ARBEITSSITZUNG
Das einheitliche Patentgericht
Bezug
Cour de cassation (Kassationsgerichtshof)
Handelskammer
Öffentliche Sitzung vom Dienstag, 29. November 2011
Nr. des Revisionsantrags/Rechtsmittels: 10-25277
Veröffentlicht im Bulletin:
Kassation
Frau Favre, Vorsitzende
Frau Mandel, Berichterstatterin
Frau Batut, Generalanwältin
Herr Bertrand, SCP Hémery et Thomas-Raquin, Rechtsanwalt
Vollständiger Wortlaut
FRANZÖSISCHE REPUBLIK
IM NAMEN DES FRANZÖSISCHEN VOLKES
DIE COUR DE CASSATION, HANDELSKAMMER, hat folgendes Urteil erlassen:
Zum einzigen Klagegrund, zweiter Teil:
Gestützt auf die Artikel L. 411-4 und L. 615-17 des Gesetzes über geistiges Eigentum (Code de la propriété intellectuelle).
Gemäß dem angefochtenen Urteil wollte die Firma Sew-Eurodrive eine französische Übersetzung ihres am 4. Juni 2002 in deutscher Sprache angemeldeten europäischen Patents Nr. 1 281 833, das ihr vom Europäischen Patentamt am 14. Januar 2009 erteilt wurde, beim Nationalen Amt für gewerbliches Eigentum (INPI) einreichen. Der Generaldirektor des INPI lehnte die Entgegennahme der Übersetzung ab.
In dem Urteil wird festgestellt, dass nach den anwendbaren Bestimmungen die Einreichung einer Übersetzung eines europäischen Patents in keinem Zusammenhang mehr zur der Erteilung oder Aufrechterhaltung des gewerblichen Eigentumstitels steht und der Antrag der Firma Sew-Eurodrive nicht dem Ziel dient, die Erteilung ihres Titels zu ermöglichen oder seine Aufrechterhaltung zu gewährleisten, woraus die Nichtzuständigkeit für die Entscheidung über die gegen die Entscheidung des Generaldirektors des INPI eingelegte Beschwerde abgeleitet wird.
Da sich jedoch die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht allein auf die gegen die Entscheidungen des Generaldirektors des INPI mit unmittelbaren Wirkungen auf die Erteilung oder Aufrechterhaltung von gewerblichen Eigentumstiteln eingelegten Beschwerden beschränkt, hat die Cour d'appel mit ihrer Entscheidung gegen die vorgenannten Gesetzestexte verstoßen.
AUS DIESEN GRÜNDEN und ohne dass über weitere Klagegründe entschieden zu werden braucht:
WIRD das von der Cour d'appel de Paris (Berufungsgericht Paris) am 26. Mai 2010 zwischen den Parteien erlassene Urteil (Nr. RG 09/20020) in allen Teilen FÜR NICHTIG ERKLÄRT. Die Rechtssache und die Parteien werden damit in die Lage versetzt, in der sie sich vor dem Urteil befanden, und an die Cour d'appel de Paris in anderer Zusammensetzung zurückverwiesen.
Die Kosten trägt die Staatskasse.
Gestützt auf Artikel 700 der Zivilprozessordnung (Code de procédure civile) wird der Antrag abgelehnt.
Auf Aufforderung des Generalstaatsanwalts der Cour de cassation wird das vorliegende Urteil übermittelt und das für nichtig erklärte Urteil mit einem Rand- oder Schlussvermerk versehen.
Für Recht erkannt und entschieden von der Cour de cassation, Handels-, Finanz- und Wirtschaftskammer, und verkündet durch den Vorsitzenden in öffentlicher Sitzung am 29. November 2011.
Der RECHTSMITTELGRUND ist diesem Urteil als ANLAGE BEIGEFÜGT.
Der Rechtsmittelgrund wurde von der SCP Hémery et Thomas-Raquin, bei der Cour de cassation zugelassene Anwaltsgesellschaft, für die Firma Sew-Eurodrive GmbH & Co KG vorgebracht.
