerin auch nicht bestritten.
1.2 Während das vorstehend beschriebene Verfahren in der Tabakindustrie die übliche Vorgehensweise zur Herstellung zusammengefasster Flächengebilde zu sein scheint, könnte es jedoch auch andere Methoden geben, um flache Tabakfolien zusammenzufassen und ihnen die Form eines zylindrischen Stabs zu verleihen.
Die Tatsache, dass offenbar im Patent eine Definition des Begriffs für notwendig erachtet wurde (siehe Abs. [0035] der Beschreibung), ist ein Anhaltspunkt dafür, dass "zusammengefasstes Flächengebilde" zumindest für die Patentinhaberin bei der Abfassung ihrer Anmeldung keine so allgemein anerkannte und feststehende Bedeutung hatte, dass jede Erläuterung hinfällig gewesen wäre.
Die Tatsache, dass "gefalzte/gekreppte Flächengebilde", d. h. Flächengebilde mit mehreren im Wesentlichen parallelen Wulsten oder Wellen (siehe Absatz [0039]), als lediglich eine Form eines "strukturierten Flächengebildes" beschrieben werden (siehe Absatz [0038]), und des Weiteren die Tatsache, dass die Verwendung eines strukturierten Flächengebildes lediglich eine Option bei der Herstellung "zusammengefasster Flächengebilde" ist (siehe Absatz [0037]), sind weitere Anhaltspunkte dafür, dass der letztere Begriff – zumindest für den Verfasser der Patentanmeldung – keine so feststehende Bedeutung hatte, wie von der Beschwerdegegnerin behauptet.
1.3 Wenn also, wie von der Beschwerdeführerin vorgebracht, der Begriff "zusammengefasstes Flächengebilde" in Anspruch 1 nicht für sich genommen gelesen werden kann, sondern im Lichte der Beschreibung auszulegen ist (und insbesondere von deren Absatz [0035]: "So wie er hier verwendet wird, steht der Begriff "zusammengefasst" dafür, dass das Flächengebilde aus Tabakmaterial verzwirbelt, gefaltet oder auf andere Weise im Wesentlichen quer zur zylindrischen Achse des Stabs komprimiert oder verdichtet ist"), dann käme dem Begriff eine breitere Bedeutung zu, die jedoch nach wie vor technisch Sinn macht und nicht im Widerspruch steht zu seiner auf dem Gebiet der Technik üblichen Bedeutung, sondern diese lediglich einschließt.
Die Kammer stimmt mit der Beschwerdeführerin darin überein, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht neu ist, wenn der Begriff "zusammengefasstes Flächengebilde" unter Heranziehung dieser Definition und der oben zitierten nachfolgenden Absätze der Beschreibung gelesen wird. In Absatz [0035] sind mehrere Alternativen aufgezählt. Nach der ersten kann das zusammengefasste Flächengebilde ein zusammengerolltes Flächengebilde sein. Im Oxford English Dictionary, auf das sich die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdebegründung beruft, enthält die Definition des Begriffs "convoluted" (in etwa: "verzwirbelt"), das Wort "coiled" (in etwa: "aufgerollt"). Die in D1 offenbarte spiralförmig gewickelte Tabakfolie (siehe Absatz [0018]) ist ebenfalls um ihre Achse aufgerollt und somit "zusammengerollt" und könnte somit – nach der in der Beschreibung gegebenen expliziten Definition – als ein zusammengefasstes Flächengebilde angesehen werden. Ebenso entspricht die gewickelte Tabakfolie aus D1 der dritten und der vierten in Absatz [0035] des Patents genannten Alternative eines zusammengefassten Flächengebildes, nämlich der eines Flächengebildes, das "auf andere Weise im Wesentlichen quer zur zylindrischen Achse des Stabs komprimiert oder verdichtet ist". Wenn nämlich eine Folie gewickelt wird, um in eine zylindrische Form gebracht zu werden, wird sie auch in irgendeiner Weise komprimiert und definitiv im Wesentlichen quer zur zylindrischen Achse des Stabs verdichtet, und zwar unabhängig davon, ob die endgültige Form des Erzeugnisses hohl ist.
Außerdem gibt es keinen Grund, eine gewickelte Folie auszuschließen, wenn man die in Abbildung 1 dargestellte Ausführungsform des Patents betrachtet, denn die Definition in Absatz [0035] steht nicht im Widerspruch zu der Ausführungsform, bei der das Flächengebilde längs gefalzt und bei der Passage des Trichters zusammenfasst wird, sondern schließt vielmehr diese Ausführungsform ein. Da "gefaltet" jedoch nur eine von vier Alternativen in der Definition ist, kann das Vorhandensein von Falten nicht mehr als obligatorisch angesehen werden.
Ebenso wenig überzeugend ist das Vorbringen der Beschwerdegegnerin, dass ein als zylindrisch gewickeltes Flächengebilde hergestelltes aerosolbildendes Substrat die dem Streitpatent zugrunde liegende technische Aufgabe nicht löse und dass sich der im Streitpatent beschriebene erwärmte aerosolerzeugende Artikel, würde in diesem ein solches Substrat verwendet, nicht ohne Weiteres von einer herkömmlichen Zigarette unterscheiden ließe, was die Gefahr berge, dass der Benutzer irrtümlich das aerosolbildende Substrat anzünden könnte. Es gibt für den Fachmann, wenn er den Anspruch entweder für sich genommen oder unter Heranziehung der Beschreibung und der Zeichnungen liest, keinen offensichtlichen Grund, ein aerosolbildendes Substrat auszuschließen, das durch das Wickeln einer Tabakfolie hergestellt wird, die eine zylindrische, potenziell hohle Form wie in D1 hat. In der Ausführungsform der Abbildung 5 des Patents wird ein Heizelement (das Heizblatt 3100, siehe Absatz [0076]) zum Erwärmen des Substrats von innen wie in D1 bereitgestellt.
1.4 Wird also dem Begriff "zusammengefasstes Flächengebilde" seine auf dem Gebiet der Technik übliche Bedeutung zugewiesen, ist der Gegenstand des Anspruchs 1 neu; wird demselben Begriff jedoch eine breitere, aber technisch nichtsdestotrotz sinnvolle Bedeutung entsprechend der Definition in Absatz [0035] der Beschreibung zugewiesen, so ist der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht neu.
Vorlage an die Große Beschwerdekammer
2. Gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ muss eine Beschwerdekammer, bei der ein Verfahren anhängig ist, zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung oder zur Klärung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung von Amts wegen oder auf Antrag eines Beteiligten die Große Beschwerdekammer befassen, wenn sie hierzu eine Entscheidung der Großen Kammer für erforderlich hält.
Damit eine Vorlage zulässig ist, ist es im Allgemeinen erforderlich, dass die Beantwortung der Vorlagefragen durch die Große Beschwerdekammer für den Ausgang des Falls entscheidend ist. Gemäß J 16/90 (siehe Nr. 1.2 der Entscheidungsgründe) genügt es nicht, dass die vorzulegende Frage von allgemeinem Interesse ist; ihre Beantwortung muss für die Entscheidung des Beschwerdefalls notwendig sein. Die Beschwerdekammer muss daher vor einer Vorlage prüfen, ob sie die Frage nicht unbeantwortet lassen kann, weil die Beschwerde auch aus anderen Gründen zurückzuweisen wäre.
Diese Kammer hat das vor dem Hintergrund geprüft, dass sich die angefochtene Entscheidung mit den Einwänden der mangelnden Neuheit gegenüber D2 und der mangelnden erfinderischen Tätigkeit ausgehend von einem der Dokumente D1, D2, D3 und D4 befasst hat, die beide in der Beschwerde aufrechterhalten wurden. Sie ist jedoch der Auffassung, dass eine sinnvolle Erörterung der Neuheit gegenüber D2, dessen Offenbarung der von D1 entspricht, und der erfinderischen Tätigkeit nicht möglich ist, ohne vorher zu klären, wie der Anspruch und konkret der Begriff "zusammengefasstes Flächengebilde" auszulegen sind.
3. Zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung ist daher eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer erforderlich.
3.1 Zu folgenden Fragen, die alle für den vorliegenden Fall entscheidend sind, gibt es in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern Abweichungen:
- Rechtsgrundlage für die Auslegung von Patentansprüchen;
- ob die Heranziehung der Abbildungen und der Beschreibung für die Auslegung eines Patentanspruchs an die Bedingung geknüpft ist, dass der Wortlaut des Anspruchs für sich genommen als unklar oder mehrdeutig erachtet wird;
- wie weit ein Patent als sein eigenes Wörterbuch dienen kann.
Diese Fragen sind miteinander verknüpft, aber nicht voneinander abhängig, wie nachstehend dargelegt wird.
Alle drei Punkte, in denen es abweichende Rechtsprechung gibt, müssen geklärt werden, damit der vorliegende Fall entschieden werden kann.
3.2 Was die Rechtsgrundlage angeht, so schien in den Anfangsjahren kein Zweifel zu bestehen, dass Artikel 69 EPÜ und das Protokoll über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ nicht nur bei der Beurteilung nach Artikel 123 (3) EPÜ (siehe G 2/88, Nr. 2.5 der Entscheidungsgründe) anzuwenden sind, sondern auch bei der Beurteilung der Patentierbarkeitsvoraussetzungen, wie derjenigen des Artikels 54 EPÜ (siehe G 6/88, Nr. 3 der Entscheidungsgründe; T 16/87, Nr. 6 der Entscheidungsgründe).
3.2.1 Im Laufe der Jahre entwickelte sich jedoch eine starke Rechtsprechungslinie, die G 2/88 so auffasste, dass Artikel 69 EPÜ und Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ innerhalb der Rechtsprechung der Europäischen Patentorganisation ausschließlich im Geltungsbereich des Artikels 123 (3) EPÜ anzuwenden sind, der den Schutzumfang eines Patents regelt, nicht aber im Geltungsbereich der die Erfindung betreffenden Vorschriften, wie der Artikel 54, 56 und 83 EPÜ, oder der das Patent/die Patentanmeldung betreffenden Vorschriften, wie des Artikels 123 (2) EPÜ. Die Tatsache, dass am selben Tag auch G 6/88 erlassen wurde und die Große Beschwerdekammer diese Unterscheidung in keiner der beiden Entscheidungen vornimmt, scheint im Laufe der Jahre in Vergessenheit geraten zu sein.
