T 0258/91 (Nitrofarbstoffe/WELLA) 19-02-1993
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4-(N-Ethyl,N-2'-hydroxyethyl)-amino-1-(2"- hydroxyethyl)-amino-2-nitro-benzol und Mittel zur Färbung von Haaren
Neuheit (ja, Auswahl)
Erfinderische Tätigkeit (ja)
novelty (yes)
inventive step (yes)
Sachverhalt und Anträge
I. Die am 1. März 1991 unter gleichzeitiger Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr erhobene Beschwerde richtet sich gegen die am 19. November 1990 verkündete und am 3. Januar 1991 schriftlich begründete Entscheidung der Einspruchsabteilung der Europäischen Patentamts, mit der ein Einspruch gegen das am 14. Dezember 1988 aufgrund von 6 Patentansprüchen erteilte europäische Patent 0 184 061 (angemeldet am 16. November 1985 unter der Nummer 85 114 608.4) zurückgewiesen worden ist. Patentanspruch 1 hat folgenden Wortlaut:
4-(N-Ethyl-N-2'-hydroxyethyl-amino-1-(2"-hydroxyethyl)- amino-2-nitro-benzol der Formel I
(FORMEL)
Die Ansprüche 2 bis 6 betreffen Haarfärbemittel, die die Verbindung der Formel I enthalten.
II. Die angefochtene Entscheidung stützte sich auf 31 Dokumente, von denen die folgenden auch im Beschwerdeverfahren eine Rolle spielten:
(1) CA-A-900 490
(2) FR-A-1 454 314
(8) GB-A-2 082 207
(11) Mutagenitätstest der Einsprechenden (eingereicht am 19. September 1989)
(15) Environmental Mutagenesis 5 (1983), 467
(16) DE-C-1 299 002
(17) Vergleichsfärbungen und Farbkarte I der Patentinhaberin (eingereicht am 26. April 1990)
(18) Mutagenitätstest (Ba) der Patentinhaberin (eingereicht am 26. April 1990)
(20) Mutagenitätstest (D) der Patentinhaberin (eingereicht am 26. April 1990)
(21) Mutagenitätstest (Ba) der Patentinhaberin mit reduzierter Nitrogenaseaktivität (eingereicht am 26. April 1990)
(23) Mutagenitätstest (D) der Patentinhaberin mit reduzierter Nitrogenaseaktivität (eingereicht am 26. April 1990)
(26) J. Soc. Cosm. Chem. 35, 1984, 297 - 310
(29) Prospekt "Scala" -Intensivtönungsschaum der Firma Wella AG.
Es wurde ausgeführt, die Verbindung der Formel I sei gegenüber Druckschrift (1) neu, denn sie sei darin nicht individualisiert beschrieben. Ihre Auswahl aus der Vielzahl der von dieser Entgegenhaltung umfaßten strukturell ähnlichen Verbindungen habe im Hinblick auf die Lösung der Aufgabe, einen zur Verwendung in Haarfärbemitteln geeigneten Stoff zu finden, der toxikologisch unbedenklich sei und Haare blau ohne unerwünschten Rotstich färben könne, nicht nahegelegen. Dies gelte auch gegenüber den strukturell noch näher kommenden Verbindungen B und C aus Druckschrift (8). Die von der Einsprechenden vorgelegten Versuchsberichte seien nicht geeignet, darzutun, daß die genannte Aufgabe nicht glaubhaft gelöst worden sei, da der unterschiedliche Farbton bereits mit bloßem Auge ohne weiteres festgestellt werden könne. Auch der Einwand, die Versuche der Patentinhaberin seien nicht praxisgerecht, greife nicht durch. Schließlich habe auch die sich mit den Zusammenhängen von chemischer Struktur und Farbton bei p- Phenylendiamin-Farbstoffen befassende Druckschrift (26) keine Anregung zur Lösung der bestehenden Aufgabe geben können, da aufgrund der Angaben in dieser Druckschrift keine Extrapolation auf das Verhalten eines Ethylsubstituenten am Stickstoffatom in 4-Stellung des Benzolrings bei gleichzeitiger Anwesenheit eines Hydroxyethylrests am Stickstoffatom in 1-Stellung möglich war.