Die Cour d'appel habe sich für nicht zuständig für die Entscheidung über die von der Firma SEW-EURODRIVE eingereichte Beschwerde gegen die Entscheidung des Generaldirektors des Nationalen Amtes für gewerbliches Eigentum (INPI) vom 20. Mai 2009 erklärt, mit der dieser die Entgegennahme der vollständigen französischen Übersetzung des am 9. Februar 2009 angemeldeten europäischen Patents Nr. 1 281 833 verweigert hatte, und die Firma SEW-EURODRIVE entsprechend an eine andere Berufungsinstanz weiterverwiesen.
"Nach Artikel L. 411-4 des Gesetzes über geistiges Eigentum entscheiden die Berufungsgerichte über Beschwerden gegen Entscheidungen des Generaldirektors des Nationalen Amtes für gewerbliches Eigentum bei der Erteilung, Ablehnung und Aufrechterhaltung von gewerblichen Eigentumstiteln. In Artikel R. 411-19 ist die territoriale Zuständigkeit der für die Entscheidung über Beschwerden gegen die Entscheidungen des Generaldirektors des Nationalen Amtes für gewerbliches Eigentum bei der Erteilung, Ablehnung und Aufrechterhaltung von gewerblichen Eigentumstiteln zuständigen Berufungsgerichte geregelt. Um festzustellen, ob das Gericht für Entscheidungen über Beschwerden zuständig sind, wie die Staatsanwaltschaft und die Firma SEW-EURODRlVE geltend machen, oder nicht zuständig ist, wie das INPI vorträgt, ist daher zu ergründen, ob die Entscheidung, die Übersetzung nicht in das nationale Patentregister aufzunehmen, wie es die das Patent innehabende Firma anstrebte, 'anlässlich' oder 'bezüglich' der Erteilung des Patents getroffen wurde. Die Firma SEW-EURODRIVE räumt ein (Seite 4 Absätze 3 und 4 ihres letzten Schriftsatzes), dass die Bestimmungen der Artikel L 614-7ff. des Gesetzes über geistiges Eigentum, in denen es um das Übersetzungserfordernis in die französische Sprache geht, durch das Gesetz vom 17. (tatsächlich vom 29.) Oktober 2007 aufgehoben wurden, mit dem die Ratifizierung des Londoner Protokolls genehmigt wurde, so dass die Einreichung einer Übersetzung nicht mehr notwendig ist, damit das europäische Patent nach Bekanntgabe seiner Erteilung seine Wirkungen in Frankreich entfaltet. In Artikel 65 Absatz 1 des Münchner Übereinkommens vom 5. Oktober 1973 über die Erteilung europäischer Patente heißt es: 'Jeder Vertragsstaat kann für den Fall, dass die Fassung, in der das Europäische Patentamt für diesen Staat ein europäisches Patent zu erteilen oder in geänderter Fassung aufrechtzuerhalten beabsichtigt, nicht in einer seiner Amtssprachen vorliegt, vorschreiben, dass der Anmelder oder Patentinhaber bei der Zentralbehörde für den gewerblichen Rechtsschutz eine Übersetzung der Fassung [...] in einer der Amtssprachen dieses Staats [...] einzureichen hat.' Das französische Recht hat von dieser Möglichkeit in Artikel L. 614-7 des Gesetzes über geistiges Eigentum Gebrauch gemacht, wo es in der vor dem Gesetz vom 29. Oktober 2007 geltenden Fassung hieß: 'Liegt die Fassung, in der das durch das Münchener Übereinkommen errichtete Europäische Patentamt ein europäisches Patent erteilt oder in geänderter Fassung aufrechterhält, nicht in französischer Sprache vor, so hat der Patentinhaber beim Nationalen Amt für gewerbliches Eigentum eine Übersetzung dieser Fassung [...] einzureichen [...]