Von den 100 Entscheidungen, die sich seit 2008 mit der Anspruchsauslegung befasst haben (darunter 19 Beschwerden gegen eine Entscheidung der Prüfungsabteilung und 81 Einspruchsbeschwerden), fällt eine Mehrheit in diese Kategorie, nämlich 52 Entscheidungen (14 betreffend eine Entscheidung im Prüfungsverfahren und 38 betreffend eine Entscheidung im Einspruchsverfahren). Meistens wurde keine alternative Rechtsgrundlage angegeben, sporadisch wird Artikel 84 EPÜ als angemessene Grundlage für die Auslegung genannt (siehe z. B. T 169/20, Nrn. 1.2.5 bis 1.2.7 der Entscheidungsgründe).
3.2.2 Andererseits gab es seit jeher eine andere Rechtsprechungslinie, die vertrat, dass Artikel 69 EPÜ und das zugehörige Protokoll die einzige Grundlage für die Anspruchsauslegung im EPÜ sind und daher für den gesamten Geltungsbereich des EPÜ angewandt werden sollten. Nachdem sich die "Erfindung" im Sinne des Artikels 54 (1) EPÜ, die "Erfindung" im Sinne des Artikels 56 EPÜ und die "Erfindung" im Sinne des Artikels 100 b) EPÜ (und des Artikels 83 EPÜ) alle auf den Anspruchsgegenstand beziehen, muss der Gegenstand eines bestimmten Patentanspruchs in einheitlicher und konsistenter Weise ausgelegt und bestimmt werden (siehe z. B. T 1473/19, Nrn. 3.8 bis 3.15 der Entscheidungsgründe; T 177/22, Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe). In diese Kategorie fallen zwei Beschwerden betreffend eine Entscheidung im Prüfungsverfahren und 24 betreffend eine Entscheidung im Einspruchsverfahren, während in den übrigen 22 Fällen keine Rechtsgrundlage für die Anspruchsauslegung angegeben wurde.
De facto scheint Artikel 69 (1) Satz 2 EPÜ ("Die Beschreibung und die Zeichnungen sind jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen.") die einzige Stelle im EPÜ zu sein, wo die Anspruchsauslegung erwähnt ist. Da die Patentansprüche nicht nur den durch ein erteiltes Patent gewährten Schutzbereich definieren (Artikel 69 (1) Satz 1 EPÜ), sondern auch die Erfindung, auf die – falls sie für patentierbar befunden wird (Artikel 52 ff. EPÜ) – die diese Rechte gewährenden Patente (Artikel 64 EPÜ) erteilt werden, oder gemäß Artikel 84 EPÜ "den Gegenstand […], für den Schutz begehrt wird", entsteht die Notwendigkeit, die beantragten Ansprüche auszulegen, ehe beurteilt werden kann, ob die durch diese Ansprüche definierte Erfindung neu ist oder bereits im Stand der Technik offenbart wurde (Artikel 54 EPÜ) und ob sie auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht oder sich in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt (Artikel 56 EPÜ).
3.2.3 Darauf schien die Große Beschwerdekammer abzustellen, als sie in G 6/88 erklärte (siehe Nrn. 2.4, 2.5 und 3 der Entscheidungsgründe):
"Die Erfordernisse für die Abfassung von Ansprüchen für Erfindungen, die Gegenstand europäischer Patentanmeldungen und Patente sind, und die Patentierbarkeit dieser Erfindungen müssen […] nach EPÜ-Recht entschieden werden. Die Funktion der Ansprüche ist für die praktische Durchführung des europäischen Patentsystems von zentraler Bedeutung.
Artikel 84 EPÜ sieht vor, dass die Patentansprüche einer europäischen Patentanmeldung "den Gegenstand angeben [müssen], für den Schutz begehrt wird." Regel 29 (1) EPÜ [1973, entspricht Regel 43 EPÜ 2000] verlangt ferner, dass "der Gegenstand des Schutzbegehrens … in den Patentansprüchen durch Angabe der technischen Merkmale der Erfindung anzugeben" ist. Bei der Formulierung eines Anspruchs kommt es daher vor allem darauf an, dass diese Erfordernisse unter Berücksichtigung der Art des Erfindungsgegenstands und des Zwecks der Ansprüche erfüllt werden. Die Ansprüche dienen nach dem EPÜ dazu, den Schutzbereich des Patents oder der Patentanmeldung (Art. 69 EPÜ) und damit die Rechte des Patentinhabers in den benannten Vertragsstaaten (Art. 64 EPÜ) unter Berücksichtigung der Voraussetzungen für die Patentierbarkeit nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ festzulegen. […]
Die Auslegung der Ansprüche zur Bestimmung ihrer technischen Merkmale ist gemäß Artikel 69 (1) EPÜ und dem dazu ergangenen Protokoll vorzunehmen. Das Protokoll wurde von den Vertragsstaaten als fester Bestandteil in das EPÜ übernommen, um ein Instrument zur Harmonisierung der von Land zu Land unterschiedlichen Abfassung und Auslegung von Patentansprüchen […] zu schaffen. […] Das Protokoll verfolgt offenkundig den Zweck, eine Überbewertung des konkreten Wortlauts der Patentansprüche zu vermeiden, wenn diese losgelöst vom übrigen Text des entsprechenden Patents betrachtet werden; zum anderen soll aber auch vermieden werden, dass der allgemeinen erfinderischen Idee, wie sie im Text des Patents in Abgrenzung zum maßgeblichen Stand der Technik offenbart ist, zu viel Gewicht beigemessen wird, ohne den Wortlaut der Patentansprüche als Definitionshilfe hinreichend zu berücksichtigen."
Die Große Beschwerdekammer erachtete also Artikel 69 EPÜ und das Protokoll zu seiner Auslegung eindeutig als relevante Mittel zur Bestimmung der technischen Merkmale eines Anspruchs, und zwar ausdrücklich sowohl für die Beurteilung der Patentierbarkeit beim Vergleich einer Erfindung mit dem einschlägigen Stand der Technik als auch für den Schutzumfang bei der Bestimmung der durch das Patent (oder die Patentanmeldung) gewährten Rechte. Es ist also kaum davon auszugehen, dass die Große Beschwerdekammer mit der Entwicklung abweichender Standards für die Beurteilung der beiden Seiten ein und derselben Medaille einverstanden gewesen wäre, insbesondere da sie stets um Konsistenz in ihrer Beurteilung ähnlicher, in unterschiedlichen EPÜ-Vorschriften verankerter Grundsätze bemüht war (siehe z. B. das "einheitliche Offenbarungskonzept" in Bezug auf Artikel 54, 87 und 123 EPÜ, wie es in den Entscheidungen G 2/98, Nr. 9 der Entscheidungsgründe, G 1/03, Nr. 2.2.2 der Entscheidungsgründe und G 2/10, Nr. 4.6 der Entscheidungsgründe entwickelt wurde).
Offenbar hat jedoch keine der Beschwerdekammern, die die Rechtsprechung zur Nichtanwendbarkeit des Artikels 69 EPÜ bei der Beurteilung der Patentierbarkeit entwickelt haben, eine Abweichung von der in G 6/88 enthaltenen Auslegung des Übereinkommens gesehen und die Große Beschwerdekammer mit dieser Frage befasst, wie es in Artikel 21 der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (damaliger Artikel 16 VOBK, siehe ABl. EPA 1983, 7) vorgesehen ist.
Um also zu einem gemeinsamen Ansatz bezüglich der Rechtsgrundlage für die Anspruchsauslegung zur Beurteilung der Patentierbarkeit zu gelangen, muss die Rechtsfrage der Großen Beschwerdekammer vorgelegt werden.
3.3 Ein weiterer in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern häufig vorkommender Rechtsgrundsatz ist der, wonach die Beschreibung, wenn überhaupt, nur dann zur Auslegung eines Anspruchs herangezogen werden darf, wenn der Wortlaut des Anspruchs für sich genommen unklar oder mehrdeutig ist.
3.3.1 Dieser Grundsatz ist oft mit dem der Nichtanwendbarkeit des Artikels 69 EPÜ auf die Beurteilung der Patentierbarkeit verknüpft (siehe T 278/20, Entscheidungsgründe; T 169/20, Nr. 1.2.5 der Entscheidungsgründe; T 1735/19, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe; T 353/18, Nr. 2.4.5 der Entscheidungsgründe; T 978/16, Nrn. 2.3 und 2.4 der Entscheidungsgründe; T 2601/16, Nr. 2.3.2 der Entscheidungsgründe; T 1292/17, Nr. 1.3 der Entscheidungsgründe; T 1705/17, Nr. 1.2 der Entscheidungsgründe; T 2600/17, Nr. 2.4 der Entscheidungsgründe; T 30/17, Nr. 2.1.7 der Entscheidungsgründe; T 2344/15, Nr. 1.8 der Entscheidungsgründe; T 1391/15, Nr. 3.5 der Entscheidungsgründe; T 1267/13, Nr. 4.1 der Entscheidungsgründe; T 580/13, Nr. 2 der Entscheidungsgründe; T 145/14, Nr. 2.2.6 der Entscheidungsgründe; T 1597/12, Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe; T 1593/09, Nr. 4.1 der Entscheidungsgründe; T 295/11, Nr. 4.1.4 der Entscheidungsgründe; T 467/09, Nr. 2 der Entscheidungsgründe; T 494/09, Nr. 5 der Entscheidungsgründe; T 964/07, Nr. 2.1.2 der Entscheidungsgründe; T 1374/06, Nr. 4.1 der Entscheidungsgründe; T 843/06, Nr. 4.4 der Entscheidungsgründe).
