D 0006/21 07-02-2022
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I. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die von der Prüfungskommission auf Vorschlag des Prüfungsausschusses IV mit Schreiben vom 31. März 2021 getroffene Feststellung des Nichtbestehens der Vorprüfung der europäischen Eignungsprüfung 2021 (im Folgenden: Vorprüfung 2021) und die dieser zugrunde liegende Benotung der Vorprüfung 2021 mit 68 Punkten.
II. Der Beschwerdeführer legte hiergegen mit Schreiben vom 13. April 2021 Beschwerde ein und zahlte am gleichen Tag die Beschwerdegebühr. Die Prüfungskommission half der Beschwerde nicht ab und legte sie der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten (im Folgenden: Kammer) vor.
III. Die relevanten Teile der Aufgabe und des Prüferberichts für Aussage 12.4 der Vorprüfung 2021, welche für die vorliegende Entscheidung allein maßgeblich ist, lauten wie folgt:
a) Eine europäische Patentanmeldung für "Glaszusammensetzungen zur Verwendung als photochrome Linse" wurde vorgegeben, deren Beschreibung auszugsweise wie folgt lautet:
[05] Die erfindungsgemäße Glaszusammensetzung umfasst Siliziumdioxid, die Komponente A, die Komponente M und die Komponente X.
[06] Die Komponente A dient dazu, die Schmelztemperatur der Glaszusammensetzung herabzusetzen. Vorzugsweise liegt die Komponente A in der Zusammensetzung in einem Anteil von ca. 10 bis ca. 30 Gewichts% vor, z.B. einem Anteil von 10 bis 20 Gewichts%. Am meisten bevorzugt in der Zusammensetzung wird ein Anteil der Komponente A von 16 Gewichts-%.
[08] Die Komponente A senkt die Schmelztemperatur von Siliziumdioxid und reduziert die Kosten, doch die daraus resultierende Glaszusammensetzung, die Siliziumdioxid und die Komponente A enthält, ist wasserlöslich und instabil und somit ungeeignet für die Verwendung als Linse.
[09] Die Komponente M reduziert die Wasserlöslichkeit und verbessert die Stabilität der Glaszusammensetzung, aber nur, wenn sie in bestimmten Mengen vorliegt; andernfalls hat die Komponente M schädliche Wirkungen. Der Anteil der Komponente M in der Glaszusammensetzung muss ca. 5 bis ca. 10 Gewichts-% betragen. Beträgt der Anteil der Komponente M in der Glaszusammensetzung weniger als 5 Gewichts-%, so ist die Glaszusammensetzung nicht stabil genug für eine Verwendung. Beträgt der Anteil der Komponente M in der Glaszusammensetzung mehr als 10 Gewichts%, so härtet die Glaszusammensetzung bei hohen Temperaturen aus und ist somit unbrauchbar.
[16] Vorzugsweise wird das Siliziumdioxid auf ca. 1500 °C, ca. 1600 °C, ca. 1700 °C oder ca. 1800 °C erhitzt. Am meisten bevorzugt wird eine Erhitzung des Siliziumdioxids auf 1675 °C."
b) Die Ansprüche dieser Patentanmeldung gemäß Anspruchssatz I lauten auszugsweise wie folgt:
"I-1. Glaszusammensetzung zur Verwendung als photochrome Linse umfassend
Siliziumdioxid,
Komponente A, Komponente M und Komponente X.
I-8. Verfahren zur Herstellung einer photochromen Linse aus der Glaszusammensetzung nach einem der Ansprüche I-1 bis I-7, umfassend die Schritte
(i) Mischen der Komponenten A und M in einem ersten Behälter zur Bildung eines ersten Gemisches;
(ii) Erhitzen von Siliziumdioxid in einem zweiten Behälter auf eine hohe Temperatur;
(iii) Einbringen des ersten Gemisches aus Schritt i in den zweiten Behälter aus Schritt ii zur Bildung eines zweiten Gemisches;
(iv) Einbringen der Komponente X in das zweite Gemisch;
(v) Formen einer photochromen Linse; anschließend
(vi) Abkühlen lassen der photochromen Linse auf eine niedrige Temperatur."