. Wird diese Verpflichtung nicht eingehalten, so ist das Patent unwirksam.' Diese Bestimmungen stellen somit einen unmittelbaren und zwangsläufigen Zusammenhang zwischen der Einreichung einer französischen Übersetzung des erteilten Patents und der Wirksamkeit im Hoheitsgebiet des Landes her. Dem oben zitierten Wortlaut nach gibt Artikel 65 Absatz 1 des Münchner Übereinkommens den Staaten zwar die Möglichkeit, vom Anmelder oder Patentinhaber die Einreichung einer Übersetzung zu verlangen, implizit, aber zwangsläufig enthält er jedoch auch die Möglichkeit, auf dieses Erfordernis zu verzichten. Das Londoner Übereinkommen, das in Frankreich seit 1. Mai 2008 in Kraft ist und in dessen Artikel 1 es heißt: 'Jeder Vertragsstaat dieses Übereinkommens, der eine Amtssprache mit einer der Amtssprachen des Europäischen Patentamts gemein hat, verzichtet auf die in Artikel 65 Absatz 1 des Europäischen Patentübereinkommens vorgesehenen Übersetzungserfordernisse', schreibt in seinem Artikel 9 den Verzicht auf das Übersetzungserfordernis bei europäischen Patenten, für die der Hinweis auf die Erteilung im Europäischen Patentblatt nach diesem Datum bekannt gemacht wurde, verbindlich vor. Artikel L. 614-7 Absatz 1 des Gesetzes über geistiges Eigentum, der in seiner aus dem Gesetz Nr. 2007-1544 vom 29. Oktober 2007 hervorgegangenen und am 1. Mai 2008 in Kraft getretenen Fassung sieht vor, dass der Wortlaut der europäischen Patentanmeldung oder des europäischen Patents in der Verfahrenssprache vor dem durch das Münchner Übereinkommen errichteten Europäischen Patentamt maßgebend' ist. Die neuen Vorschriften sind eine Rückkehr zum ursprünglichen, im Geiste des Europäischen Patentübereinkommens verankerten Prinzip der Gültigkeit und der Schutzwirkung eines Patents in der Sprache der Einreichung, unabhängig von jeglicher Übersetzung. Sie betreffen nicht die Substanz des Patentrechts. Wie der Generaldirektor des INPI zu Recht geltend macht, hat infolgedessen das Erfordernis einer Übersetzung für bestimmte Kategorien von Patenten künftig keine Rechtsgrundlage mehr. Durch das Inkrafttreten dieser Bestimmungen besteht kein Zusammenhang mehr zwischen der Einreichung einer Übersetzung und der Erteilung, Ablehnung oder Aufrechterhaltung gewerblicher Eigentumstitel im Sinne der Gesetzestexte, denen zufolge diese Begriffe mit der Befugnis der Berufungsgerichte verknüpft sind, über Beschwerden in diesen Angelegenheiten zu entscheiden. Im Übrigen möchte die Firma SEW-EURODRIVE ihren Antrag auf Hinterlegung der Übersetzung ihres Patents beim INPI nicht so verstanden wissen, dass damit die Erteilung ihres Titels ermöglicht, seine Ablehnung angefochten oder seine Aufrechterhaltung gewährleistet werden sollen, vielmehr diene die Übersetzung allein einem besseren Verständnis der Erfindung und soll redliche Dritte davon abhalten, Ansprüche zu vereiteln. Die beschwerdeführende Firma bezieht sich ausdrücklich auf die in Artikel L.411-1 Absatz 1 des Gesetzes über geistiges Eigentum formulierte Aufgabe des INPI, sämtliche für den Schutz von Innovationen notwendigen Informationen zentral zu erfassen und zu verbreiten und nicht auf die Aufgabe gemäß Absatz 2 dieses Artikels, in dem es um die Entgegennahme von Anträgen für gewerbliche Eigentumstitel …, deren Prüfung, Erteilung oder Registrierung und die Überwachung ihrer Aufrechterhaltung geht. Aus alldem folgt, dass die angefochtene Entscheidung nicht in den Anwendungsbereich des Artikels L.411-4 des Gesetzes über geistiges Eigentum fällt. Der Generaldirektor des INPI erklärt also zu Recht, dass das Gericht nicht für die Entscheidung über die Beschwerde der Firma SEW-EURODRIVE zuständig ist. Das Gericht erklärt sich daher für nicht zuständig und verweist die beschwerdeführende Firma an eine andere Berufungsinstanz weiter."