3.3.2 Diese Verknüpfung ist jedoch nicht zwingend:
a) Der Grundsatz findet sich auch in Entscheidungen, in denen Artikel 69 EPÜ angewendet wurde (siehe z. B. T 1695/19, Nr. 2.2.4 der Entscheidungsgründe; T 1300/19, Nr. 1.3.3 der Entscheidungsgründe; T 58/13, Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe; T 2097/10, Nr. 4.3 der Entscheidungsgründe; T 1671/09, Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe) oder in denen keine Rechtsgrundlage angegeben wurde (T 42/22, Nrn. 3.1 bis 3.4 der Entscheidungsgründe; T 1527/21, Nr. 2.2.1 der Entscheidungsgründe; T 821/20, Nr. 1.7 der Entscheidungsgründe; T 427/20, Nr. 5.3 der Entscheidungsgründe; T 1648/18, Nr. 1.3 der Entscheidungsgründe; T 1385/14, Nr. 4.3 der Entscheidungsgründe; T 197/10, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe).
b) Darüber hinaus gibt es Entscheidungen, in denen betont wurde, dass die in einem Anspruch verwendeten Begriffe immer im Kontext des Anspruchs als Ganzes und der Beschreibung gelesen werden müssen, obwohl Artikel 69 EPÜ als für die Beurteilung der Patentierbarkeit nicht anwendbar befunden wurde (siehe z. B. T 2684/17, Nr. 2.1.4 der Entscheidungsgründe; T 1283/16, Nr. 4 der Entscheidungsgründe; T 2196/15, Nr. 1.1 der Entscheidungsgründe; T 1871/09, Nr. 3.1 der Entscheidungsgründe; T 1646/12, Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe; T 620/08, Nrn. 3.8., 3.16 und 3.17 der Entscheidungsgründe) oder nicht als Rechtsgrundlage für die Betrachtung des Patents als ein einheitliches Dokument genannt wurde (siehe z. B. T 447/22, Nr. 13.1 der Entscheidungsgründe).
Somit stellt sich die Frage, ob die Mehrdeutigkeit eines Anspruchs eine Voraussetzung für die Heranziehung der Beschreibung und der Abbildungen ist, unabhängig von der Frage, ob Artikel 69 EPÜ und das Protokoll anwendbar sind.
3.3.3 Die meisten Entscheidungen, die Artikel 69 EPÜ anwenden, ziehen die Beschreibung und die Ansprüche in jedem Fall zur Auslegung des Anspruchs heran (siehe z. B. T 177/22, Nr. 2.2.7 der Entscheidungsgründe und T 918/21, Nrn. 1.3 bis 1.6.4 der Entscheidungsgründe), bei Diskrepanzen mit ausschließlich in der Beschreibung enthaltenen Angaben geben sie aber – in einem zweiten Schritt – häufig dem Wortlaut der Ansprüche den Vorrang (siehe z. B. T 1473/19, Nrn. 3.1 bis 3.15 und Nrn. 3.16 bis 3.16.2 der Entscheidungsgründe und auch T 1335/21, Nr. 1.9 der Entscheidungsgründe; T 367/20, Nrn. 1.3.3 bis 1.3.6 der Entscheidungsgründe; T 1632/21, Nr. 4.2 der Entscheidungsgründe; T 1171/20, Nr. 6 der Entscheidungsgründe; T 450/20, Nrn. 2.6 und 2.15 der Entscheidungsgründe; T 1494/21, Nrn. 2.6 und 2.14 der Entscheidungsgründe; T 2319/18, Nr. 12 der Entscheidungsgründe; T 1844/19, Nr. 1.5 der Entscheidungsgründe; T 73/19, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe; T 1116/16, Entscheidungsgründe; T 552/12, Nr. 3.6 der Entscheidungsgründe; T 275/10, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe; T 1671/09, Nrn. 3.3 und 3.4 der Entscheidungsgründe; T 522/09, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe; T 374/08, Nr. 2.2.2 der Entscheidungsgründe).
3.3.4 In anderen Entscheidungen wird die Beschreibung unabhängig von der Feststellung einer Mehrdeutigkeit herangezogen, entweder ohne dafür eine Rechtsgrundlage anzugeben (siehe T 953/22, Nr. 2 der Entscheidungsgründe; T 111/22, Nr. 1.9 der Entscheidungsgründe; T 1382/20, Nr. 4.6 der Entscheidungsgründe; T 2773/18, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe; T 1648/18, Nr. 1.3 der Entscheidungsgründe; T 1169/16, Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe; T 478/09, Nr. 6 c) der Entscheidungsgründe), oder in Fällen, in denen die strittige Frage nicht entschieden werden musste, weil z. B. die Anspruchsformulierung für mehrdeutig befunden wurde (siehe T 694/20, Nr. 4.1 der Entscheidungsgründe).
3.3.5 Wieder andere Entscheidungen lassen die Frage unbeantwortet, weil selbst bei Anwendung des Artikels 69 EPÜ keine beschränkenden Merkmale in den Anspruch hineingelesen werden sollten (T 1628/21, Nr. 1.1.9 der Entscheidungsgründe; T 503/20, Nr. 3.2 der Entscheidungsgründe; T 1260/21, Nr. 1.2.2 der Entscheidungsgründe; T 2548/19, Nr. 6 der Entscheidungsgründe; T 911/18, Nr. 4.3 der Entscheidungsgründe; T 299/09, Nr. 3.3.1 der Entscheidungsgründe; T 1736/06, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe) und in einem Anspruch vorhandene Merkmale nicht aufgrund von ausschließlich in der Beschreibung enthaltenen Informationen außer Acht gelassen werden sollten (siehe T 1266/21, Nr. 2.3.4 der Entscheidungsgründe).
Ähnliche Erwägungen sind in der Entscheidung T 1266/19, Nr. 11.4 der Entscheidungsgründe zu finden, ohne dass auf die Frage der Rechtsgrundlage eingegangen wird.
3.3.6 Einige Entscheidungen schließlich gehen so weit, dass die Ansprüche im Wesentlichen immer für sich genommen ausgelegt werden sollten, d. h. gänzlich ohne Heranziehung der Beschreibung und der Abbildungen (siehe T 675/22, Nr. 1.3 der Entscheidungsgründe; T 1924/20, Nr. 2.7 der Entscheidungsgründe; T 470/21, Nr. 2.1 der Entscheidungsgründe; T 2764/19, Nr. 3.1.1 der Entscheidungsgründe; T 1127/16, Nr. 2.6.1 der Entscheidungsgründe).
3.3.7 Im vorliegenden Fall kann die Frage nicht unbeantwortet bleiben, denn der Fachmann würde die Anspruchsformulierung für sich genommen nicht als mehrdeutig erachten. Bei strikter Befolgung der Rechtsprechung, wonach die Beschreibung entweder gar nicht herangezogen werden darf (siehe oben Nr. 3.3.6) oder nur dann herangezogen werden darf, wenn die Ansprüche für mehrdeutig befunden werden (siehe oben Nrn. 3.3.1 und 3.3.2 a)), wäre der Fachmann also gezwungen, das Vorhandensein der in Absatz [0035] der Beschreibung gegebenen Definition des Begriffs "zusammengefasstes Flächengebilde" zu ignorieren.
3.3.8 Es muss also geklärt werden, ob die Beschreibung und die Abbildungen für die Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit herangezogen werden dürfen und ob dies generell getan werden darf oder nur, wenn Mehrdeutigkeiten in der Anspruchsformulierung geklärt werden müssen.
3.4 Der dritte Punkt, in dem die Rechtsprechung der Beschwerdekammern untereinander abweicht, ist das Ausmaß, in dem Definitionen oder vergleichbare Informationen, die zu bestimmten Begriffen in der Beschreibung gegeben werden, die Auslegung dieser Begriffe beeinflussen können, wenn sie in den Ansprüchen verwendet werden. Die nachstehend beschriebenen Rechtsprechungslinien sind erkennbar.
3.4.1 Einige Entscheidungen (siehe auch unten Nrn. 3.4.4 und 3.4.5) betonen die Autonomie von Patenten bei der Definition von in den Patentansprüchen verwendeten Begriffen und die Notwendigkeit, diese Begriffe im Kontext des gesamten Inhalts und unter Berücksichtigung dessen zu lesen, was durch die Erfindung erreicht wird. Die in Patentdokumenten verwendeten Begriffe sollten demnach in ihrer im einschlägigen Stand der Technik üblichen Bedeutung verstanden werden, es sei denn, ihnen wird in der Beschreibung eine besondere Bedeutung zugewiesen. Insofern kann das Patent sein eigenes Wörterbuch sein (siehe z. B. T 620/08, Nr. 3.8 der Entscheidungsgründe; T 1321/04, Nrn. 2.3 und 2.4 der Entscheidungsgründe, mit Verweis auf T 312/94, T 969/92, T 311/93 und T 523/00). Das EPÜ verlangt nicht, dass in verschiedenen Patenten verwendete Begriffe stets dieselbe Bedeutung haben (siehe T 523/00, Nr. 2 der Entscheidungsgründe).
3.4.2 In anderen Entscheidungen wird auf die erforderliche Rechtssicherheit im Patentsystem verwiesen und daran erinnert, dass der Erfindungsgegenstand primär durch die Ansprüche bestimmt wird. So wird in zahlreichen Entscheidungen betont, dass die Stützung durch die Beschreibung jedenfalls nicht dazu benutzt werden sollte, den Erfindungsgegenstand über das hinaus zu beschränken oder zu ändern, was der Fachmann bei der Lektüre des Wortlauts der Ansprüche verstehen würde (siehe z. B. T 169/20, Nr. 1.4 der Entscheidungsgründe). Darin scheinen sich die meisten Entscheidungen einig, von denen viele Artikel 69 EPÜ und das zugehörige Protokoll anwenden. Begründet wird das in diesen Fällen mit dem Wortlaut von Artikel 69 (1) Satz 1 EPÜ – eine Begründung, die in den letzten Jahren im Anschluss an T 1473/19, Nr. 3.16 der Entscheidungsgründe als Grundsatz des Vorrangs der Ansprüche bekannt geworden ist (siehe z. B. T 450/20, Nr. 2.15 der Entscheidungsgründe).