c) Die Frage 12 mit Aussage 12.4 ist wie folgt formuliert:
"Geben Sie für jede der Aussagen 12.1 - 12.4 auf dem Antwortblatt an, ob die Aussage wahr oder falsch ist:
12.4 Anspruch I-8 ist aufgrund der Verwendung des Begriffs 'niedrig' unklar."
d) Laut Prüferbericht zur Vorprüfung 2021 war die Aussage 12.4 mit "falsch" zu bewerten. Dies wurde wie folgt begründet:
"Der Begriff 'niedrig' in Merkmal vi) von Anspruch I-8 unterscheidet sich deutlich von dem Begriff 'hoch' in Merkmal ii) von Anspruch I-8. Außerdem wird in der Beschreibung der Anmeldung der Begriff 'hoch' in Absatz [009] definiert. Dementsprechend ist im Kontext der Gesamtoffenbarung der Anmeldung der Begriff 'niedrig' als klar anzusehen.
Wenn ein relativer Begriff nicht das einzige Merkmal ist, das den Gegenstand eines Anspruchs vom Stand der Technik unterscheidet, kann die Verwendung des relativen Begriffs nach Artikel 84 EPÜ jedenfalls nicht beanstandet werden. Das Wort 'niedrig' ist nicht das einzige Merkmal, das den Anspruch vom Stand der Technik unterscheidet, denn das beanspruchte Verfahren ist nirgendwo im Stand der Technik offenbart. Der Begriff mag breit sein, aber er ist nicht zwingend unklar (RL 2019 F-IV, 4.6.1)."
IV. Der Beschwerdeführer hat die Aussage 12.4 als "richtig" beurteilt, was vom Prüfungsausschuss als unzutreffend bewertet wurde. Innerhalb der Frage 12 wurden ihm zwei zutreffende Antworten attestiert und damit wurde für Frage 12 insgesamt 1 Punkt vergeben.
V. Zur Begründung seiner Beschwerde machte der Beschwerdeführer bei der Bewertung seiner Beurteilung der Aussage 12.4 geltend, dass, falls die Formulierung "notwendigerweise unklar" in Aussage 12.4 verwendet worden wäre, man tatsächlich die Antwort "falsch" hätte geben können, obwohl der Anspruch in dieser Form das Prüfungsverfahren beim EPA kaum und ein Einspruchsverfahren ganz sicher nicht überstanden hätte. Im Rahmen der Vorprüfung für die europäische Eignungsprüfung sollte deshalb die vom Beschwerdeführer gegebene Antwort "wahr" zumindest gleichberechtigt zur Antwort "falsch" gelten. Auch das IP-Schulungsinstitut Delta Patents habe den Begriff "niedrig" im Gegensatz zum Begriff "hoch" eindeutig als nicht näher definiert und deshalb als unklar eingestuft, weil über die Tatsache hinaus, dass "niedrig" unterhalb von "hoch" liegt, keinerlei Angaben zum Begriff "niedrig" gemacht würden.
VI. Darüber hinaus machte der Beschwerdeführer geltend, dass
- wesentliche Mängel bei der anlässlich der Vorprüfung 2021 gelieferten Software während der Durchführung der Vorprüfung 2021 aufgetreten seien, aufgrund derer die vorgesehenen Pausen als Erholungszeiten auf wenige Minuten reduziert worden seien und das Stressniveau entsprechend erhöht gewesen sei;
- auch der gewählte Wortlaut der Aussagen 2.4 und 9.4 eine Beantwortung sowohl mit "wahr" als auch mit "falsch" erlaubt hätte.
VII. Weder der Präsident des Europäischen Patentamtes (EPA) noch der Präsident des Rats des Instituts der zugelassenen Vertreter (epi), denen nach Artikel 24 (4) Satz 1 der Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung für zugelassene Vertreter (VEP, Zusatzpublikation 2, ABl. EPA 2019, 2) in Verbindung mit Artikel 12 der Vorschriften in Disziplinarangelegenheiten von zugelassenen Vertretern (VDV, Zusatzpublikation 1, ABl. EPA 2021, 140) Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden war, äußerten sich schriftlich zur Beschwerde.