III. In der am 2. Mai 1991 eingereichten Beschwerdebegründung, in weiteren Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung am 19. Februar 1993 hat die Beschwerdeführein auf weitere Versuchsberichte, nämlich
(32) Löslichkeitsversuche, eingereicht am 2. Mai 1991
(41) Färbetest, eingereicht am 19. Januar 1993 und
(42) Löslichkeitsversuche, eingereicht am 19. Januar 1993
Bezug genommen.
Sie hat vorgetragen, die Verbindung der Formel I sei gegenüber der Lehre der Druckschrift (1) nicht neu, da diese nicht nur eine Verbindungsklasse beschreibe, zu der diese Verbindung gehöre, sondern auch die diese Verbindung definierenden konkreten Substituenten nenne. Wenn man in Beispiel 2, das die Herstellung der Verbindung mit der folgenden Formel
(FORMEL)
durch Umsetzung der entsprechenden 4-NH2-Verbindung mit Ethylenoxid und Methyliodid beschreibt, das Methyliodid durch das als Ausgangsmaterial in der Beschreibung implizit erwähnte Ethyliodid ersetze, so führe dies eindeutig zu der Verbindung der Formel I. Die Einspruchsabteilung habe somit den Inhalt der Druckschrift (1) unzureichend gewürdigt.
Aufgabe des Streitpatents sei es nicht, einen zur Blaufärbung von Haaren geeigneten Farbstoff mit vermindertem Rotstich anzugeben, sondern laut Patentschrift und mündlichem Vortrag der Patentinhaberin selbst einen solchen ohne Rotstich. Da nicht einmal die Patentinhaberin selbst behaupte, diese Aufgabe sei gelöst worden, bestehe die tatsächlich gelöste Aufgabe nur darin, einen weiteren zur Färbung von Haaren geeigneten blauvioletten Farbstoff aus der aus Druckschrift (1) bekannten Klasse bereitzustellen. Die weiteren von der Einspruchsabteilung in Betracht gezogenen Vorteile der besseren Löslichkeit, der verringerten Auswaschbarkeit und des niedrigeren Schmelzpunkts seien, wenn sie überhaupt vorhanden seien, kaum feststellbar, wie aus den Dokumenten (32) und (42) zum Beispiel für die Wasserlöslichkeit hervorgehe; sie seien daher bei der Ermittlung der technischen Aufgabe zu vernachlässigen. Es bestehe auch kein technisches Bedürfnis nach einer Vielzahl ähnlicher Farbnuancen chemisch ähnlicher Farbstoffe, da diese in Haarfärbemitteln immer im Gemisch vorliegen und auch mit den bekannten Farbstoffen dieser Art bereits alle gewünschten Farbtöne eingestellt werden konnten.
Die Einspruchsabteilung habe auch bei der Ermittlung der objektiv bestehenden Aufgabe die Beweiskraft der von der Patentinhaberin durchgeführten Versuche unzutreffend bewertet. Diese Versuche seien mit Zusammensetzungen ausgeführt worden, die im Streitpatent nicht offenbart worden seien. Da die Beschwerdeführerin in Versuchen, die mit einer im Streitpatent beschriebenen Zusammensetzung durchgeführt worden sind, zu abweichenden Ergebnissen gekommen sei, könne nur gefolgert werden, daß für die vorteilhaften Ergebnisse der Beschwerdegegnerin nicht allein die Verbindung der Formel I, sondern auch die übrigen, in den Ansprüchen des Streitpatents nicht offenbarten Komponenten verantwortlich seien. Färbe- und Auswaschbarkeitstests an gebleichtem Büffelhaar und grauem Naturhaar seien im übrigen für direkt ziehende Haarfärbemittel nicht praxisgerecht, denn diese Mittel seien für den Gebrauch auf blondiertem oder stark ergrautem Haar nicht geeignet, wie aus dem von der Patentinhaberin selbst stammenden Prospekt (29) hervorgehe. Die Ergebnisse der Mutagenitätstests der Beschwerdegegnerin stünden in unübersehbarem Widerspruch zu dem aus den Druckschriften (8) und (15) entnehmbaren, durch Dokument (11) bestätigten Sachverhalt, wonach die ganze Klasse der 1,4-Diamino-2-nitro-benzolverbindungen nicht mutagen sei. Die abweichenden Ergebnisse der Beschwerdegegnerin seien eventuell auf eine zu geringe Reinheit der verwendeten Testsubstanz zurückzuführen. Auch im Hinblick auf die Druckschriften (2) und (16) liege keine erfinderische Auswahl vor, da sich die Verbindung des Streitpatents von den bekannten Verbindungen derselben Klasse nur graduell unterscheide. Der geringere Rotstich der Verbindung des Streitpatents sei darüber hinaus aufgrund der Angaben in Druckschrift (26) zu erwarten gewesen.
