T 0898/21 22-01-2024
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SCHEIBENBREMSE, SOWIE BREMSBELAG FÜR EINE SCHEIBENBREMSE
Rechtliches Gehör - Gelegenheit zur Stellungnahme (nein)
Rechtliches Gehör - Verletzung (ja)
Zurückverweisung - (ja)
Zurückverweisung - wesentlicher Mangel im Verfahren vor der ersten Instanz (ja)
I. Die Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) legte form- und fristgerecht Beschwerde gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung ein, mit der das europäische Patent Nr. 2 761 198 widerrufen wurde.
II. Der Einspruch des Einsprechenden (Beschwerdegegners) richtete sich gegen das Patent im vollen Umfang auf Grundlage sämtlicher Einspruchsgründe der Artikel 100 a) EPÜ (mangelnder Neuheit und erfinderischen Tätigkeit) sowie 100 b) EPÜ (mangelnder Ausführbarkeit).
III. Mit Mitteilung gemäß Artikel 15 (1) VOBK teilte die Kammer den Beteiligten ihre vorläufige Beurteilung der Sach- und Rechtslage mit, derzufolge die angefochtene Entscheidung voraussichtlich aufgehoben werden dürfte und die Gelegenheit an die Einspruchsabteilung zurückzuverweisen sein dürfte. Keine der Beteiligten nahm inhaltlich zu dieser Mitteilung Stellung.
IV. Am 22. Januar 2024 fand die mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer statt. Wegen der Einzelheiten des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll verwiesen.
Der Tenor der Entscheidung wurde am Schluss der mündlichen Verhandlung verkündet.
V. Die Beschwerdeführerin beantragte zuletzt
die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung,
oder hilfsweise,
die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf Basis eines der Anspruchssätze gemäß Hauptantrag oder Hilfsantrag 1 bis 6, eingereicht mit der Beschwerdebegründung.
VI. Der Beschwerdegegner beantragte zuletzt
die Zurückweisung der Beschwerde.
VII. Eine Wiedergabe der unabhängigen Ansprüche der Anträge ist angesichts des Entscheidungsausspruchs nicht erforderlich.
VIII. Das entscheidungserhebliche Vorbringen der Beteiligten wird im Detail in den Entscheidungsgründen diskutiert.
1. Rechtliches Gehör im Einspruchsverfahren, Artikel 113 (1) EPÜ
1.1 Die Kammer teilt die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass im Einspruchsverfahren ihr rechtliches Gehör gemäß Artikel 113 (1) EPÜ verletzt wurde.
1.2 Die Einspruchsabteilung stellte in Punkt 11 der angefochtenen Entscheidung fest, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 4 (welcher mit dem Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags und der Hilfsanträge 1 bis 3 übereinstimmt) nicht erfinderisch sei, nämlich ausgehend von einer allgemein bekannten Scheibenbremse, die einen als Schiebesattel ausgebildeten Bremssattel umfasst, wie im Dokument DE 29 25 785 A1 (Z1) abgebildet, in Kombination mit der Lehre von E4 (DE 197 06 123 A1). Der Fachmann würde ohne erfinderisches Zutun zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangen.
1.3 Die Kammer stimmt mit der Beschwerdeführerin darin überein, dass nicht aktenkundig ist, dass die Einspruchsabteilung oder der Beschwerdegegner zuvor schriftlich oder mündlich diesen Einwand erhoben haben. In ihren früheren Mitteilungen und in der Diskussion während der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung ist lediglich das Dokument E11 (DE 10 2007 057 992 A1) als Ausgangspunkt erwähnt, während die Frage der erfinderischen Tätigkeit ausgehend von dem Fachwissen oder dem Dokument Z1 in Kombination mit der Lehre des Dokuments E4 laut Protokoll nicht erörtert wurde.
1.4 Der Beschwerdegegner machte geltend, dass das Ergebnis der Beratung der Einspruchsabteilung dasselbe gewesen wäre, selbst wenn die Beschwerdeführerin Gelegenheit gehabt hätte, zu diesem Einwand Stellung zu nehmen. Darüber hinaus wurde der Inhalt von Z1 von der Einspruchsabteilung als Darstellung des allgemeinen Fachwissens betrachtet oder zumindest als sehr ähnlich zu der Offenbarung von E11 verwendet, die in dem bereits mündlich und schriftlich erörterten Einwand als nächstliegender Stand der Technik herangezogen worden sei. Aus der Argumentation der Beschwerdeführerin sei nicht unmittelbar ersichtlich, aus welchem Grund das Ergebnis der Entscheidung im Falle einer Zurückverweisung anders ausfallen würde.
1.5 Die Kammer ist von den Argumenten des Beschwerdegegners nicht überzeugt. Entscheidend ist nicht, ob die Einspruchsabteilung nach Anhörung der Beteiligten zu diesem Einwand zu demselben Ergebnis gekommen wäre, sondern ob den Beteiligten Gelegenheit gegeben wurde, sich zu diesem Einwand (Z1 als nächstliegender Stand der Technik in Kombination mit der Lehre von E4) zu äußern. Eine solche Möglichkeit wurde offensichtlich nicht gegeben, was von dem Beschwerdegegner auch nicht bestritten wurde. Es ist auch anzumerken, dass ein Einwand, der das allgemeine Fachwissen als Ausgangspunkt nahm, im Einspruchsverfahren ebenfalls nicht diskutiert wurde.
1.6 Folglich hatte die Beschwerdeführerin keine Gelegenheit, sich zu dem einzigen Grund zu äußern, auf dem die angefochtene Entscheidung in Bezug auf die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands von Anspruch 1 gemäß Hilfsantrag 4 (und gemäß Hauptantrag und den Hilfsanträge 1 bis 3) gestützt war. Dies verstößt gegen den aus Artikel 113 (1) EPÜ bestehenden Anspruch auf rechtliches Gehör und stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
2. Zurückverweisung an die Einspruchsabteilung, Artikel 111 (1) EPÜ und Artikel 11 VOBK
Nach der Auffassung der Kammer liegt somit ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, der die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und, wie von der Beschwerdeführerin beantragt und von dem Beschwerdegegner nicht beanstandet, die Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung gemäß Artikel 11 VOBK rechtfertigt.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben. 2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zur weiteren Entscheidung zurückverwiesen.