3.4.3 Keine Einigkeit scheint jedoch darüber zu herrschen, wie dieses Ziel zu erreichen und wo die Grenze zu ziehen ist.
a) Wie vorstehend erwähnt (siehe oben Nr. 3.3.6), wird in einigen Entscheidungen postuliert, dass die Ansprüche stets für sich genommen ausgelegt werden sollten, ohne irgendetwas aus der Beschreibung – auch keine dort gegebene Definition – als ergänzendes Hinweismittel heranzuziehen (siehe z. B. T 1924/20, Nr. 2.7 der Entscheidungsgründe).
b) Entscheidungen, in denen Mehrdeutigkeit als grundsätzliche Voraussetzung für eine Anspruchsauslegung gesehen wird (siehe oben Nr. 3.3.1 und 3.3.2 a)), lassen Informationen aus der Beschreibung, so auch Definitionen, außer Acht, wenn der Anspruch für sich genommen für klar erachtet wird (siehe z. B. T 197/10, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe; T 1266/19, Nr. 11.4 der Entscheidungsgründe).
c) Selbst dort, wo ein Anspruch für unklar befunden wurde, wurde in einigen Entscheidungen eine in der Beschreibung gegebene Definition oder vergleichbare Information außer Acht gelassen, wenn diese dazu hätte genutzt werden können, den Erfindungsgegenstand über das hinaus zu beschränken oder zu ändern, was der Fachmann bei der Lektüre des Wortlauts der Ansprüche verstehen würde, z. B. durch den Ausschluss möglicher Auslegungen, die im betreffenden technischen Kontext sowohl vertretbar als auch technisch sinnvoll wären (siehe z. B. T 169/20, Nr. 1.4 der Entscheidungsgründe; T 821/20, Nr. 1.7 der Entscheidungsgründe).
d) Von den Entscheidungen, die dafür plädieren, die Beschreibung stets heranzuziehen, lassen einige in der Beschreibung gegebene Definitionen und vergleichbare Informationen nur dann außer Acht, wenn diese der gewöhnlichen Bedeutung der in den Ansprüchen verwendeten Begriffe widersprechen oder mit dieser "überhaupt nicht in Einklang stehen" (siehe z. B. T 1473/19, Nr. 3.16.2 der Entscheidungsgründe).
e) In anderen der Entscheidungen, die einer Anwendung des Artikels 69 EPÜ und des zugehörigen Protokolls offen gegenüberstehen, wird die Grenze dort gezogen, wo die Beschreibung dazu genutzt würde, die Anspruchsmerkmale implizit zu beschränken (siehe z. B. T 1844/19, Nr. 1.5 der Entscheidungsgründe). Ähnlich wie in den oben unter Buchstabe c aufgeführten Fällen bedürfte es also nicht eines Widerspruchs oder einer Unstimmigkeit, um in der Beschreibung gegebene Definitionen außer Acht zu lassen.
f) In mehreren Entscheidungen schließlich wurde die Auffassung vertreten, dass etwaige Diskrepanzen zwischen den Ansprüchen und einer in der Beschreibung gegebenen Definition oder ähnlichen Information in einem Verfahrensstadium, in dem dies noch möglich ist – also in erster Linie im Prüfungs-, aber auch im Einspruchsverfahren –, durch eine Änderung der Ansprüche gelöst werden sollten, weil in eben diesem Stadium die Erfindung definiert werden sollte (siehe z. B. T 2589/11, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe und T 768/08, Nr. 4.4 der Entscheidungsgründe, beide mit Verweis auf T 1279/04). Diese Entscheidungen würden also die Definition, wenn sie nicht im Anspruch enthalten ist, obwohl sie es sein könnte, wohl unter vergleichbaren Voraussetzungen wie in den oben unter den Buchstaben c, e und f [korr: c, d und e] aufgeführten Fällen außer Acht lassen.
3.4.4 Zudem folgen – wie oben unter Nummer 3.4.1 erwähnt – nicht alle Entscheidungen diesem restriktiven Ansatz. In T 299/09, Nr. 3.3.1 b) der Entscheidungsgründe wurde die Auslegung eines Begriffs oder Merkmals auf der Grundlage der Beschreibung für vertretbar befunden, wenn dieser Begriff bzw. dieses Merkmal in der Beschreibung in einer anderen oder in einer erweiterten Definition dessen verwendet wird, was der Fachmann normalerweise darunter verstehen würde. In T 620/08, Nr. 3.8 der Entscheidungsgründe (mit Verweis auf T 556/02, Nr. 5.3 der Entscheidungsgründe, T 416/87, Nr. 5 der Entscheidungsgründe und T 500/01, Nr. 6 der Entscheidungsgründe) heißt es ausdrücklich:
"Als Rechtsdokument kann ein Patent sein eigenes Wörterbuch darstellen. Es kann technische Begriffe definieren und festlegen, wie der Fachmann ein bestimmtes Wort bei Verwendung in der Beschreibung oder in den Ansprüchen zu verstehen hat. Die Beschreibung kann also einem Wort oder Ausdruck, und zwar selbst einem unmissverständlich klaren, das bzw. der eine allgemein anerkannte Bedeutung hat, durch ausdrückliche Definition eine andere Bedeutung als die allgemein anerkannte zuweisen."
3.4.5 Ein Grund könnte sein, dass sich der oben unter den Nummern 3.4.2 und 3.4.3 erwähnte restriktive Ansatz auf Fälle konzentriert, in denen ein Verfahrensbeteiligter versucht hat, die Bedeutung eines in einem Anspruch verwendeten Begriffs von dessen breiterer, gewöhnlicher Bedeutung auf eine restriktivere Definition einzuengen, die in der Beschreibung ausdrücklich gegeben war oder von ihr angeblich impliziert wurde. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die Heranziehung einer in der Beschreibung gegebenen Definition zu einer breiteren als der gewöhnlichen Bedeutung des definierten Begriffs führen würde. In solchen Fällen scheinen die Beschwerdekammern eher bereit, den Anspruch unter Heranziehung der Beschreibung auszulegen (siehe z. B. T 694/20, Nrn. 4.1 und 4.9 bis 4.11 der Entscheidungsgründe; T 1283/16, Nrn. 4 bis 12 der Entscheidungsgründe; T 620/08, Nrn. 3.8 bis 3.17 der Entscheidungsgründe). Der Grund dafür scheint zu sein, wie in T 1671/09, Nrn. 3.3 bis 3.4 der Entscheidungsgründe ausgeführt, dass es dem Patentinhaber überlassen ist, ob die Bedeutung eines Begriffs im Patent über dessen gewöhnliche Bedeutung auf dem jeweiligen Fachgebiet hinaus "durch die Beschreibung absichtlich erweitert" wird.
3.4.6 Allerdings wird dieser Ansatz nicht von allen Entscheidungen mitgetragen. In T 1385/14 (siehe Nrn. 4.3 und 4.4 der Entscheidungsgründe) ließ die zuständige Kammer selbst eine in der Beschreibung gegebene breite Definition des in den Ansprüchen verwendeten Begriffs "gedrucktes Muster" außer Acht und begründete dies damit, dass der Begriff eindeutig sei und eine klare technische Bedeutung habe. Er müsse daher "nicht unter Heranziehung der Beschreibung und der Zeichnungen neu ausgelegt" werden.
3.4.7 Im vorliegenden Fall wird die Bedeutung des Begriffs "zusammengefasstes Flächengebilde", so wie er gewöhnlicher Weise auf dem Fachgebiet verwendet wird, durch die in der Beschreibung gegebene Definition geändert. Diese widerspricht für den Fachmann jedoch nicht der gewöhnlichen Bedeutung, die auf der gängigsten Herstellungsweise zusammengefasster Flächengebilde basiert. Vielmehr wird die Bedeutung durch die Definition erweitert und ergibt technisch nach wie vor Sinn. Der Begriff, so wie er in der Beschreibung definiert ist, schließt nunmehr alle anderen potenziellen Verfahren zum Zusammenfassen von Tabakfolien ein, die diesen die Form eines zylindrischen Stabs verleihen.
Die in der Beschreibung gegebene Definition würde nach den verschiedenen, unter obiger Nummer 3.4.3 erläuterten Ansätzen unterschiedlich behandelt: nach der Rechtsprechungslinie unter Buchstabe d würde sie nicht außer Acht gelassen, wohl aber nach den Rechtsprechungslinien unter den Buchstaben a und b. Nach den Rechtsprechungslinien unter den Buchstaben c und f könnte sie Beachtung finden, vorausgesetzt dass diese immer anwendbar wären, wenn der Anspruch durch eine Definition in der Beschreibung geändert wird. Tritt jedoch – wie bei der Rechtsprechungslinie unter Buchstabe e – die weitere Voraussetzung hinzu, dass die geänderte Bedeutung eine engere ist, so hängt die Antwort auf die Frage, ob die Definition heranzuziehen ist, davon ab, welcher der beiden unter den obigen Nummern 3.4.4/3.4.5 bzw. 3.4.6 erläuterten Rechtsprechungslinien man folgt.
3.4.8 Folglich muss, bevor die vorliegende Sache entschieden werden kann, in jedem Fall und unabhängig von den zwei anderen Rechtsfragen die Frage beantwortet werden, ob und in welchem Umfang Definitionen oder vergleichbare Informationen, die in der Beschreibung gegeben werden, außer Acht gelassen werden dürfen.
4. Eine Entscheidung der Großen Beschwerdekammer ist auch erforderlich, da sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt, weil die Anspruchsauslegung durch das Europäische Patentamt im breiteren Kontext des Patentschutzsystems als Ganzes gesehen werden muss.
