T 0912/23 24-01-2025
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Stromführungsprofil und Stromführungsanordnung
Einspruchsgründe - mangelnde Patentierbarkeit (ja)
Beschwerdeentscheidung - Zurückverweisung an die erste Instanz (ja)
Zurückverweisung - besondere Gründe für Zurückverweisung (ja)
I. Die Beschwerde der Einsprechenden (Beschwerdeführerin) richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, mit der der Einspruch gegen das europäische Patent Nr. 3 477 794 zurückgewiesen worden ist.
II. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent vollständig zu widerrufen.
III. Die Patentinhaberin (Beschwerdegegnerin) beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen, hilfsweise das Patent in geänderter Fassung auf der Grundlage der Ansprüche eines ihrer mit der Beschwerdeerwiderung eingereichten Hilfsanträge 1 bis 6 aufrechtzuerhalten.
IV. In einer Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK hat die Kammer die Parteien über ihre vorläufige Meinung informiert, wonach unter anderem der Gegenstand des Anspruchs 1 des erteilten Patents gegenüber der Offenbarung des Dokuments D1 (WO 01/91248 A1) nicht neu sei.
V. Keine der Parteien hat zu der vorläufigen Meinung der Kammer sachlich Stellung genommen.
Die mündliche Verhandlung vor der Kammer fand am 24. Januar 2025 als Videokonferenz statt.
VI. Anspruch 1 des erteilten Patents lautet wie folgt:
"Stromführungsprofil mit einem elektrisch isolierenden Profilelement (2a, 2b), das parallel nebeneinander in eine Längserstreckungsrichtung (L) des Profilelementes (2a, 2b) erstreckende Nuten (4a, 4b) hat, die durch ein Paar von Nutenseitenwänden [sic](5) begrenzt sind und einen Nutgrund (6) haben, und mit elektrischen Leitern (3), die in den Nuten (4a, 4b) des Profilelementes (2a, 2b) aufgenommen sind und sich parallel nebeneinander in der Längserstreckungsrichtung (L) des Profilelementes (2a, 2b) erstrecken,
dadurch gekennzeichnet, dass
das Profilelement (2a, 2b) Vorsprünge (7) an einer Stirnseite hat, wobei die Vorsprünge (7) als Verlängerung einer Nutseitenwand (5) oder einer Gruppe von Nutseitenwänden (5) mit zwischenliegender Nut (4a, 4b) ausgebildet und zum Eintauchen in einen Rücksprung (8) an einer Stirnseite eines angrenzenden Profilelementes (2a, 2b) ausgebildet sind."
VII. Angesichts der Entscheidung der Kammer, die Angelegenheit an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückzuverweisen, ist der Wortlaut der Hilfsanträge 1 bis 6 hier nicht wiedergegeben.
VIII. Die entscheidungsrelevanten Argumente der Parteien sind nachfolgend gemeinsam mit den Entscheidungsgründen aufgeführt.
Hauptantrag
Neuheit - Artikel 100 a) und 54 EPÜ
1. Zur Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 des erteilten Patents war unter den Parteien strittig, ob dessen Merkmale 2.1 und 2.2 aus dem Dokument D1 bekannt sind.
Merkmal M2.1 lautet:
"wobei die Vorsprünge (7) als Verlängerung einer Nutseitenwand (5) oder einer Gruppe von Nutseitenwänden (5) mit zwischenliegender Nut (4a, 4b) ausgebildet [sind]"
Merkmal M2.2 lautet:
"und zum Eintauchen in einen Rücksprung (8) an einer Stirnseite eines angrenzenden Profilelementes (2a, 2b) ausgebildet sind."
Auslegung des Anspruchs 1
2. Im Rahmen der Neuheit war unter den Parteien auch strittig, wie das Merkmal 2.1 des erteilten Anspruchs 1 auszulegen ist:
3. Die Beschwerdeführerin versteht das Merkmal derart, dass es "nicht fordert, dass eine innere Oberfläche der nutbegrenzenden Wand fluchtend verlängert wird". Folglich komme es nicht darauf an, in welcher Richtung die Vorsprünge die Nutseitenwand verlängern würden, ob fluchtend oder nicht fluchtend.
4. Die Beschwerdegegnerin ist jedoch der Auffassung, dass unter einer Nutseitenwand die innere Oberfläche einer nutbegrenzenden Wand zu verstehen sei und dass folglich die beanspruchte Verlängerung der Nutseitenwand eine Verlängerung der inneren Oberfläche der nutbegrenzenden Wand bedeute. Das Merkmal könne nicht dahingehend ausgelegt werden, dass die Verlängerung der Nutseitenwand in jede beliebige Richtung erfolgen könne. Bereits aus dem Oberbegriff des Anspruchs 1 ergebe sich, dass die Nuten von einem Paar von Nutseitenwänden begrenzt seien und einen Nutgrund hätten. Somit entspreche eine Verlängerung der Nutseitenwand der Form der Nut und umfasse jedenfalls auch die innere Oberfläche der Nutseitenwand.