VIII. Der Beschwerdeführer stellte folgende Anträge:
"1. Die Beantwortung jeder der Fragen 2.4, 9.4 und 12.4 ist sowohl mit 'wahr' als auch 'falsch' möglich, wodurch die Prüfarbeit des Bewerbers mit 74 Punkten bewertet und die Note BESTANDEN vergeben wird.
2. Die Beantwortung mindestens einer der Fragen 2.4, 9.4 und 12.4 ist sowohl mit 'wahr' als auch 'falsch' möglich, wodurch die Prüfarbeit des Bewerbers mit mindestens 70 Punkten bewertet und die Note BESTANDEN vergeben wird.
3. Die Prüfarbeit des Bewerbers wird mit 68 Punkten bewertet und es wird augrund der aufgetretenen wesentlichen Mängel in der Software und der dadurch verursachten Nachteile für den Bewerber die Note BESTANDEN vergeben.
4. Die Beschwerdegebühr wird in vollem Umfang erstattet.
5. Es wird ein Hilfsantrag auf mündliche Verhandlung gestellt."
1. Die Beschwerde wurde form- und fristgerecht eingelegt sowie ordnungsgemäß begründet und die Beschwerdegebühr rechtzeitig eingezahlt. Sie entspricht also den in Artikel 24 (2) VEP niedergelegten Voraussetzungen und ist daher zulässig.
2. Auslegung der Anträge des Beschwerdeführers
2.1 Die Anträge sollen definieren, welche Rechtsfolge begehrt wird, das heißt, welche Rechte in Abänderung der angefochtenen Entscheidung zugesprochen werden sollen. Sie sollen so präzise formuliert werden, dass sie im Falle einer Gutheißung als Entscheidungsformel den Tenor der Entscheidung bilden können. Es geht in Anträgen mithin nur um die von der Beschwerdekammer auszusprechende Rechtsfolge, nicht um deren Begründung. Begründungen sind in Anträgen nicht aufzunehmen, da unterschiedliche Begründungen in verschiedenen Anträgen für dieselbe Rechtsfolge keinen Unterschied im Ergebnis bewirken. Eine beschwerdeführende Person kann damit nicht erreichen, dass sich die Beschwerdekammer mit unterschiedlichen Begründungen der beschwerdeführenden Person in einer gewissen Reihenfolge auseinandersetzt. Die Begründung ist Sache der Beschwerdekammer, die nicht an die Rechtsauffassung der beschwerdeführenden Person gebunden ist (vgl. D 11/19, Gründe 1.2).
2.2 In Anwendung dieser Grundsätze stellt die Kammer vorliegend fest, dass es dem Beschwerdeführer in seinen mit Ziffern 1 bis 3 nummerierten Anträgen ausschließlich um die Vergabe der Note "bestanden", also um die Rechtsfolge des Bestehens geht. Dies gilt unabhängig von den jeweiligen Begründungen, die der Beschwerdeführer in diese Aufträge aufgenommen hat.
2.3 Wenn also bereits aufgrund (auch nur) eines der vom Beschwerdeführer vorgetragenen Umstände die Vergabe der zum Bestehen der Vorprüfung notwendigen Gesamtpunktzahl 70 (vgl. Regel 6 (2) a) der Ausführungsbestimmungen zu den Vorschriften über die europäische Eignungsprüfung (ABVEP, Zusatzpublikation 2, ABl. EPA 2019, 18) gerechtfertigt ist, ist das Begehren des Beschwerdeführers erfolgreich und der Beschwerde vollumfänglich stattzugeben. Die Kammer gelangt daher im Wege der Auslegung zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer als Hauptantrag begehrt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben sowie für seine Prüfungsarbeit die Note "bestanden" zu vergeben.
2.4 Entsprechend hat die Kammer den hinsichtlich der Bedingung für sein Eintreten nicht näher spezifizierten Hilfsantrag auf mündliche Verhandlung dergestalt ausgelegt, dass er nur dann greifen soll, wenn der oben formulierte Hauptantrag nicht gewährt wird.