4.1 Die Erteilung europäischer Patente ist kein Selbstzweck. Vielmehr stellt das Prüfungsverfahren (und auch ein sich möglicherweise anschließendes Einspruchsverfahren) eine von den Mitgliedstaaten gesetzte Hürde dar, die überwunden werden muss, damit man für den Gegenstand von Erfindungen, die nachweislich neu, erfinderisch und ausreichend offenbart sind, ein ausschließliches Schutzrecht (im Prüfungsverfahren) erlangt und (im Einspruchsverfahren) behält.
4.1.1 Der Schutzbereich des europäischen Patents und der europäischen Patentanmeldung wird durch die Patentansprüche bestimmt (Artikel 69 EPÜ), und die Patentansprüche einer Anmeldung geben den Erfindungsgegenstand an, für den Schutz begehrt wird (Artikel 84 EPÜ). Es ist also der Gegenstand dieser Ansprüche, der die Erfindung definiert, die gemäß den Artikeln 83, 52, 54 und 56 EPÜ auf ausreichende Offenbarung, Neuheit und erfinderische Tätigkeit geprüft wird. Folglich ist es von außerordentlicher Bedeutung, dass der vom Europäischen Patentamt im Erteilungs- und Einspruchsverfahren geprüfte Gegenstand mit dem Gegenstand identisch ist, den die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten ihrer Gewährung eines ausschließlichen Schutzrechts zugrunde legen, sobald das europäische Patent in Kraft ist.
4.1.2 Andernfalls könnte ein Gegenstand aus dem Stand der Technik zum Anlass genommen werden, die Erteilung eines europäischen Patents zu verweigern, auch wenn dessen Schutzbereich den betreffenden Gegenstand nicht einschließt. Oder es würden europäische Patente erteilt, die Schutz für einen Gegenstand verleihen, der bereits aus dem Stand der Technik bekannt ist oder durch diesen nahegelegt wird. Beide Szenarien wären abträglich, im einen Fall für die wohlerworbenen Rechte der Anmelder und Patentinhaber, im anderen für die Ausübungsfreiheit im bereits gemeinfreien Bereich der Technik. Folglich sollte alles, was nach der Erteilung als Apfel angesehen wird, nur mit den Äpfeln aus dem Stand der Technik verglichen werden. Aber alles, was sich nach der Erteilung sowohl als Apfel als auch als Birne erweisen könnte, sollte im Prüfungs- und im Einspruchsverfahren nicht nur mit den Äpfeln, sondern auch mit den Birnen aus dem Stand der Technik verglichen werden.
4.2 Es steht außer Zweifel, dass Artikel 69 EPÜ und das zugehörige Protokoll anzuwenden sind, um die Bedeutung der Ansprüche eines europäischen Patents zu bestimmen, sobald das Patent in Kraft ist (siehe die Übersicht über die nationale Rechtsprechung in T 367/20, Nr. 1.3.5 der Entscheidungsgründe). Zu beantworten ist also die Frage, ob durch einen Ansatz, der eine andere Grundlage für die Bestimmung der Bedeutung der Ansprüche im Erteilungsverfahren (einschließlich Prüfungs- und Einspruchsverfahren) verwendet, die unter obiger Nummer 4.1.1 beschriebenen Ziele erreichbar sind.
4.3 Eine weitere Frage ist die, ob der Fachmann einen Anspruch für unklar befinden muss, damit er für dessen Auslegung zur Beurteilung der Patentierbarkeit die Beschreibung und die Abbildungen heranziehen kann. Nach Kenntnis der Kammer wird diese Frage durch keine nationale Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Patentorganisation bejaht. Ein Blick auf die Situation in einigen der größeren Mitgliedstaaten ergibt das folgende Bild.
4.3.1 Betrachtet wurden sechs französische Urteile aus den letzten zehn Jahren, in denen Patentansprüche ausgelegt wurden, darunter fünf des Tribunal judiciaire (TJ) von Paris, des ehemaligen Tribunal de grande instance (TGI) von Paris (TGI Paris, 2.7.2015, n° RG 12/11488; TGI Paris, 14.4.2016, n° RG 14/11998; TGI Paris, 20.4.2017, n° RG 14/05016; TGI Paris, 16.11.2017, n° RG 14/14922; TJ Paris, 24.3.2023, n° RG 20/03907) und eines der Cour d'appel (CA) von Paris (CA Paris, 19.10.2021, n° RG 17/22624). Alle diese Urteile besagen, dass die Ansprüche unter Heranziehung der Beschreibung auszulegen sind oder ziehen jedenfalls die Beschreibung immer dann heran, wenn sie Ansprüche auslegen. In keinem der Urteile wird dies an die Voraussetzung geknüpft, dass der Anspruch für mehrdeutig befunden wird.
4.3.2 Betrachtet wurden außerdem dreizehn Urteile von Gerichten des Vereinigten Königreichs aus den letzten 20 Jahren, die sich mit der Anspruchsauslegung befassen, darunter elf des England and Wales High Court (EWHC) und jeweils eines des England and Wales Court of Appeal (EWCA) und des House of Lords (mittlerweile Supreme Court of the United Kingdom). Diese Urteile zeigen ein ähnliches Bild wie die französischen. Häufig wird auf die Notwendigkeit verwiesen, die Ansprüche im Kontext der Beschreibung und etwaiger in der Patentschrift enthaltener Zeichnungen zu lesen, und dies scheint allgemeine Praxis bei der Beurteilung sowohl der Patentierbarkeit als auch von Verletzungen zu sein.
Zahlreiche Urteile verweisen auf den Wortlaut des Artikels 69 EPÜ und des zugehörigen Protokolls oder auf die parallele Vorschrift in Section 125 (1) Patents Acts 1977. Sie stimmen überein mit den grundlegenden Überlegungen zur Anspruchsauslegung, wie sie sich aus den beiden maßgebenden Urteilen Kirin Amgen Inc vs. Hoechst Marion Roussel [2004] UKHL 46, [2005] RPC 9, 21.10.2004, des House of Lords und Virgin Atlantic Airways Ltd vs. Premium Aircraft Interiors UK Ltd [2009] EWCA Civ 1062, [2010] RPC 8, 22.10.2009, des EWCA ergeben. In Letzterem heißt es unter Nummer 5 mit Bezug auf Nummer [182] (iv) der angefochtenen Entscheidung:
"Daraus folgt weiter, dass die Ansprüche nicht isoliert auszulegen sind, wobei die Zeichnungen und die Beschreibung nur zur Behebung von Unklarheiten heranzuziehen wären."
4.3.3 Aus der umfassenden Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs (BGH) geht hervor, dass dies auch in Deutschland die vorherrschende Auffassung ist, und zwar bei der Auslegung sowohl von europäischen als auch von deutschen Patenten, und zwar in Bezug auf sowohl die Patentierbarkeit als auch Verletzungen (siehe z. B. BGH, Urteil vom 29.6.2010 – X ZR 193/03 – BGHZ 186, 90 - Crimpwerkzeug III, Rn. 13).
In seinem Urteil vom 12.5.2015 – X ZR 43/13 - Rotorelemente erklärt der BGH in Nummer 15 der Entscheidungsgründe mit Bezug auf zahlreiche seiner früheren Urteile, dass der Patentanspruch stets unter Heranziehung der Beschreibung und der Zeichnungen auszulegen ist und dies auch dann nicht unterbleiben darf, wenn der Wortlaut des Anspruchs eindeutig zu sein scheint:
"Zu Recht rügt die Berufung, dass es das Patentgericht unterlassen hat, Patentanspruch 1 zunächst unter Heranziehung der Beschreibung und der Zeichnungen auszulegen […]
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Auslegung des Patentanspruchs stets geboten und darf auch dann nicht unterbleiben, wenn der Wortlaut des Anspruchs eindeutig zu sein scheint."
4.3.4 Diese von den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten der Europäischen Patentorganisation entwickelte Rechtsprechung hat das Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgerichts (CoA UPC) bestätigt und auf eine der frühen Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer verwiesen, die unter obiger Nummer 3.2 erwähnt ist. Am 26. Februar 2024 stellte es in Einklang mit Artikel 69 EPÜ und dem zugehörigen Protokoll Folgendes fest (siehe Nanostring vs. 10x Genomics, UPC_CoA_335/2023, App_576355/2023, Nr. 4. d) aa) der Gründe der Anordnung):
"Der Patentanspruch ist nicht nur der Ausgangspunkt, sondern die maßgebliche Grundlage für die Bestimmung des Schutzbereichs eines europäischen Patents nach Art. 69 EPÜ in Verbindung mit dem Protokoll über die Auslegung von Art. 69 EPÜ.
Für die Auslegung eines Patentanspruchs kommt es nicht allein auf seinen genauen Wortlaut im sprachlichen Sinne an. Vielmehr sind die Beschreibung und die Zeichnungen als Erläuterungshilfen für die Auslegung des Patentanspruchs stets mit heranzuziehen und nicht nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten im Patentanspruch anzuwenden.
Das bedeutet aber nicht, dass der Patentanspruch lediglich als Richtlinie dient und sich sein Gegenstand auch auf das erstreckt, was sich nach Prüfung der Beschreibung und der Zeichnungen als Schutzbegehren des Patentinhabers darstellt.
Der Patentanspruch ist aus der Sicht der Fachperson auszulegen.
Bei der Anwendung dieser Grundsätze soll ein angemessener Schutz für den Patentinhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte verbunden werden.
Diese Grundsätze für die Auslegung eines Patentanspruchs gelten gleichermaßen für die Beurteilung der Verletzung und des Rechtsbestands eines europäischen Patents. Das ergibt sich aus der Funktion der Patentansprüche, die nach dem Europäischen Patentübereinkommen dazu dienen, den Schutzbereich des Patents nach Art. 69 EPÜ und damit die Rechte des Patentinhabers in den benannten Vertragsstaaten nach Art. 64 EPÜ unter Berücksichtigung der Voraussetzungen für die Patentierbarkeit nach den Art. 52 bis 57 EPÜ festzulegen (vgl. EPA GBK, 11. Dezember 1989, G 2/88, ABl. 1990, 93 Nr. 2.5)."