5. Die Kammer schließt sich der Beschwerdegegnerin und der Einspruchsabteilung hinsichtlich der Auslegung des Merkmals 2.1 an, da aus dem Wortlaut des Anspruchs 1 eine homogene Verlängerung der beanspruchten Nuten hervorgeht.
6. Die Kammer ist jedoch, entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin, zu dem Schluss gelangt, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 auch unter Berücksichtigung der genannten Auslegung nicht neu gegenüber der Offenbarung des Dokuments D1 ist. Das wird nachstehend dargelegt.
Merkmal 2.1
7. Bei verständiger Lesart des gesamten Anspruchs 1 ergibt sich nach Auffassung der Kammer für den Fachmann zwar aus dessen Wortlaut ohne Weiteres, dass eine Kontinuität der Nuten, in welche die elektrischen Leiter aufgenommen sind, und damit der Nutseitenwände im Bereich der Vorsprünge, beabsichtigt ist. Diese ist jedoch gleichermaßen mit der in D1 offenbarten Lösung erreicht. Wie von der Beschwerdeführerin zutreffend vorgetragen, offenbart das Dokument D1 auf Seite 11, Zeilen 10 bis 15:
"Nach dem Zusammenfügen der beiden Drahthalterungselemente 101 und 102 greifen diese beiden derart überlappend ineinander, daß jeweils durch einen Vorsprung 171 des ersten Drahthalterungselements 101 sowie durch einen Vorsprung 222 des zweiten Drahthalterungselements 102 ein Kanal 23 gebildet wird, der die Nuten 11 der beiden Drahthalterungselemente 101 und 102 miteinander verbindet."
und zusätzlich in Anspruch 14:
"dass die Drahthalterungselemente (10, 101, 102) die Nuten (11) zur Aufnahme der Drähte (6) aufweisen und an ihren Enden Vorsprünge (17, 22) aufweisen, die beim Aneinanderfügen mit einem weiteren Drahthalterungselement (10, 101, 102) derart überlappend ineinandergreifen, daß sie in dem Verbindungsbereich den Nuten (11) entsprechende und zu der Kontaktierungsseite hin offene Kanäle (23) bilden."
8. Angesichts dieser Offenbarungsstellen in der Beschreibung, in den Ansprüchen und in den Figuren 3 und 5 von D1 ergibt sich das strittige Merkmal 2.1 nach Auffassung der Kammer ohne Weiteres aus D1. Wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen, bilden die Vorsprünge 17 zusammen mit den Vorsprüngen 22 des gegenüberliegenden Drahthalterungselement Kanäle 23, welche den Nuten 11 entsprechen und diese miteinander verbinden. Die Kammer schließt sich der Beschwerdeführerin dahingehend an, dass diese Kanäle sinnvollerweise nur dadurch realisiert sein können, dass die Vorsprünge 17 bzw. 22 die Nutseitenwand in den Nuten entsprechender Weise verlängern. Dafür spricht auch, dass die Kanäle 23 zur Führung der Drahtelemente nach D1 von einem Drahthalterungselement auf das nächste übergehen. Dies entspricht nach Auffassung der Kammer insgesamt dem Merkmal 2.1, da die Art und Weise, wie die Nutseitenwand zu verlängern ist, in Anspruch 1 nicht festgelegt ist.
9. Zwar hat die Beschwerdegegnerin vorgetragen, aus der Offenbarungsstelle auf Seite 11 von D1 folge lediglich, dass die Drahthalterungselemente einen Kanal bildeten, der die Nuten verbinde. Hieraus ergebe sich nicht, auf welche Art und Weise die Nuten verbunden würden, insbesondere nicht, ob die Nuten homogen verlängert würden. Auch aus den Zeichnungen, insbesondere den Figuren 3 und 5, folge dies nicht. So seien beispielsweise in der Figur 5 Kanten an den Übergängen der Nuten zu den Kanälen erkennbar. Daraus folge, dass ein Versatz der Vorsprünge zu den Nutseitenwänden vorliege und diese folglich die Nuten nicht homogen verlängerten. Zudem weise das Drahthalterungselement nach D1, anders als der beanspruchte Gegenstand, nicht eine Seite mit Vorsprüngen und eine Seite mit Rücksprüngen auf, sondern habe an beiden Enden Vorsprünge, wie ebenfalls aus der Figur 5 ersichtlich sei.