3. Antrag auf Aufhebung der angefochtenen Entscheidung
3.1 Gemäß Artikel 24 (1) VEP und nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten (im Anschluss an D 1/92, ABl. EPA 1993, 357) sind Entscheidungen der Prüfungskommission grundsätzlich nur dahin gehend zu überprüfen, ob nicht die Vorschriften der VEP oder der bei ihrer Durchführung anzuwendenden Bestimmungen oder höherrangiges Recht verletzt wurden. Es ist nicht die Aufgabe der Beschwerdekammer, das Prüfungsverfahren sachlich zu überprüfen. Den Prüfungsausschüssen und der Prüfungskommission steht nämlich im Grundsatz ein Beurteilungsspielraum zu, der nur sehr begrenzt der gerichtlichen Überprüfung zugänglich ist. Nur wenn der Beschwerdeführer geltend machen kann, dass die angegriffene Entscheidung auf schweren und eindeutigen Fehlern beruht, kann dies von der Beschwerdekammer berücksichtigt werden. Der behauptete Fehler muss so offensichtlich sein, dass er ohne Wiedereröffnung des gesamten Bewertungsverfahrens und ohne wertende Neubetrachtung der Prüfungsarbeit festgestellt werden kann. Das ist etwa dann der Fall, wenn die Prüfungsaufgabe widersprüchlich oder unverständlich formuliert ist (D 13/02) oder wenn Prüfer bei ihrer Beurteilung von einer technisch oder rechtlich falschen Beurteilungsgrundlage ausgehen, so dass die angefochtene Entscheidung auf dieser beruht (D 2/14). Alle anderen Behauptungen der Art, dass die Prüfungsarbeiten unrichtig bewertet worden seien, fallen nicht in die Kompetenz der Kammer, da Werturteile grundsätzlich der gerichtlichen Kontrolle entzogen sind (vgl. D 1/92, Gründe 3 bis 5).
3.2 Diese Rechtsprechung zum beschränkten Umfang der gerichtlichen Überprüfungsbefugnis, die bezogen auf die europäische Eignungsprüfung i.S.v. Artikel 1 (1) VEP entwickelt wurde, gilt entsprechend für die Vorprüfung, wie auch die Vorschriften der VEP gemäß Artikel 1 (7) VEP auf die Vorprüfung entsprechend anzuwenden sind. Insoweit die Vergabe von Punkten für die Prüfungsaufgaben der Vorprüfung anhand eines im Voraus festgelegten Schemas erfolgt, fehlt allerdings der für die Bewertung der Prüfungsaufgaben der europäische Eignungsprüfung (vgl. Regel 21 ABVEP) wesentliche Entscheidungsspielraum der Prüfungskommission, so dass die diesbezügliche Beschränkung der richterlichen Kontrolle auf eindeutige Ermessensfehler für die Vorprüfung nicht von Bedeutung ist. In Bezug auf das Format des Multiple-Choice ist sodann dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die von den Bewerbern vorzunehmende Beurteilung der einzelnen Aussagen mit "wahr" oder "falsch" keinen Raum für vom Prüferbericht abweichende Antworten lässt, selbst wenn sich diese bei einer gebotenen sachkundigen, objektiven Betrachtungsweise und dem zugrunde zu legenden allgemeinen Verständnis vertretbar begründen ließen. Es ist auch für die Bewerber nicht möglich, Hinweise oder Bemerkungen an den Prüfer zu richten. Etwaige Angaben dieser Art werden nicht berücksichtigt (siehe Anweisungen zur Beantwortung der Aufgabe und Bewertungsschema zur Vorprüfung 2021, Nr. 1 d)). Der Formulierung des Sachverhalts und der zu wertenden Aussagen einer Frage kommt daher bei der Vorprüfung allergrößte Bedeutung zu. Es muss deshalb bei der Stellung einer Prüfungsaufgabe für die Vorprüfung sichergestellt sein, dass bei einer sachkundigen und objektiven Betrachtungsweise bzw. Auslegung des Wortlauts des Sachverhalts und der jeweiligen Aussagen der Fragen nur eine Antwort auf die jeweilige Aussage gegeben werden kann, d.h. die Aussage muss eindeutig entweder als "wahr" oder als "falsch" zu bezeichnen sein. Widersprüchlich, missverständlich oder zweideutig formulierte Sachverhalte und/oder Aussagen können nämlich zur Folge haben, dass Bewerber diese abweichend vom Lösungsschema der Prüfungskommission beurteilen, ohne die Möglichkeit zu haben, eine nicht abwegige, sondern vertretbare abweichende Meinung darzulegen. Anders als bei der europäischen Eignungsprüfung können deshalb solche Mängel in der Aufgabenstellung nicht schon im Rahmen der Korrektur der Arbeiten erkannt und bei der Bewertung berücksichtigt werden, sondern lassen sich - wenn überhaupt - nur im Rahmen einer Beschwerde korrigieren (siehe auch D 15/16, Gründe 2.3). Widersprüchlich, missverständlich oder zweideutig formulierte Sachverhalte und/oder Aussagen stellen daher einen schwerwiegenden und offensichtlichen Fehler dar (vgl. auch D 3/19, Gründe 2.3 mit Verweis auf D 13/02, Gründe 4).
