AUS DEN VERTRAGS- / ERSTRECKUNGSSTAATEN
FR Frankreich
Urteil der Cour de Cassation (Kassationsgerichtshof), Kammer für Handelssachen, vom 26. Oktober 1993*
Vorsitzender: | Herr Bézard |
Berichterstatter: | Herr Gomez |
Stichwort: Alfuzosin
Artikel: 6 und 8 des geänderten Gesetzes vom 2. Januar 1968 (= Artikel: L. 611-10, 11 und 16 des Gesetzes über geistiges Eigentum von 1992)
(Artikel: 52 (4) und 54 (5) EPÜ)
Schlagwort: "Klage auf Zahlung von Entgelt" - "Arzneimittel" - "zwei Patente beanspruchen den gleichen Wirkstoff für unterschiedliche therapeutische Anwendungen" - "Patentierbarkeit der zweiten medizinischen Indikation (verneint)"
Leitsatz
Die zweite medizinische Indikation eines bekannten Arzneimittels ist nicht patentierbar.
Sachverhalt und Verfahren
1. Im vorliegenden Rechtsstreit hat Herr Najer die Firma Synthélabo verklagt, der er vorwirft, das ihm für die Verwertung des pharmazeutischen Erzeugnisses Xatral zustehende Entgelt nicht gezahlt zu haben. Herr Najer beruft sich auf den Vertrag vom 3. Februar 1972, in dem die Aufgaben eines technischen Direktors, die er bei dieser Firma bis 1979 wahrgenommen hat, festgelegt sind und der vorsieht, daß "sich der variable Bestandteil von Herrn Najers Bezügen anhand eines Prozentsatzes vom Umsatz ermittelt, der mit dem Verkauf pharmazeutischer Erzeugnisse an Dritte erzielt wird, die in den chemischen Laboratorien der Herrn Najer unterstehenden Abteilung entwickelt worden und durch von der Synthélabo angemeldete Patente geschützt sind " und daß "diejenigen Patente einen Anspruch auf anteilige Bezüge begründen, die zwischen dem 31. Mai 1972 und dem Tag des Ausscheidens von Herrn Najer aus dem Konzern angemeldet werden".
2. 1977 ist das Molekül Alfuzosin in der von Herrn Najer damals geleiteten chemischen Forschungsabteilung isoliert worden. Die Firma Synthélabo hat 1978 die Patentanmeldung Nr. 78 03175 eingereicht, die insbesondere diesen Wirkstoff zur Behandlung kardiovaskulärer Krankheiten zum Gegenstand hatte, und dann 1985 ein zweites Patent Nr. 85 07950 angemeldet, in dem ein "Stoffgemisch enthaltend Alfuzosin in Verbindung mit jedem geeigneten Träger zur Behandlung von Harnwegserkrankungen" beansprucht wurde. Im November 1988 hat die Firma Synthélabo das auf Alfuzosin basierende pharmazeutische Erzeugnis Xatral zur Behandlung von Harnwegserkrankungen auf den Markt gebracht.
3. Am 7. April 1989 hat Herr Najer die Firma Synthélabo auf Zahlung des vertraglich vereinbarten Entgelts verklagt, und behauptet, daß das Patent Nr. 78 03175 das Erzeugnis Xatral umfasse. Die Firma machte geltend, daß dieses Erzeugnis nur durch das zweite Patent geschützt sei. Das Tribunal de grande instance de Paris (Landgericht Paris) hat mit Urteil vom 29. März 1990 Herrn Najers Klage stattgegeben und seine Forderung auf Zahlung von Entgelt als begründet befunden.
4. Mit dem angefochtenen Urteil vom 11. Juni 19911 hat die Cour d'appel (Oberlandesgericht) diese Entscheidung mit folgender Begründung abgeändert:
"Maßgeblich für die Vergütung ist schließlich der Verkauf des pharmazeutischen Erzeugnisses und nicht der Verkauf des in der Zusammensetzung enthaltenen Wirkstoffs." (...)