10. Die Argumente der Beschwerdegegnerin überzeugen die Kammer jedoch nicht. Wie von der Beschwerdeführerin zutreffend vorgetragen, sollen die Kanäle 23 gemäß Anspruch 14 von D1 den Nuten entsprechen. Hieraus ergibt sich für die Kammer, dass die Kanäle auch einen homogenen Übergang von einem Drahthalterungselement zum nächsten sicherstellen. Bei der Definition des Anspruchs 14 von D1 handelt es sich auch nicht, wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen, um eine zufällige Offenbarung. Schließlich wird die Formulierung von Patentansprüchen grundsätzlich mit Sorgfalt durchgeführt, da sie den Schutzgegenstand definieren.
11. Die Kammer ist folglich zu dem Schluss gelangt, dass das Merkmal 2.1 aus dem Dokument D1 bekannt ist.
Merkmal 2.2
12. In Bezug auf das ebenfalls strittige Merkmal 2.2 des Anspruchs 1, wonach die Vorsprünge zum Eintauchen in einen Rücksprung an einer Stirnseite eines angrenzenden Profilelementes ausgebildet sind, schließt sich die Kammer der Beschwerdeführerin dahingehend an, dass das Merkmal laut Anspruchswortlaut den Gegenstand des Anspruchs 1 nicht einschränkt, da es auf ein nicht näher definiertes "angrenzendes Profilelement" bezogen ist. Darüber hinaus sind die Dimension und die Position des Rücksprungs entgegen den Argumenten der Beschwerdegegnerin in Anspruch 1 auch nicht eindeutig festgelegt.
13. Das Merkmal M2.2 lautet:
"zum Eintauchen in einen Rücksprung (8) an einer Stirnseite eines angrenzenden Profilelementes (2a, 2b)"
und geht damit nicht über eine Zweckangabe hinaus. Das Merkmal definiert weder, dass das angrenzende Profilelement gleichartig wie jenes gemäß dem Gegenstand des Anspruchs 1 ausgebildet sein soll, noch, dass der Rücksprung in seiner Dimension und Position dem Vorsprung zu entsprechen hat.
14. Sogar, wenn angenommen würde, das Merkmal 2.2 schränke den Gegenstand des Anspruchs 1 ein, würde sich im Ergebnis nichts anderes ergeben, da auch aus dem Dokument D1 ein angrenzendes Profilelement 102 bekannt ist, das zwischen benachbarten Vorsprüngen 222 anspruchsgemäße Rücksprünge zum Eintauchen der Vorsprünge 171 aufweist, siehe insbesondere Figur 5.
15. Das Argument der Beschwerdegegnerin, aus D1 seien keine Rücksprünge bekannt, überzeugt die Kammer ebenso wenig. Das Vorhandensein eines Rücksprungs an einer Stirnseite bedingt nicht zwingend eine Materialausnehmung der Stirnseite des Drahthalterungselements von D1 in Längsrichtung des Profilelements. Wie deutlich aus der Figur 12 des Patents zu erkennen ist, ist viel mehr auch das Fehlen eines Vorsprunges an der Stirnseite des angrenzenden Elements ein "Rücksprung" in Sinne des Anspruchs, wie von der Beschwerdegegnerin vorgetragen.
16. Folglich ist auch das Merkmal 2.2 aus dem Dokument D1 bekannt.
17. Da beide bezüglich der Offenbarung des Dokuments D1 unter den Parteien strittigen Merkmale, 2.1 und 2.2, aus dem Dokument D1 bekannt sind, ist die Kammer zu dem Schluss gelangt, dass der Gegenstand des erteilten Anspruchs 1 gegenüber der Offenbarung des Dokuments D1 nicht neu ist.
Der Einspruchsgrund nach Artikel 100 a) i.V.m. 54 (2) EPÜ steht folglich der Aufrechterhaltung des Patents wie erteilt entgegen.
Zurückverweisung - Artikel 111 EPÜ und Artikel 11 VOBK
18. Die Hilfsanträge 1 bis 6 der Beschwerdegegnerin wurden bereits während des Verfahrens vor der Einspruchsabteilung eingereicht, dort jedoch nicht geprüft, da die Einspruchsabteilung den Einspruch zurückgewiesen hat.
19. Nach Auffassung der Kammer liegen besondere Gründe für eine Zurückverweisung gemäß Artikel 111 (1) Satz 2 EPÜ i.V.m. Artikel 11 VOBK vor. Denn damit wird eine Prüfung der Hilfsanträge durch zwei Instanzen ermöglicht.
20. Keine der Parteien hat Einwände gegen eine Zurückverweisung vorgebracht.
21. Die Angelegenheit ist daher zur weiteren Entscheidung an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.