3.3 Wenn dagegen eine Aufgabenstellung sinnvoll und logisch und daher nach allgemeinem Verständnis klar ist, welche Antwort von dem Bewerber erwartet wird, kann dieser nicht auf Ausnahmen von der Regel vertrauen oder Interpretationen der Aufgabe erörtern, um zu zeigen, dass auch eine abweichende Antwort in Sonderfällen und bestimmten Situationen denkbar wäre (vgl. D 5/16, Gründe 33). Im Falle einer Vorprüfung, um die es auch im vorliegenden Fall geht, betrifft die vom Beschwerdeführer geforderte Überprüfung daher nicht die Frage, ob die Bewertung der Beurteilung der jeweiligen Aussage strictu sensu, d. h. die vom Beschwerdeführer vorgenommene Beurteilung der betreffenden Aussage mit "wahr" oder "falsch", richtig ist. Es geht vielmehr um die "richtige" Auslegung bzw. das nachvollziehbare allgemeine Verständnis der betreffenden Aussage einschließlich des der Prüfungsfrage zugrundeliegenden Sachverhalts und der daraus zu ziehenden Schlussfolgerung, ob die betreffende Aussage eindeutig mit "wahr" oder "falsch" zu beurteilen war. Die Bewertung selbst, also die Punktevergabe erfolgt dann in der Regel anhand des einfachen Lösungsschemas einer Multiple-Choice-Aufgabe mit Lösungsangaben, die entweder "wahr" oder "falsch" sind, völlig objektiv und richtig (siehe D 15/16, Gründe 2.2).
3.4 Die Kammer ist unter Zugrundelegung der gerade geschilderten Grundsätze aus nachfolgenden Gründen der Auffassung, dass die Aussage 12.4 unter Berücksichtigung des ihr zugrunde liegenden Sachverhalts nicht klar und eindeutig so verstanden werden musste, dass sie entsprechend dem Prüferbericht als "falsch" zu beurteilen war.
3.4.1 In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach den allgemeinen Grundsätzen, die die Rechtsprechung zur Klarheit nach Artikel 84 EPÜ entwickelt hat (vgl. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 9. Aufl., Juli 2019, (im Folgenden "Rechtsprechung"), II.A.3.1), die Ansprüche als solche widerspruchsfrei (siehe z. B. T 2/80, ABl. EPA 1981, 431) und für den Fachmann ohne Bezugnahme auf den Inhalt der Beschreibung aus sich heraus verständlich sein müssen (siehe z. B. T 2/80, T 1129/97, ABl. EPA 2001, 273, T 49/99; Richtlinien für die Prüfung im EPA, Stand November 2019 (im Folgenden "RL"), F-IV 4.1 und 4.2). Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern können relative Begriffe in den Ansprüchen verwendet werden, sofern der Fachmann in der Lage ist, ihre Bedeutung in einem bestimmten Zusammenhang zu verstehen (siehe z. B. T 860/93, ABl. EPA 1995, 47, und weitere Entscheidungsnachweise in Rechtsprechung, II.A.3.6; RL F-IV 4.6.1). Die Beschreibung ist für die Auslegung der Ansprüche heranzuziehen und wurde in einigen Fällen auch bei der Bestimmung der Klarheit und Prägnanz berücksichtigt (siehe Rechtsprechung, II.A.6.3).