4.3.5 Nicht nur die Gerichte der Mitgliedstaaten haben so entschieden, auch die Gesetzgeber des EPÜ selbst scheinen die Ausgangsfrage (siehe oben Nr. 4.3) bereits beantwortet zu haben, ob Artikel 69 (1) Satz 2 EPÜ ("Die Beschreibung und die Zeichnungen sind jedoch zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen.") unter der zusätzlichen Prämisse zu lesen ist, dass der Anspruch für sich genommen in einem ersten Schritt durch Hinzuziehung des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ und insbesondere dessen ersten Satzes für unklar erachtet werden muss. Artikel 1 des Protokolls lautet (Hervorhebung durch die Kammer):
"Artikel 69 ist nicht in der Weise auszulegen, dass unter dem Schutzbereich des europäischen Patents der Schutzbereich zu verstehen ist, der sich aus dem genauen Wortlaut der Patentansprüche ergibt, und dass die Beschreibung sowie die Zeichnungen nur zur Behebung etwaiger Unklarheiten in den Patentansprüchen anzuwenden sind. Ebenso wenig ist Artikel 69 dahingehend auszulegen, dass die Patentansprüche lediglich als Richtlinie dienen und der Schutzbereich sich auch auf das erstreckt, was sich dem Fachmann nach Prüfung der Beschreibung und der Zeichnungen als Schutzbegehren des Patentinhabers darstellt. Die Auslegung soll vielmehr zwischen diesen extremen Auffassungen liegen und einen angemessenen Schutz für den Patentinhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte verbinden."
Lord Hoffmann erklärte in Kirin Amgen Inc vs. Hoechst Marion Roussel [2004] UKHL 46, [2005] RPC 9, 21.10.2004:
"[27] Es ist unmöglich zu verstehen, was mit dem ersten Satz des Protokolls untersagt werden sollte, ohne die Grundsätze zu kennen, die ein englisches Gericht damals bei der Auslegung eines Rechtsdokuments (zumindest theoretisch) angewendet hat. Danach waren die Worte und die Syntax eines Satzes in ihrer 'natürlichen und ihnen normalerweise zukommenden Bedeutung' zu verstehen, d. h. in der Bedeutung, die den Wörtern durch ein Wörterbuch und der Syntax durch eine Grammatik verliehen wird. Diese Bedeutung war unabhängig vom Kontext oder Hintergrund zugrunde zu legen, in dem bzw. vor dem die Worte gebraucht wurden, es sei denn, sie waren 'mehrdeutig', konnten also mehr als nur eine Bedeutung haben. Wie Lord Porter in Electric & Musical Industries Ltd vs. Lissen Ltd (1938) 56 RPC 23, 57 ausgeführt hat:
'Wenn die Ansprüche selbst [Hervorhebung durch Lord Porter] eine evidente Bedeutung haben, kann kein Vorteil aus den in der übrigen Patentschrift gewählten Formulierungen gezogen werden, um ihre Bedeutung umzudeuten.'
[28] Wenn andererseits die Formulierung des Anspruchs 'selbst' mehrdeutig war, d. h. mehr als eine Bedeutung haben konnte, konnte das Gericht den in der Beschreibung und den Zeichnungen angegebenen Kontext hinzuziehen. [...]"
Wüsste man nicht, dass dieses Zitat letztlich ein Rückblick auf die ältere englische Rechtsprechung ist, könnte man es leicht für eine zutreffende Beschreibung dessen halten, was in einem Großteil der aktuellen Rechtsprechung der Beschwerdekammern nach wie vor vertreten wird.
Lord Hoffmann kommt zu folgendem Schluss:
"[29] [...] Der Versuch, die Worte des Anspruchs so zu behandeln, als hätten sie eine 'ihnen eigene' Bedeutung und ohne den Kontext oder den Zweck zu beachten, in dem bzw. zu dem sie verwendet wurden, war tatsächlich schon immer eine äußerst künstliche Vorgehensweise.
[30] Für mich steht fest, dass das Protokoll mit seiner Bezugnahme auf die 'Behebung etwaiger Unklarheiten' dazu gedacht war, die künstlichen englischen Vorschriften für die Auslegung von Patentansprüchen zu ersetzen. [...]"
4.4 Betrachtet man die Auslegung der Patentansprüche im Erteilungsverfahren sowie für die Gültigkeit und die Durchsetzung von Patenten nach ihrer Erteilung als die beiden Seiten ein und derselben Medaille, so ist auch eine harmonisierte Auffassung davon entscheidend, wie Definitionen oder vergleichbare Informationen, die in der Beschreibung gegeben werden, bei der Auslegung der Ansprüche zu verwenden sind und welche Grenzen dieser Verwendung gesetzt sind.
4.4.1 In der französischen Rechtsprechung wird anerkannt, dass das Patent und insbesondere seine Beschreibung als eigenes Wörterbuch dieses Patents dienen können (siehe z. B. TGI Paris, 20.4.2017, n° 14/05016, Nr. 1 a) der Urteilsbegründung):
"Die im Protokoll über die Auslegung des Artikels 69 des Übereinkommens definierten Kriterien werden entsprechend auch auf französische Patente angewendet. […] Bei der Auslegung der Ansprüche, wenn diese sich als erforderlich erweist, wird versucht, einen angemessenen Schutz für den Patentinhaber mit ausreichender Rechtssicherheit für Dritte zu verbinden. In diesem Rahmen kann das Patent sein eigenes Wörterbuch darstellen, insbesondere in Form der Beschreibung."
Hingegen findet sich kein Urteil, in dem der Patentanspruch für sich genommen ausgelegt wurde, um zu entscheiden, ob eine Definition in der Beschreibung aufgrund einer potenziellen abweichenden Bedeutung möglicherweise außer Acht gelassen werden müsste.
4.4.2 Die beiden maßgebenden Fälle in der Rechtsprechung des Vereinigten Königreichs (siehe oben Nr. 4.3.2) geben Hinweise, wie die Bedeutung der in einer Patentschrift verwendeten Worte im Vereinigten Königreich zu bestimmen ist.
Danach ist ihre Bedeutung objektiv vor dem Hintergrund des allgemeinen Wissens des Fachmanns auf dem betreffenden technischen Gebiet, der ja der Adressat der Patentschrift ist, und im Hinblick auf den Zweck, für den die Worte verwendet werden, zu bestimmen. Insofern ist die Bedeutung vom Kontext abhängig, in dem die Worte verwendet werden (siehe Kirin Amgen vs. Hoechst Marion Roussel [2004] UKHL 46, [2005] RPC 9, 21.10.2004, Nrn. 32 bis 35 der Urteilsbegründung, wo Lord Hoffmann in Nr. 33 mit Verweis auf ein früheres Urteil ausführt: "Es darf davon ausgegangen werden, dass eine Person, wenn sie Worte für einen Zweck verwendet, etwas anderes meint, als wenn sie dieselben Worte für einen anderen Zweck verwendet.").
Diese Begründung ist in Virgin Atlantic vs. Premium Aircraft [2009] EWCA Civ 1062, [2010] RPC 8, 22.10.2009, Nr. 5 der Urteilsbegründung mit Bezugnahme auf die dort angefochtene Entscheidung – in einer häufig in anderen Urteilen zitierten Passage – wie folgt zusammengefasst (Hervorhebung durch die Kammer):
"(i) Der erste, übergeordnete Grundsatz ist Artikel 69 des Europäischen Patentübereinkommens zu entnehmen.
(ii) Laut Artikel 69 wird der Schutzbereich durch den Inhalt der Patentansprüche bestimmt. Er besagt weiter, dass zu deren Auslegung die Beschreibung und die Zeichnungen heranzuziehen sind. Kurz gesagt, sind die Ansprüche im Kontext auszulegen.
(iii) Daraus folgt, dass die Ansprüche ihrem Zweck entsprechend auszulegen sind – wobei der vom Erfinder verfolgte Zweck anhand der Beschreibung und der Zeichnungen zu ermitteln ist.
[...]
(vii) Hat der Patentinhaber in seine Ansprüche offensichtlich eine bewusste Einschränkung aufgenommen, muss dies somit eine Bedeutung haben. Bewusst aufgenommene Merkmale können nicht einfach außer Acht gelassen werden.
(viii) Hat der Patentinhaber einen Begriff oder Passus verwendet, der ohne jeden Kontext eine besondere (enge oder weite) Bedeutung haben kann, so hat er in einem bestimmten Kontext nicht unbedingt diese Bedeutung.
[...]"
In diesem Fall, der eine Schlafsitzkonfiguration in einem Flugzeug betraf, argumentierte die Patentinhaberin, dass ihr Anspruch auf eine bestimmte Sitzkonfiguration (Umklappsitze) beschränkt sei. Dies akzeptierte das Berufungsgericht nicht und verwies unter anderem auf die Tatsache, dass die Anspruchsformulierung mit der Erfindungsdefinition (dem sog. "consistory clause") im allgemeinen Teil der Beschreibung identisch war bis auf die dort zusätzlich gegebene Erklärung "(Sitzsystem der z. B. in [der BA-Anmeldung] offenbarten Art)". Da die BA-Anmeldung keinen Umklappsitz enthielt, würde der Fachmann den Anspruch nicht als auf diese Sitzart beschränkt auslegen (siehe Nrn. 39 und 56 der Urteilsbegründung). Daher wurde die indirekte Definition in Form des "consistory clause" herangezogen, der auf eine bestimmte Sitzkonfiguration aus dem Stand der Technik gerichtet war, allerdings zusammen mit der Tatsache, dass die Anspruchsformulierung als solche nicht auf die behauptete Beschränkung hindeutete (siehe Nrn. 51 bis 54 der Urteilsbegründung).