IV. Die Beschwerdegegnerin hat demgegenüber betont, die Verbindung der Formel I sei gegenüber Druckschrift (1) unter Zugrundelegung der Rechtsprechung der Beschwerdekammern neu. Entgegen der Auffassung der Einsprechenden stelle es sehr wohl eine realistische technische Aufgabe dar, einen blauen Farbstoff mit für ein Haarfärbemittel günstigen Löslichkeitseigenschaften und einem geringeren Rotstich anzugeben. Der in der Patentschrift verwendete Ausdruck "blauer Farbstoff" sei als Gattungsbegriff zu verstehen und umfasse auch Farbstoffe mit Farbabweichungen nach violett oder lila. Im übrigen sei die Aufgabe nach objektiven Kriterien zu ermitteln, wobei Abweichungen von den Angaben in der Beschreibung und ein Zurückgehen auf ein weniger anspruchsvolles Ziel möglich seien. Es sei ferner z. B. aus Druckschrift (16) bekannt, daß blaue Farbstoffe mit möglichst wenig Rotanteil für die Herstellung von Haarfärbemitteln besonders wertvoll seien. Die einzige in Druckschrift (2) konkret beschriebene Verbindung sei diejenige der Formel VI, die einen mit "mauve", also malvenfarbig und damit als rotstichig charakterisierten Farbton ergebe. Druckschrift (16) enthalte keine Aussagen über den Einfluß von Substituenten auf das Absorptionsspektrum von Nitrofarbstoffen und könne daher die Eigenschaften der Verbindung der Formel I nicht nahelegen. Dies gelte, wie in der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt worden sei, auch für Druckschrift (26), die zeige, daß keine verläßlichen Aussagen über den Zusammenhang von Substitutionstyp und Farbverschiebungen in der Klasse der 1- (Hydroxy)alkylamino-2-nitro-4-di(hydroxy)alkylamino- benzolderivate möglich seien. Dort sei noch im Jahre 1984 die altbekannte Verbindung der Formel IV
(FORMEL)
als optimal bezeichnet worden.
Die im Erteilungsverfahren geltend gemachten vorteilhaften toxikologischen Eigenschaften der Verbindung der Formel I seien von einem unabhängigen Institut ermittelt und von einer anderen Arbeitsgruppe im Einspruchsverfahren (siehe Druckschriften (18) bis (23)) bestätigt worden. Alle verwendeten Testsubstanzen seien zu über 99 % rein gewesen. Die Aussage über die fehlende Mutagenität einer ganzen Verbindungsklasse in Druckschrift (8) könne hingegen nur als spekulativ gewertet werden. Druckschrift (15) betreffe die Verbindung der Formel IV, deren fehlende Mutagenität unbestritten sei. Im übrigen ergebe sich die erfinderische Tätigkeit bei der Bereitstellung der Verbindung des Streitpatents schon aus dem überraschend geringen Rotstich und der verminderten Auswaschbarkeit bei guter Wasserlöslichkeit. Selbst wenn man jedoch davon ausgehen wolle, daß die fehlende Mutagenität oder eine andere geltend gemachte vorteilhafte Eigenschaft für sich betrachtet naheliegend sei, dann ergebe sich die erfinderische Tätigkeit aus den vorteilhaften Gesamteigenschaften, die aus dem Stande der Technik, insbesondere aus den Eigenschaften der strukturell am nächsten kommenden bekannten und im Streitpatent gewürdigten Verbindungen der Formeln IV und VI in keiner Weise herzuleiten seien.