3.4.2 Was nun die Aussage 12.4 betrifft, so steht außer Frage, dass der Begriff "niedrig" in Merkmal (vi) des Anspruchs I-8 ein relativer Begriff ist und dass der Begriff "niedrige Temperatur" keine allgemein anerkannte Bedeutung auf dem einschlägigen technischen Gebiet hat. Es ist auch offensichtlich, dass die Beschreibung der Anmeldung die genaue Bedeutung des Begriffs "niedrige Temperatur" nicht offenbart, wie vom Beschwerdeführer zu Recht angeführt.
3.4.3 Im Prüferbericht wird jedoch nicht erläutert, warum der Anspruch I-8 selbst nicht klar sein muss und warum die Beschreibung vorliegend verwendet werden kann. In diesem Zusammenhang weist die Kammer darauf hin, dass in einer Reihe von Entscheidungen auf die Grenzen der Verwendung der Beschreibung und der Zeichnungen bei der Prüfung im Zusammenhang mit dem Klarheitserfordernis hingewiesen wurde (siehe Rechtsprechung, II.A.6.3.5, und z. B. T 2/80, T 1129/97, Gründe 2.1.2, und T 49/99, Gründe 12). Daher stellt sich die grundsätzliche Frage, ob eine Aussage für eine Vorprüfung geeignet ist, wenn ihre Antwort im Lichte der einschlägigen Rechtsprechung nicht klar und eindeutig mit "richtig" oder "falsch" angegeben werden kann.
3.4.4 In Prüferbericht wird die erwartete Antwort "falsch" damit begründet, dass der Begriff "niedrig" in Merkmal (vi) des Anspruchs I-8 eindeutig von dem Begriff "hoch" in Merkmal (ii) dieses Anspruchs unterscheidbar sei, dass die Beschreibung der Anmeldung den Begriff "hoch" in Absatz [009] definiere und dass dementsprechend im Kontext der gesamten Offenbarung der Anmeldung der Begriff "niedrig" als eindeutig angesehen werde.
3.4.5 Diese Begründung im Prüferbericht rechtfertigt jedoch nicht klar und eindeutig die Antwort "falsch". Es ist nicht nachvollziehbar, warum es für die Klarheit des Begriffs "niedrig" in Merkmal (vi) des Anspruchs I-8 wichtig sein soll, dass er sich deutlich von dem Begriff "hoch" in Merkmal (ii) dieses Anspruchs unterscheidet. Auch in der Beschreibung der Anmeldung gibt es keinen Hinweis auf diesen Ansatz. Darüber hinaus enthält Absatz [009] der Anmeldung keine Definition des Begriffs "hoch", und selbst wenn dies der Fall wäre (was eventuell bejaht werden könnte, wenn man zusätzlich oder alternativ Absatz [16] heranzieht), ist nicht nachvollziehbar, warum dies zur Klarheit des Begriffs "niedrig" im Vergleich zum Begriff "hoch" beitragen soll. An keiner Stelle in der Beschreibung der Anmeldung wird angegeben, dass die beiden Begriffe in einem solchen Verhältnis zueinander stehen. Daher lässt sich aus der Beschreibung auch kein konkreter Wert oder eine Definition für eine "niedrige Temperatur" ableiten, worauf der Beschwerdeführer zu Recht hinweist.
3.4.6 Vor diesem Hintergrund hält die Kammer die Erwartung, dass Prüflinge in der Lage sein sollten, die Klarheit des Begriffs "niedrige Temperatur" in Merkmal (vi) des Anspruchs I-8 aus dem Begriff "hohe Temperatur" in Merkmal (ii) dieses Anspruchs abzuleiten, nicht für gerechtfertigt.
3.4.7 Des weiteren wird im Prüferbericht zu Aussage 12.4 folgendes ausgeführt:
"Wenn ein relativer Begriff nicht das einzige Merkmal ist, das den Gegenstand eines Anspruchs vom Stand der Technik unterscheidet, kann die Verwendung des relativen Begriffs nach Artikel 84 EPÜ jedenfalls nicht beanstandet werden. Das Wort 'niedrig' ist nicht das einzige Merkmal, das den Anspruch vom Stand der Technik unterscheidet, denn das beanspruchte Verfahren ist nirgendwo im Stand der Technik offenbart. Der Begriff mag breit sein, aber er ist nicht zwingend unklar (RL 2019 F-IV, 4.6.1)."