Das pharmazeutische Erzeugnis ist gemäß der Definition des Artikels L.511 des Code de la Santé Publique eine Spezialität:
"Arzneimittel sind alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel zur Heilung oder Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet werden, sowie alle Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden."
Dieselbe Definition ist in der Richtlinie 65/65/EWG des Rates enthalten.
Ein Arzneimittel wird im wesentlichen durch den therapeutischen Verwendungszweck des Stoffes gekennzeichnet, aus dem es besteht.
Die Rechtsprechung hat stets zwischen dem Wirkstoff auf der einen und dem pharmazeutischen Erzeugnis auf der anderen Seite unterschieden, denn nur das Erzeugnis weist die erwähnte Zweckbestimmung auf und muß - um als solches patentiert zu werden - nicht nur die Krankheit angeben, die es heilen bzw. der es vorbeugen soll, sondern auch die Anweisungen für den Gebrauch, d. h. die Dosierung und die Verabreichungsformen. (...)
Es ist (...) unstreitig, daß der chemische Stoff Alfuzosin vor dem 10. August 1979 entwickelt worden ist.
Um festzustellen, ob dies auch für das pharmazeutische Erzeugnis gilt, ist der Schutzumfang des 1978 angemeldeten Patents zu untersuchen. (...)
Das Patent erstreckt sich daher sowohl auf einen chemischen Stoff als auch auf ein pharmazeutisches Erzeugnis.
Allerdings wird - wie auch Synthélabo betont - nur eine einzige therapeutische Anwendung im kardiovaskulären Bereich angegeben, und zwar gegen Bluthochdruck.
Das pharmazeutische Erzeugnis Xatral ist dagegen speziell zur Behandlung von Harnwegserkrankungen bestimmt. (...)
Es kann also nicht wirksam behauptet werden, das Arzneimittel Xatral falle in den Schutzbereich des Patents von 1978. (...)
Wie Synthélabo zu Recht geltend macht, ergibt sich aus der Definition eines Arzneimittels als einer Spezialität, daß ein und dasselbe Erzeugnis als neues Arzneimittel gilt, wenn es für eine andere therapeutische Anwendung dargeboten wird.
Die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts hat in einer Reihe von Entscheidungen vom 5. Dezember 19842 die Patentierbarkeit der zweiten medizinischen Indikation bejaht, wenn diese Indikation neu und erfinderisch ist; verschiedene ausländische Entscheidungen sind dem gefolgt. (...)
Aus dem obengenannten Artikel 8 des Gesetzes von 1978 geht eindeutig hervor, daß eine zweite medizinische Indikation grundsätzlich patentierbar ist. (...)
Im vorliegenden Fall ist die Verwendung von Alfuzosin als Arzneimittel zur Behandlung von Harnwegserkrankungen nicht im Stand der Technik und insbesondere nicht im Patent von 1978 enthalten (auch nicht im Zusatzzertifikat von 1979, in dem die fehlerhafte Formel des Patents richtiggestellt wurde).
Synthélabo hat also nach einem ersten Patent betreffend die Anwendung von Alfuzosin bei kardiovaskulären Erkrankungen zu Recht ein zweites Patent für eine neue, ganz andere und erfinderische Anwendung erhalten. (...)
Schließlich ist es unerheblich, wenn Herr Najer vorbringt, daß das Patent Nr. 78 03175 "seinem Inhaber das Recht verleihe, die Verwendung von Alfuzosin zur Herstellung von Arzneimitteln für jedwede medizinische Indikation zu untersagen", und hieraus zu folgern sei, "daß die Herstellung von Xatral verboten werden könne" und "Xatral somit durch die Ansprüche des Patents von 1978 geschützt werde".
Hier wird der Umfang des Rechtstitels mit dem Schutzbereich verwechselt.