V. Die Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und das Patent zu widerrufen.
Die Beschwerdegegnerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Am Ende der mündlichen Verhandlung wurde die Entscheidung der Kammer verkündet, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Neuheit
Der Einwand mangelnder Neuheit stützt sich ausschließlich auf Druckschrift (1). Diese Druckschrift beschreibt in Beispiel 2 die Herstellung der Verbindung der Formel VI,
(FORMEL)
die sich von derjenigen der Formel I
(FORMEL)
des Streitpatents durch den Methylrest an der Aminogruppe in 4-Stellung unterscheidet. Diese Verbindung wird durch Umsetzung der entsprechenden 4-Aminoverbindung mit Methyliodid und Ethylenoxid erhalten. Die Druckschrift enthält darüberhinaus noch weitere Informationen, die sich auf die Verbindungsklasse der folgenden allgemeinen Formel
(FORMEL)
beziehen, in der der Rest X entweder NR2R3 oder N=R4 bedeutet und R1 Alkyl mit 1-4 C-Atomen oder Hydroxyalkyl mit 1-4 C-Atomen und 1-3 Hydroxylgruppen, R2 Alkyl mit 1-4 C-Atomen, R3 Alkyl mit 1-4 C-Atomen oder Hydroxyalkyl mit 1-4 C-Atomen und 1-3 Hydroxylgruppen und R4 eine Polymethylengruppe mit 4 bis 5 C-Atomen bedeuten (Seite 3, Zeilen 1 bis 19 und Anspruch 1). Diese Verbindungen sind insbesondere als direkt ziehende Mittel zum Färben von Keratinfasern geeignet und ergeben blauviolette Farbtöne. Sie sind besonders brauchbar zur Erzeugung natürlicher Farbtöne im Gemisch mit anderen Farbstoffen (Seite 3, Zeile 29 bis Seite 4, Zeile 5). Nach Anspruch 5 ist in der obigen allgemeinen Formel R1 = Hydroxyalkyl, X = NR2R3, R2 = Alkyl und R3 = Hydroxyalkyl. In der obigen allgemeinen Formel können die Alkylreste beispielsweise Methyl, Ethyl, n-Propyl, Isopropyl, n-Butyl oder tert.-Butyl und die Hydroxyalkylgruppen 2-Hydroxyethyl, 2-Hydroxypropyl, und sechs weitere konkrete Hydroxyalkylreste bedeuten (Seite 3, Zeilen 21 bis 28).
Diese Informationen reichen nach Überzeugung der Kammer nicht aus, um dem Fachmann die Verbindung der Formel I in Form einer konkreten, ausführbaren Lehre zum technischen Handeln zu offenbaren. Im Gegensatz zu dem der Entscheidung T 12/81 (ABl. EPA 1982, 296) zugrundeliegenden Sachverhalt, nämlich der Herstellung einer Einzelverbindung durch ein durch Ausgangsverbindung und Verfahrensschritte genau gekennzeichnetes Verfahren, liegt hier der in dieser Entscheidung schon als nicht vergleichbar bezeichnete Fall einer Auswahl aus zwei Listen von Ausgangsverbindungen vor (vgl. Punkt 13 der Entscheidungsgründe und T 7/86, ABl. EPA 1988, 381). Die Beschwerdeführerin übersieht bei ihrer Betrachtungsweise, daß bei von der Kenntnis der Erfindung unbeeinflußter Interpretation des Inhalts der Druckschrift (1) ein erster Auswahlschritt schon in der Wahl des Beispiels 2 als Ausgangspunkt besteht. Eine Lehre, gerade diese nur beispielhaft erwähnte Verbindung zu modifizieren, ist in Druckschrift (1) jedoch nicht enthalten. Betrachtet man die Angaben über bestimmte Substituenten und das Herstellungsverfahren jedoch im Kontext mit der allgemeinen Formel, auf die sie sich beziehen, so wird unmittelbar deutlich, daß damit nur die Herstellung einer Verbindungsklasse, nicht aber einer bestimmten Einzelverbindung gelehrt wird.
Aus der Neuheit der Verbindung der Formel I folgt schließlich, daß auch die diese Verbindung enthaltenden Haarfärbemittel nach den Ansprüchen 2 bis 6 neu sind.
3. Erfinderische Tätigkeit
3.1. Aus der Schilderung der Nachteile bekannter Haarfärbemittel, die direkt ziehende 1,4-Diamino-2-nitro- benzol-Farbstoffe, z. B die Verbindungen der Formeln IV und VI, enthalten sowie den angegebenen Vorteilen der im Streitpatent beanspruchten Verbindung der Formel I läßt sich entnehmen, daß die dem angefochtenen Patent zugrundeliegende Aufgabe darin bestand, eine Verbindung zur Verfügung zu stellen, die zu einem blauen Farbstoff mit möglichst geringem Rotstich führt und die aufgrund ihrer Löslichkeit und toxikologischen Unbedenklichkeit in Haarfärbemitteln eingesetzt werden kann, um besonders dunkle bzw. tiefe Farbnuancen zu erzeugen (siehe Seite 2, Zeilen 24 bis 28 und Seite 3, Zeilen 56 bis 65).