3.4.8 Diese weitere Begründung rechtfertigt aus Sicht der Kammer aus den nachfolgend erläuterten Gründen ebenfalls nicht, die Antwort auf die Aussage 12.4 klar und eindeutig als "falsch" zu bezeichnen.
3.4.9 Der in Bezug genommene Abschnitt F-IV 4.6.1 der Richtlinien lautet wie folgt:
"Relative Begriffe wie "dünn", "weit" oder "stark" bzw. ähnliche Ausdrücke sind ein potenziell unklares Element, weil sich ihre Bedeutung je nach Kontext ändern kann. Ihre Verwendung ist nur zulässig, wenn ihre Bedeutung im Kontext der gesamten Offenbarung der Anmeldung bzw. des Patents klar ist.
Wird jedoch ein relativer oder ähnlicher Begriff vom Anmelder als einziges Merkmal zur Unterscheidung des Anspruchsgegenstands vom Stand der Technik verwendet, so ist die Verwendung dieses Begriffs nach Art. 84 zu beanstanden, es sei denn, der betreffende Ausdruck hat auf dem betreffenden Fachgebiet eine allgemein anerkannte Bedeutung, z. B. "Hochfrequenz" in Bezug auf einen Verstärker, und dies ist die beabsichtigte Bedeutung.
Hat der relative Begriff keine allgemein anerkannte Bedeutung, so fordert die Abteilung den Anmelder auf, ihn möglichst durch eine präzisere Angabe aus dem Offenbarungsgehalt der ursprünglich eingereichten Fassung zu ersetzen. Findet sich in der ursprünglichen Offenbarung keine Basis für eine klare Definition und ist der Begriff nicht mehr das einzige Unterscheidungsmerkmal, so kann er in der Regel in dem Anspruch belassen werden, da seine Streichung im Allgemeinen unter Verstoß gegen Art. 123 (2) zu einer Erweiterung des Gegenstands der Anmeldung über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus führen würde."
3.4.10 Es erscheint höchst fraglich, ob der zweite Absatz dieser Passage im Umkehrschluss bedeutet, dass, wenn ein relativer Begriff nicht das einzige Merkmal ist, das den Gegenstand eines Anspruchs vom Stand der Technik unterscheidet, die Verwendung dieses relativen Begriffs nicht nach Artikel 84 EPÜ beanstandet werden kann. Vielmehr könnte man argumentieren, dass dann der erste Absatz des zitierten Abschnitts gilt, so dass, wenn ein relativer Begriff nicht das einzige Unterscheidungsmerkmal ist, immer noch zu verlangen ist, dass seine "Bedeutung im Kontext der gesamten Offenbarung der Anmeldung bzw. des Patents klar ist". Darüber hinaus wird im dritten Absatz zwar darauf hingewiesen, dass ein relativer Begriff in einem Anspruch beibehalten werden kann, wenn es keine präzisere Formulierung gibt und die Streichung dieses Begriffs gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen würde, aber es wird nicht gesagt, dass der relative Begriff dann klar wäre. Selbst wenn der Begriff "niedrig" nicht das einzige Merkmal ist, das den Anspruch I-8 vom Stand der Technik unterscheidet, bedeutet dies also nicht, dass der Anspruch I-8 klar ist und dass die Aussage 12.4 daher als "falsch" zu bewerten ist. Zuletzt ist anzumerken, dass die Aussage "Der Begriff mag breit sein, aber er ist nicht zwingend unklar" im Prüferbericht nicht rechtfertigt, dass "falsch" die einzig richtige Antwort auf die Aussage 12.4 ist. Im Gegenteil: Die Aussage, dass ein weit gefasster Anspruch nicht notwendigerweise unklar ist, bedeutet lediglich, dass die Breite eines Begriffs nicht als Grund für einen Klarheitseinwand herangezogen werden kann. Dennoch kann ein weit gefasster Begriff aus anderen Gründen unklar sein, z. B. weil er ein relativer Begriff ist.