Gemäß Artikel L. 411-4 des Gesetzes über geistiges Eigentum ist die Cour d'appel für die Entscheidung über Beschwerden gegen die Entscheidungen des Direktors des Nationalen Amtes für gewerbliches Eigentum (INPI) bei der Erteilung, Ablehnung oder Aufrechterhaltung von gewerblichen Eigentumstiteln zuständig. Dieses Gesetz verleiht der Cour d'appel eine allgemeine Zuständigkeit für die Entscheidung über sämtliche Beschwerden gegen die Entscheidungen des Direktors des INPI in Bezug auf gewerbliche Eigentumstitel. Mit ihrer Ablehnung, sich für die Entscheidung über die Beschwerde der Firma SEW-EURODRIVE gegen die Entscheidung des Direktors des INPI für zuständig zu erklären, der die Einreichung der vollständigen Übersetzung des europäischen Patents Nr. 1 281 833 verweigert hatte, obgleich sich diese Entscheidung eindeutig auf einen gewerblichen Eigentumstitel bezog und nach der Erteilung des Titels und damit "anlässlich" der Erteilung des Titels im Sinne des vorgenannten Gesetzes erging, hat die Cour d'appel ihre Befugnisse unter Verstoß gegen Artikel L. 411-4 des Gesetzes über geistiges Eigentum verkannt.
Andererseits beschränkt sich die Zuständigkeit der Cour d'appel nicht allein auf Beschwerden gegen Entscheidungen mit unmittelbarer Wirkung auf die Erteilung oder Aufrechterhaltung von gewerblichen Eigentumstiteln. Da sie ihre Erklärung über die Nichtzuständigkeit für die Entscheidung über die von der Firma SEW-EURODRIVE eingelegte Beschwerde gegen die Entscheidung des Direktors des INPI, der die Einreichung der vollständigen Übersetzung des europäischen Patents Nr. 1 281 833 verweigert hatte, darauf gründete, dass seit dem Inkrafttreten des Londoner Übereinkommens und des neuen, aus dem Gesetz Nr. 2007-1544 vom 29. Oktober 2007 hervorgegangenen Artikels L. 614-7 des Gesetzes über geistiges Eigentum kein Zusammenhang mehr zwischen der Einreichung der Übersetzung eines europäischen Patents und der Erteilung oder Aufrechterhaltung des Titels bestehe, und der Antrag der Firma SEW-EURODRIVE nicht darauf abzielte, die Erteilung ihres Titels zu ermöglichen, seine Ablehnung anzufechten oder seine Aufrechterhaltung zu gewährleisten, hat die Cour d'appel unter Verstoß gegen Artikel L. 411-4 des Gesetzes über geistiges Eigentum anhand unwirksamer Gründe entschieden.
Analyse
Veröffentlichung:
Angefochtene Entscheidung: Cour d'appel de Paris vom 26. Mai 2010
Titel und Zusammenfassungen: ZUSTÄNDIGKEIT - sachliche Zuständigkeit - Cour d'appel - Nationales Amt für gewerbliches Eigentum (Institut national de la propriété industrielle) - Entscheidung des Direktors - unmittelbare Wirkung auf gewerbliche Eigentumstitel - Notwendigkeit (nein)
Die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit gemäß der Artikel L. 411-4 und L. 615-17 des Gesetzes über geistiges Eigentum (Code de la propriété intellectuelle) beschränkt sich nicht allein auf Beschwerden gegen die Entscheidungen des Generaldirektors des INPI mit unmittelbarer Wirkung auf die Erteilung oder Aufrechterhaltung von gewerblichen Eigentumstiteln.
Die Cour d'appel verstößt gegen diese Gesetzestexte, indem sie sich für nicht zuständig erklärt, über die Beschwerde gegen eine Entscheidung des Generaldirektors des INPI zu entscheiden, der die Entgegennahme der französischen Übersetzung des beschreibenden Teils eines in einer der zwei anderen Amtssprachen des Europäischen Patentamts angemeldeten europäischen Patents verweigert hat.
ZUSTÄNDIGKEIT - sachliche Zuständigkeit - Cour d'appel - Nationales Amt für gewerbliches Eigentum - Entscheidung des Direktors - Einreichung einer Patentübersetzung
Angewandte Gesetzestexte:
Artikel L. 411-4 und L. 615-17 des Gesetzes über geistiges Eigentum (Code de la propriété intellectuelle)