Die Beschwerdeführerin hat bestritten, daß diese Aufgabe bestand und daß sie, falls man die genannte Aufgabe als technisch sinnvoll unterstellen wolle, durch die Verbindung der Formel I gelöst worden sei. Sie stützt sich hierbei nicht nur darauf, daß die von der Patentinhaberin vorgelegten Versuchsergebnisse unter praxisfernen Bedingungen zustandegekommen seien, sondern auch auf eigene Versuchsergebnisse, die den von der Beschwerdegegnerin im Erteilungs- und Einspruchsverfahren vorgelegten teilweise widersprechen.
Die Kammer hat daher zunächst zu untersuchen, welche Vorteile der Verbindung der Formel I gegenüber dem nächsten Stande der Technik ausreichend glaubhaft gemacht worden sind.
Als nächster Stand der Technik kommt hier sowohl die in Druckschrift (1), Beispiel 2 beschriebene Verbindung der Formel VI als auch die z. B. in Druckschrift (26) als Verbindung XIV bezeichnete und als optimal herausgestellte Verbindung der Formel IV in Betracht (Seite 307, Zeilen 3 und 4 unter der Tabelle in Verbindung mit dem Formelschema auf Seite 298). Da die Kammer einerseits überzeugt ist, daß es für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit im Ergebnis nicht darauf ankommen kann, welches der genannten Dokumente dem Gegenstand des Streitpatents am nächsten kommt, andererseits Druckschrift (1) von der Beschwerdeführerin als so nahekommend angesehen wurde, daß selbst die Neuheit der Verbindung der Formel I in Frage gestellt wurde, geht die Kammer von dieser Druckschrift aus. Die Verbindung des Beispiels 2 aus dieser Druckschrift ist mit der einzigen in Druckschrift (2) konkret beschriebenen Verbindung, die dort (Seite 4, linke Spalte, Zeilen 13 und 14) als "mauve" (malvenfarbig) beschrieben wird, identisch. In der mündlichen Verhandlung bestand Einigkeit darüber, daß die mit Dokument (17) im Einspruchsverfahren eingereichten Farbproben nicht mehr aussagekräftig sind, weil die Färbungen nicht über längere Zeit lichtbeständig sind. Jedoch zeigen die mit einem Minolta Chroma Meter ermittelten Zahlenwerte in Tabelle 3 auf Seite 3 der Druckschrift (17), daß die bekannte Verbindung einen deutlich höheren Rotstich aufweist als die Verbindung der Formel I (vgl. jeweils x als Maß für Rot in den mit V bezeichneten Querspalten für die den Verbindungen der Formeln VI und I entsprechenden Verbindungen Ba und D).
Die Beschwerdeführerin hat ferner nicht bestritten, daß die Verbindung der Formel I nicht mutagen ist. Die von den Beteiligten eingereichten Versuchsergebnisse zeigen lediglich Unterschiede in der Beurteilung der Mutagenität der bekannten Verbindung (vgl. Druckschriften (18), (20), (21) und (23) einerseits und Druckschrift (11) andererseits). Auch wenn die Kammer der Argumentation der Beschwerdegegnerin folgt und die sehr allgemeinen Aussagen zur Mutagenität der die Verbindungen der Formeln I und VI umfassenden Verbindungsklasse in den Druckschriften (8) und (15) nicht als stichhaltigen Beweis für die fehlende Mutagenität der dort nicht konkret genannten Verbindung der Formel VI wertet, ist es der Kammer aus eigener Sachkenntnis nicht möglich, zu entscheiden, worauf die unterschiedlichen Versuchsergebnisse zurückzuführen sind. Im Gegensatz zu dem in der Entscheidung T 206/83 (ABl. EPA 1987, 5) angesprochenen Sachverhalt handelt es sich hier nicht um sich widersprechende Tatsachenbehauptungen, sondern um widersprüchliche Beweismittel, so daß die Kammer auch nicht zugunsten der Patentinhaberin von der geltend gemachten Mutagenität der bekannten Verbindung ausgehen kann. Sie wertet vielmehr diese Eigenschaft als nicht zweifelsfrei erwiesen mit der Folge, daß sie bei der Ermittlung der bestehenden Aufgabe unberücksichtigt bleibt.