3.4.11 Aus diesen Gründen kann bei einer sachkundigen und objektiven Betrachtungsweise bzw. Auslegung des Wortlauts des Sachverhalts, der der Vorprüfungsfrage 12 und der Aussage 12.4 zugrunde liegt, die Antwort "falsch" nicht als die einzig richtige Antwort auf die Aussage 12.4 angesehen werden. Folglich kann die Frage, ob die Aussage 12.4 richtig ist oder nicht, nicht mit "richtig" oder "falsch" beantwortet werden, wie es bei einer "Multiple-Choice"-Frage in der Vorprüfung aber erforderlich ist.
3.5 Die angefochtene Entscheidung beruht nach dem gerade Gesagten auf einem schweren und eindeutigen Fehler, der ohne wertende Neubetrachtung der Prüfungsarbeit feststellbar ist. Die vom Beschwerdeführer gerügte Bewertung ist deshalb rechtsfehlerhaft erfolgt und der Beschwerde muss insofern stattgegeben werden. Gemäß Artikel 24 (4) Satz 2 VEP ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben.
4. Antrag auf Abänderung der angefochtenen Entscheidung
4.1 Die Beschwerdekammer sieht vorliegend besondere, gegen eine Zurückverweisung sprechende Gründe im Sinne von Artikel 12 der Ergänzenden Verfahrensordnung der Beschwerdekammer in Disziplinarangelegenheiten (VOBKD, Zusatzpublikation 1, ABl. EPA 2021, 67) gegeben, die es rechtfertigen, dass die Beschwerdekammer anstelle des zuständigen Prüfungsausschusses bzw. der zuständigen Prüfungskommission die Bewertung unter Vergabe von Einzelpunkten berichtigt und hierauf basierend eine Vergabe der Noten "bestanden" oder "nicht bestanden" vornimmt (vgl. insofern bereits D 6/14, Gründe 9 ff.; D 1/16, Gründe 2.2; D 3/19, Gründe 3.1). Im Rahmen ihrer beschränkten Überprüfung der Entscheidung kann die Kammer nämlich auf der Grundlage des Antwortblatts des Beschwerdeführers, wie sogleich gezeigt wird, die korrekte Anzahl der Punkte ohne Eingriff in einen Ermessensspielraum des Prüfungsausschusses bzw. der Prüfungskommission ermitteln.
4.2 Die Antwort des Beschwerdeführers zu Aussage 12.4 ist als richtig zu bewerten. Da er somit bei der Frage 12 insgesamt drei statt zwei Aussagen korrekt beurteilt hat, waren entsprechend dem Bewertungsschema für die Vorprüfung (siehe Anweisungen zur Vorprüfung, Nr. 2 a)) für Frage 12 3 Punkte statt 1 Punkt zu vergeben. Die vom Beschwerdeführer erreichte Gesamtpunktzahl für die Vorprüfung 2021 erhöht sich daher von 68 auf 70, so dass bereits aus diesem Grund gemäß Regel 6 (2) a) ABVEP die Note "bestanden" zu vergeben ist.
5. Weitere Rügen des Beschwerdeführers
Vor dem Hintergrund des oben festgestellten Fehlers im Zusammenhang mit der Aussage 12.4 (siehe oben Ziffer 3.4) sowie der Konsequenz hieraus, die angefochtene Entscheidung abzuändern (siehe oben Ziffer 4), bedarf es nicht mehr der Prüfung der weiteren in der Beschwerde aufgeführten Rügen in Bezug auf die Aussagen 2.4 und 9.4 sowie auf die mangelhafte Prüfungssoftware. Hierauf kommt es nicht mehr an.
6. Mündliche Verhandlung
Da der Hauptantrag des Beschwerdeführers erfolgreich ist, war eine nur hilfsweise beantragte mündliche Verhandlung nicht anzuberaumen und konnte ohne eine solche entschieden werden.
7. Rückzahlung der Beschwerdegebühr
Da der vorliegenden Beschwerde stattzugeben ist, entspricht es der Billigkeit, die Rückzahlung der ganzen Beschwerdegebühr gemäß Artikel 24 Satz 3 VEP anzuordnen.
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Für die Prüfungsarbeit des Beschwerdeführers im Rahmen der Vorprüfung zur Europäischen Eignungsprüfung 2021 wird nach Regel 6 (2) a) ABVEP die Note "bestanden" vergeben.
3. Die Beschwerdegebühr wird zurückerstattet.