Die Tatsache, dass in der Beschreibung gegebene Definitionen für Begriffe aus den Ansprüchen in der Regel nicht außer Acht gelassen werden, lässt sich auch aus dem Urteil McGhan Medical UK Ltd vs. Nagor Ltd and Biosil Ltd [2001] EWHC Patents 452, 28.2.2001 ableiten, in dem es heißt, dass "die im Patent gegebene Definition des Wortes 'Schaum' verwendet" wurde (siehe Nr. 101 der Urteilsbegründung).
4.4.3 Der Grundsatz, wonach das Patent sein eigenes Wörterbuch ist, wird auch in der Rechtsprechung des deutschen Bundesgerichtshofs seit dem BGH-Urteil vom 2.3.1999 – X ZR 85/96 - Spannschraube, Nr. 3 c) der Entscheidungsgründe anerkannt und auf breiter Basis angewandt. Siehe z. B. BGH, Urteil vom 7.7.2015 – X ZR 64/13 - Bitratenreduktion, Rn. 13, wo der Gerichtshof ausführt, dass die Tatsache, dass im Fall von Widersprüchen zwischen Anspruchsformulierung und Beschreibung der Anspruch Vorrang genießt, nicht ausschließt, dass ein im Kontext der Beschreibung und der Zeichnungen gelesener Anspruch eine Bedeutung haben kann, die von derjenigen abweicht, die der Anspruch für sich genommen hätte. Im Zweifelsfall ist daher der Anspruch so zu verstehen, dass die beiden Teile der Patentschrift einander nicht widersprechen. Nur wenn dies nicht möglich ist, darf aus den betreffenden Teilen der Beschreibung keine Schlussfolgerung in Bezug auf den geschützten Gegenstand gezogen werden (siehe Nr. 4 bb) der Entscheidungsgründe):
"Die Beschreibung des Patents kann Begriffe eigenständig definieren und insoweit ein "patenteigenes Lexikon" darstellen. Auch der Grundsatz, dass bei Widersprüchen zwischen Anspruch und Beschreibung der Anspruch Vorrang genießt, weil dieser und nicht die Beschreibung den geschützten Gegenstand definiert und damit auch begrenzt, schließt nicht aus, dass sich aus der Beschreibung und den Zeichnungen ein Verständnis des Patentanspruchs ergibt, das von demjenigen abweicht, das der bloße Wortlaut des Anspruchs vermittelt. Funktion der Beschreibung ist es, die geschützte Erfindung zu erläutern. Im Zweifel ist daher ein Verständnis der Beschreibung und des Anspruchs geboten, das beide Teile der Patentschrift nicht in Widerspruch zueinander bringt, sondern sie als aufeinander bezogene Teile der dem Fachmann mit dem Patent zur Verfügung gestellten technischen Lehre als eines sinnvollen Ganzen versteht. Nur wenn und soweit dies nicht möglich ist, ist der Schluss gerechtfertigt, dass aus Teilen der Beschreibung keine Schlussfolgerungen in Bezug auf den geschützten Gegenstand gezogen werden dürfen."
Ähnlich: BGH, Urteil vom 12.5.2015 – X ZR 43/13 – Rotorelemente, Rn. 16, Nr. III.1 der Entscheidungsgründe, wo auch zahlreiche frühere Urteile angeführt sind.
4.4.4 In seiner jüngsten Entscheidung VusionGroup vs. Hanshow (APL_8/2024, ORD_17447/2024) vom 13. Mai 2024 bestätigte das Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgerichts die Leitlinien aus Nanostring vs. 10x Genomics (UPC_CoA_335/2023, App_576355/2023) (siehe oben Nr. 4.3.4).
In dieser früheren Entscheidung (siehe Nrn. 4 d) bb) und cc) der Gründe der Anordnung) verwies es für die Auslegung mehrerer Anspruchsmerkmale auf den Wortlaut des Anspruchs und die in der Beschreibung gegebenen Informationen. Es fand eine Auslegung der Ansprüche, die durch die Informationen in der Beschreibung gestützt wurde, und wies daher das Vorbringen der Patentinhaberinnen zurück, das auf einer eher engen Auslegung einer Passage in der Beschreibung basierte.
In der jüngsten Entscheidung betonte das Berufungsgericht zunächst, dass die Anspruchsmerkmale in Verbindung miteinander zu lesen seien (siehe Nr. 29 der Gründe der Anordnung), und verwendete dann auch hier die Informationen aus mehreren Passagen der Beschreibung als Grundlage für die Auslegung von drei relevanten Anspruchsmerkmalen (siehe Nrn. 30 bis 32 der Gründe der Anordnung). Es wies das Argument der Patentinhaberin erneut zurück und berief sich dabei auf den Wortlaut des Anspruchs und auf Informationen in der Beschreibung und in einer der Zeichnungen (siehe Nrn. 33 bis 36 der Gründe der Anordnung). In Nummer 37 erklärt das Berufungsgericht:
"Die oben gegebene Auslegung des Anspruchsmerkmals 8.4 beruht auf dem Wortlaut des Anspruchs, gelesen im Lichte der Beschreibung und der Zeichnungen aus der Sicht der Fachperson mit seinem [sic.] allgemeinen Fachwissen ohne Berücksichtigung der Erteilungsgeschichte des Verfügungspatents."
Keine der beiden Anordnungen enthält eine Passage, in der Beschreibungsteile außer Acht gelassen würden. Die Informationen aus der Beschreibung wurden sogar herangezogen, obwohl die Beschreibung keine ausdrückliche Definition enthielt.
5. Bevor im vorliegenden Fall eine Entscheidung ergehen kann, müssen also zunächst die folgenden drei Fragen beantwortet werden, und zwar sowohl, um eine einheitliche Rechtsanwendung zu gewährleisten, als auch, weil sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt:
5.1 Sind Artikel 69 (1) Satz 2 EPÜ und Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ auf die Auslegung von Patentansprüchen anzuwenden, wenn die Patentierbarkeit einer Erfindung nach Artikel 52 bis 57 EPÜ beurteilt wird?
5.2 Dürfen die Beschreibung und die Zeichnungen für die Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit herangezogen werden und, falls ja, darf dies generell getan werden oder nur, wenn der Fachmann einen Anspruch bei isolierter Betrachtung für unklar oder mehrdeutig hält?
5.3 Darf eine Definition oder vergleichbare Information, die zu einem in den Ansprüchen verwendeten Begriff in der Beschreibung ausdrücklich gegeben wird, bei der Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit außer Acht gelassen werden und, falls ja, unter welchen Bedingungen?
6. Es erscheint erstrebenswert, zu einem gemeinsamen Verständnis in diesen Punkten zu kommen, aber nicht durch die Entwicklung völlig neuer Standards und auch nicht durch die alleinige Berücksichtigung des nationalen Rechts, sondern vielmehr in gleicher Weise aufbauend auf die in den zurückliegenden 40 Jahren entwickelte Rechtsprechung der Beschwerdekammern.
6.1 Das Berufungsgericht des Einheitlichen Patentgerichts hat einen ersten Schritt in diese Richtung gemacht, indem es sich auf die ursprüngliche Rechtsprechung bezogen hat, die die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts in einer Zeit entwickelt hat, als sie noch keine Zweifel daran hatte, dass Artikel 69 EPÜ und das zugehörige Protokoll auch bei der Beurteilung der Patentierbarkeit anwendbar sind (siehe oben Nrn. 3.2 und 4.3.4).
6.2 Sollte die Große Beschwerdekammer diese Auffassung erneut bekräftigen, dürfte der den wichtigsten Rechtsprechungslinien zugrunde liegende Ansatz weiterhin anwendbar bleiben. Ändern könnte sich allerdings die Reihenfolge der rechtlichen Prüfung. Die sich hieraus ergebende Praxis könnte dann in gleicher Weise geeignet sein, sowohl mit beschränkenden als auch mit erweiternden Definitionen in der Beschreibung angemessen umzugehen. Ein genauerer Blick auf die Gründe hinter der Weiterentwicklung der Rechtsprechung mag dies plausibel machen.
6.2.1 Als Erteilungsbehörde, die Jahr für Jahr fast 200 000 Patentanmeldungen bearbeitet, ist das Europäische Patentamt darauf angewiesen, ein robustes, harmonisiertes und vorhersehbares Prüfungssystem anzuwenden. Zudem ist es außerordentlich wichtig, dass die Ansprüche, die ja den Gegenstand des Schutzbegehrens definieren, – wie in Artikel 84 EPÜ festgelegt – deutlich und knapp gefasst sind und von der Beschreibung gestützt werden. Werden also in einem Anspruch bekannte Begriffe verwendet, um etwas zu beschreiben, das nicht unter die etablierte Bedeutung dieser Begriffe fällt, so gefährdet dies potenziell die Klarheit des Anspruchs.
Das mag sich nicht immer vermeiden lassen, wie Lord Hoffmann in Kirin Amgen Inc vs. Hoechst Marion Roussel [2004] UKHL 46, [2005] RPC 9, 21.10.2004, in Nr. 34 der Urteilsbegründung ausführt:
"Es ist anzuerkennen, dass der Patentinhaber versucht, etwas zu beschreiben, das – zumindest seiner Auffassung nach – neu ist, das es vorher noch nicht gegeben hat und für das es möglicherweise keine allgemein anerkannte Definition gibt. Es wird Fälle geben, in denen es für den Fachmann klar ist, dass der Patentinhaber in gewisser Hinsicht vom üblichen Sprachgebrauch abgewichen ist, [...]"
Lord Hoffmann räumt jedoch ein, dass
"[...] nicht davon auszugehen ist, dass diese Fälle sehr häufig sind."