Die am 2. Mai 1991 eingegangenen Vergleichsversuche zur Löslichkeit (Dokument (32)) zeigen ferner, daß die Verbindung der Formel I eine Wasserlöslichkeit von 0,48 % besitzt, während die Verbindung der Formel VI eine Wasserlöslichkeit von 0,37 % aufweist. Der Unterschied in der Wasserlöslichkeit beträgt also etwa 20 % und ist nicht, wie die Beschwerdeführerin meint, zu vernachlässigen. Die Beschwerdegegnerin hat glaubhaft dargelegt, daß es zur Erzeugung dunkler, insbesondere schwarzer Farbtöne vorteilhaft ist, gerade einen blauen Farbstoff in möglichst großer Menge in Haarfärbemittel einbringen zu können, da diese alle wesentliche Mengen an Wasser enthalten (siehe die Beispiele des Streitpatents).
Hinsichtlich der im Streitpatent (Seite 2, Zeile 60 bis Seite 3, Zeile 17) ebenfalls erwähnten verminderten Auswaschbarkeit zeigen die Versuche der Beschwerdegegnerin (Druckschrift (17), Tabelle auf Seite 3, vgl. die Helligkeitswerte (Y) vor und nach dem Waschen), daß die Verbindung der Formel I (dort D) günstiger abschneidet als die bekannte Verbindung der Formel VI (dort Ba). Die Beschwerdeführerin hat die Richtigkeit dieser Resultate nicht bestritten, meint aber, angesichts einer Skala der Helligkeitswerte, die von 0 (schwarz) bis 100 (weiß) reicht, sei der gefundene Unterschied bedeutungslos. Außerdem seien diese Versuche nicht unter realistischen Bedingungen durchgeführt worden, denn zum Färben habe die Beschwerdegegnerin nicht Naturhaar, sondern gebleichtes Büffelhaar verwendet. Direkt färbende Haarfärbemittel, wie sie hier vorliegen, seien jedoch nicht einmal zur Anwendung auf stark ergrautem Naturhaar geeignet, sondern nur für leicht ergrautes Haar gedacht, wie die Beschwerdegegnerin in Druckschrift (29) selbst einräume. Diese Einwände entwerten die Versuchsergebnisse der Beschwerdegegnerin jedoch nicht, denn die Beschwerdeführerin hat nicht gezeigt, daß die Unterschiede, die in der Versuchsanordnung der Beschwerdegegnerin besonders deutlich sichtbar sein mögen, nicht auch unter Praxisbedingungen, wenn auch nicht so deutlich, in Erscheinung treten.
Schließlich wird im Streitpatent noch angegeben, die Verbindung der Formel I ergebe wegen ihres niedrigen Schmelzpunkts besonders lagerstabile Formulierungen. Nachdem jedoch die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung dargelegt hat, daß Lagerstabilität nur dann gegeben ist, wenn überhaupt keine Entmischung auftritt, gleichgültig, ob sich nun eine zweite flüssige oder eine feste Phase bildet, ist die Kammer nicht davon überzeugt, daß der niedrige Schmelzpunkt eine anwendungstechnisch, d. h. für die Ermittlung der bestehenden technischen Aufgabe relevante Eigenschaft der Verbindung der Formel I ist.
Aufgrund der vorstehenden Ausführungen sieht die Kammer die bestehende und durch die Bereitstellung der Verbindung der Formel I gelöste technische Aufgabe darin, den Farbstoff der Formel VI hinsichtlich Farbton (weniger Rotstich) und Wasserlöslichkeit zu verbessern, ohne dabei Nachteile bei der Auswaschbarkeit und dem toxikologischen Verhalten in Kauf nehmen zu müssen. Auch wenn die erzielten Verbesserungen zahlenmäßig gering aussehen mögen, so sieht die Kammer, insbesondere in Anbetracht der Angaben in der auf das Jahr 1961 zurückgehenden Druckschrift (16), wonach "bisher ein Mangel an blauvioletten, Farbstoffen für menschliches Haar, die keinen Stich ins Rötliche aufweisen", bestand (Spalte 3, Zeilen 39 bis 42) in der erzielten Eigenschaftskombination eine technisch sinnvolle Aufgabe.