Anwendungen, die in einem Patent nicht beschrieben und beansprucht werden, können durch dieses Patent auch nicht geschützt werden.
Auch wenn der Inhaber eines Erzeugnispatents die Verwertung einer neuen, durch ein anderes Patent geschützten Anwendung untersagen kann, so darf er diese gleichwohl nicht ohne Zustimmung des Inhabers des für die neue Anwendung erteilten Patents verwerten; die neue Anwendung eines bekannten, patentierten Produkts ist zwar eine abhängige Erfindung, das Recht an dieser Erfindung steht jedoch dem Inhaber des zweiten - vom ersten abhängigen - Patents zu.
Das pharmazeutische Erzeugnis Xatral war am 10. August 1979 mithin nicht durch ein von der Synthélabo angemeldetes Patent geschützt.
5. Über die von Herrn Najer eingelegte Revision entscheidet die Cour de Cassation (Kassationsgerichtshof) wie folgt:
Urteilsgründe (Auszug)
Zu Punkt 3 der einzigen Kassationsrüge:
Im Hinblick auf die Artikel 6 und 8 des Gesetzes vom 2. Januar 1968.
Dem angefochtenen Urteil zufolge hat Herr Henri Najer, bis 1979 technischer Direktor der Firma Synthélabo, diese auf Zahlung des ihm zustehenden Entgelts für die Verwertung des pharmazeutischen Erzeugnisses Xatral verklagt, für das am 28. Mai 1985 das unter der Nr. 85 07950 erteilte Patent angemeldet wurde und das "ein pharmazeutisches Stoffgemisch enthaltend Alfuzosin" zum Gegenstand hat. Dabei hat er sich auf das am 6. Februar 1978 angemeldete Patent Nr. 78 03715, das "Alkylendiamin-Amide und ihre therapeutische Anwendung" zum Gegenstand hat, sowie auf die Klauseln eines Vertrags vom 3. Februar 1972 berufen, in dem die Aufgaben eines technischen Direktors festgelegt sind und der insbesondere vorsieht: "Der variable Bestandteil von Herrn Najers Bezügen ermittelt sich anhand eines Prozentsatzes vom Umsatz, den die Gesellschaften des Konzerns damit erzielen, daß Dritten pharmazeutische Erzeugnisse verkauft werden, die in den chemischen Laboratorien der Herrn Najer unterstehenden Abteilung entwickelt worden und durch von Synthélabo angemeldete Patente geschützt sind".
Die Abweisung der Klage wird in dem Urteil damit begründet, daß das Patent Nr. 78 03175 für den beschriebenen und anschließend als "Alfuzosin" bezeichneten Wirkstoff nur dessen therapeutische Anwendung als Mittel gegen Bluthochdruck im kardiovaskulären Bereich beanspruche, wogegen das Xatral genannte Erzeugnis, im Patent Nr. 85 07950 als Alfuzosin in Verbindung mit jedem geeigneten Träger enthaltend gekennzeichnet, speziell zur Behandlung von Harnwegserkrankungen bestimmt sei; die Verwendung von Alfuzosin als Arzneimittel zur Behandlung von Harnwegserkrankungen gehöre nicht zum Stand der Technik, die zweite medizinische Indikation dieses Wirkstoffs sei daher neu und erfinderisch.
Dieses Urteil der Cour d'appel verstößt gegen die eingangs genannten Rechtsvorschriften.
Aus diesen Gründen (..) wird das Urteil vom 11. Juni 1991 (..) in allen Teilen aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Cour d'appel de Lyon (Oberlandesgericht Lyon) zurückverwiesen.
FR 1/95
* Übersetzung des in PIBD Nr. 557-III-1 (1994) veröffentlichten Textes.
1 PIBD Nr. 511-III-668 (1991) = Jahrbuch 1992, 116 mit Anmerkung von P. Mathély.
2 ABl. EPA 1985, 60 ff.