Und sollte es vorkommen, könnte man ergänzen, sollte die alternative Bedeutung des Begriffs im Interesse der Rechtssicherheit im Kontext des Anspruchs selbst erklärt werden. Es ist nicht so selten, dass eine etwaige Abweichung weder vom Anmelder noch von der Prüfungsabteilung erkannt wird (z. B. weil dieser Begriff im Prüfungsverfahren nicht im Fokus stand) und erst im Einspruchsverfahren zutage tritt. Obwohl dann Artikel 84 EPÜ nicht unmittelbar anwendbar ist, weil der Klarheitsmangel nicht durch eine Änderung verursacht wurde, sahen die Beschwerdekammern auch in diesen Fällen die Notwendigkeit, nicht unter den Teppich zu kehren, dass es eine gewöhnliche Bedeutung des Begriffs und folglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit gibt, dass der Fachmann dem Begriff beim Lesen des Anspruchs diese gewöhnliche Bedeutung zuweist. Will eine Patentinhaberin die alternative Bedeutung nicht direkt in den Wortlaut des Anspruchs einbetten, obwohl sie dies könnte, sollte sie nicht allein aufgrund von Angaben in der Beschreibung oder den Zeichnungen von alternativen Bedeutungen dieses Begriffs profitieren.
6.2.2 Dies mögen die Gründe sein (wie sie z. B. in T 1628/21, Nr. 1.1.18 der Entscheidungsgründe dargelegt sind), aufgrund deren sowohl der Grundsatz, "die Beschreibung darf nur bei Mehrdeutigkeiten im Anspruch herangezogen werden" (siehe oben Nr. 3.3), als auch für der Grundsatz, "die Ansprüche sind immer für sich genommen auszulegen" (siehe oben Nr. 3.3.6), entwickelt wurden.
6.2.3 Zur Erreichung dieses Ziel scheint es jedoch gar nicht nötig, die Beschreibung völlig außer Acht zu lassen (wie beim ersten Grundsatz, weil der Anspruch nur Begriffe mit bekannter Bedeutung enthält, oder wie beim zweiten Grundsatz unter allen Bedingungen).
Vielmehr kann, auch wenn der im Anspruch verwendete Begriff in einem ersten Schritt – wie durch Artikel 69 Satz 1 EPÜ und das zugehörige Protokoll nahegelegt – im Kontext sämtlicher Informationen betrachtet wird, die den anderen Merkmalen, den anderen Ansprüchen, der Beschreibung und den Zeichnungen zu entnehmen sind, die Tatsache, dass der Patentinhaber offenbar absichtlich darauf verzichtet hat, Informationen aus der Beschreibung und den Zeichnungen in den Anspruch aufzunehmen, die dem Begriff eine alternative, von seiner gewöhnlichen abweichende Bedeutung verleihen, Berücksichtigung finden, und zwar aus folgendem Grund: In diesem Fall besteht nach wie vor die Gefahr, dass der Fachmann, der das Patent liest und besonderes Gewicht auf die Ansprüche legt, in denen ja die Erfindung definiert und der durch das Patent gewährte Schutzbereich festgelegt wird, diesen Begriff trotzdem in seiner gewöhnlichen Bedeutung verstehen könnte.
Dies kann ein guter Grund sein, dass Patent im Zweifelsfall so auszulegen, dass der im Anspruch verwendete Begriff in einem breiten Sinn aufgefasst wird, sodass er beide Bedeutungen einschließt. Wurden also die Informationen, die den Begriffen in den Ansprüchen die im Patent beabsichtigte Bedeutung verleihen, nicht in die Ansprüche aufgenommen, obwohl dies durch eine Änderung der Ansprüche hätte geschehen können, so vergrößert dies im Prüfungs- und im Einspruchsverfahren denjenigen Teil des geprüften Stands der Technik, der potenziell neuheitsschädlich ist oder die Erfindung nahelegen könnte.
6.2.4 Dieser Ansatz stünde in Einklang mit Artikel 69 EPÜ und dem zugehörigen Protokoll und würde eine Beschwerdekammer nicht daran hindern, einem in einem Anspruch verwendeten Begriff, dessen gewöhnliche Bedeutung enger ist als die im Kontext der Beschreibung und der Zeichnungen offenbar beabsichtigte, die breitere Bedeutung zuzuweisen, die sich aus der Patentschrift als Ganzes ergibt.
Die oben unter Nummer 6.2.2 erwähnten Grundsätze scheinen somit nicht nur unnötig zu sein, um Anmelder oder Patentinhaber daran zu hindern, basierend allein auf der Beschreibung oder den Zeichnungen beschränkende Merkmale in den Anspruch hineinzuinterpretieren, sondern könnten sich auch der Rechtssicherheit abträglich erweisen, wenn im Prüfungs- oder im Einspruchsverfahren der Anspruch basierend auf diesen Grundsätzen enger ausgelegt werden müsste, als er später nach der Erteilung verstanden werden wird (siehe die berühmte Angorakatzen-Analogie von Prof. Franzosi, die in Europäische Zentralbank vs. DSS [2008] EWCA Civ 192, 19.3.2008, Nr. 5 der Urteilsbegründung erwähnt wird).
Das Außerachtlassen aller in der Beschreibung und den Zeichnungen enthaltenen Informationen dazu, wie ein in einem Anspruch verwendeter Begriff offenbar gemeint war, könnte eine Beschwerdekammer auch dem Vorwurf aussetzen, dass sie das Patent mutwillig falsch auslege, was einem seit T 190/99 in der Rechtsprechung der Kammern verankerten zentralen Grundsatz der Anspruchsauslegung widerspräche (siehe dort, Nr. 2.4 der Entscheidungsgründe):
"Der Fachmann sollte bei der Prüfung eines Anspruchs unlogische oder technisch unsinnige Auslegungen ausschließen. Er sollte versuchen, durch Synthese, also eher aufbauend als zerlegend, zu einer Auslegung des Anspruchs zu gelangen, die technisch sinnvoll ist und bei der die gesamte Offenbarung des Patents berücksichtigt wird (Art. 69 EPÜ). Das Patent ist mit der Bereitschaft auszulegen, es zu verstehen, und nicht mit dem Willen, es misszuverstehen."
6.2.5 Dennoch ist das Ziel der beiden Grundsätze ein sinnvolles und wertvolles, das sowohl im Interesse der Rechtssicherheit als auch in dem des Funktionierens des Europäischen Patentamts als Erteilungsbehörde gewahrt werden sollte (siehe oben Nr. 6.2.1). Dies ist, wie unter obiger Nummer 6.2.3 dargelegt, möglich. Es könnte jedoch eine Änderung der Reihenfolge der rechtlichen Prüfung erfordern. Als Erstes wird die Bedeutung eines Begriffs im Kontext der Ansprüche, der Beschreibung und der Zeichnungen bestimmt. Als Zweites wird nochmals überprüft, ob diese Bedeutung sich in ausreichender Weise in den Ansprüchen widerspiegelt. Ist dies nicht der Fall, könnte eine breitere Bedeutung angezeigt sein, die alle aus dem Anspruchswortlaut ableitbaren potenziellen Bedeutungen einschließt.
6.3 Auf dieser Grundlage scheint auch die Frage, inwieweit eine in der Beschreibung gegebene Definition oder ähnliche Information außer Acht gelassen werden darf, weniger kritisch zu sein.
6.3.1 Definitionen oder ähnliche Informationen, die die Bedeutung eines Begriffs einengen, reichen häufig, wenn sie nur in der Beschreibung enthalten sind, nicht aus, um die gewöhnliche Bedeutung des im Anspruch verwendeten Begriffs vollkommen aufzuheben. Erweiternde Definitionen und Informationen in der Beschreibung hingegen können ein klares Anzeichen dafür sein, dass der im Anspruch verwendete Begriff nicht nur in der gewöhnlichen Weise verstanden werden darf, sondern auch in dem in der Beschreibung dargelegten breiteren Sinne zu verstehen ist.
6.3.2 In beiden Fällen läge es beim Patentinhaber, den Wortlaut der Ansprüche und den Inhalt der Beschreibung in Übereinstimmung zu bringen, um klarzumachen, welche Erfindung tatsächlich beansprucht wird. Wird dies nicht getan, kann ein anderes grundlegendes Prinzip der Anspruchsauslegung, das auch aus nationalen Entscheidungen bekannt ist, angewendet werden, wonach normalerweise keine Auslegung des Wortlauts eines Anspruchs durch diesen ausgeschlossen werden sollte, die technisch sinnvoll erscheint (siehe z. B. T 1628/21, Nr. 1.1.2 der Entscheidungsgründe; BGH, Urteil vom 12.12.2006 – X ZR 131/02 - Schussfädentransport, Rn. 17, Nr. III.4 der Entscheidungsgründe; ähnlich auch Samsung Electronics Co. Ltd vs. Apple Retail UK Ltd & Anor [2013] EWHC 467 (Pat), 7.3.2013, Nrn. 67, 68 und 79 der Urteilsbegründung). Enthält eine Patentschrift eine Definition oder dergleichen eines im Anspruch verwendeten Begriffs, kann dies als klares Anzeichen dafür gesehen werden, dass selbst der Patentinhaber die dort definierte Bedeutung als von der Bedeutung dieses Begriffs umfasst (oder zumindest mitumfasst) ansah.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Der Großen Beschwerdekammer werden folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:
1. Sind Artikel 69 (1) Satz 2 EPÜ und Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung des Artikels 69 EPÜ auf die Auslegung von Patentansprüchen anzuwenden, wenn die Patentierbarkeit einer Erfindung nach Artikel 52 bis 57 EPÜ beurteilt wird?
2. Dürfen die Beschreibung und die Zeichnungen für die Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit herangezogen werden und, falls ja, darf dies generell getan werden oder nur, wenn der Fachmann einen Anspruch bei isolierter Betrachtung für unklar oder mehrdeutig hält?
3. Darf eine Definition oder vergleichbare Information, die zu einem in den Ansprüchen verwendeten Begriff in der Beschreibung ausdrücklich gegeben wird, bei der Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit außer Acht gelassen werden und, falls ja, unter welchen Bedingungen?