3.2. Es ist somit zu untersuchen, ob der entgegengehaltene Stand der Technik den Fachmann dazu angeregt hätte, die bestehende Aufgabe in der im Streitpatent gelehrten Weise, nämlich durch Austausch der Methylgruppe gegen eine Ethylgruppe in der Verbindung der Formel VI zu lösen.
Hierzu hat die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung nur noch vorgetragen, die Verringerung des Rotstichs durch Austausch der Methyl-gegen die Ethylgruppe sei für den Fachmann in Kenntnis von Druckschrift (26) zu erwarten gewesen. Diese Druckschrift befaßt sich auf den Seiten 306 und 307 mit der Beziehung zwischen Struktur und Lichtabsorptionsmaximum von o-Nitro-p- phenylendiaminfarbstoffen. Im vorletzten Absatz auf Seite 306 wird ausgeführt, daß das Absorptionsmaximum dieser Farbstoffe durch Einführung von Alkyl- oder Hydroxyalkylsubstituenten nach violett verschoben werden könne, wie aus den Daten in Tabelle IV auf Seite 307 hervorgehe. Diese Tabelle zeige, daß der Effekt der Einführung einzelner Methylgruppen additiv sei. Der Einfluß einzelner N-(2-Hydroxyethyl)-gruppen sei ähnlich dem der einzelnen Methylgruppen. Ihre Einführung in die Aminogruppe in 1-Stellung bewirke eine bathochrome Verschiebung des Absorptionsmaximums um 20 nm. Der entsprechende Wert für die 4-Aminogruppe sei 26 nm. Im folgenden Absatz wird festgestellt, daß das Hinzufügen einer zweiten Methylgruppe zu einer bereits bestehenden N-Metylaminogruppe keine weitere bathochrome Verschiebung bewirke. Eine Dimethylaminogruppe in 1-Stellung habe sogar einen ausgeprägten hypsochromen Effekt. Hingegen habe die Einführung einer Ethyl-,Propyl-oder 2-Hydroxyethylgruppe einen zusätzlichen bathochromen Effekt von 14, 19 bzw. 20 nm. Somit sei die beste Wahl für einen blauvioletten Farbstoff diejenige der obigen Formel IV (17. Verbindung in der Tabelle IV auf Seite 307). Schließlich wird noch gelehrt, daß die Einführung von Hydroxyethylsubstituenten anstelle von oder zusammen mit Alkylsubstituenten auch zur Einstellung der Wasser- und Lipid-Löslichkeit der resultierenden Farbstoffe diene, womit die Farbstoffe für bestimmte Formulierungen maßgeschneidert werden können (Seite 307, zweiter Absatz nach Tabelle IV).
Ausgehend von diesen Angaben und dem gemessenen Absorptionsmaximum des unsubstituierten o-Nitro-p- phenylendiamins (1. Verbindung der Tabelle IV) von 471 nm hat die Beschwerdeführerin in der mündlichen Verhandlung für die Verbindung der Formel I einen Wert von 471 + 26 + 20 + 14 = 531 nm berechnet. Dieser Wert stimmt mit dem für die Verbindung der Formel I gemessenen von 530 bis 533 nm überein. Als Beweismittel für die Korrektheit dieser Berechnung hat sie den Vergleich der nach diesen Angaben berechneten Maxima für die 9. und 8. Verbindung in Tabelle IV der Formeln
(FORMEL)
von je 471 + 26 + 20 = 517 nm mit den gemessenen Werten von 513 bzw. 518 nm angeführt. Nach Überzeugung der Kammer kann diese Berechnung jedoch nicht dazu anregen, den bekannten Rotstich der in Druckschrift (26) nicht erwähnten Verbindung der Formel VI durch Austausch der Methylgruppe am Stickstoffatom in 4-Stellung gegen eine Ethylgruppe zu vermindern. Aufgrund der oben genannten Zahlenwerte hätte der Fachmann nämlich keinesfalls vom Austausch einer Methylgruppe mit einem bathochromen Effekt von 26 nm gegen eine Ethylgruppe mit dem geringeren bathochromen Effekt von 14 nm eine stärkere bathochrome Verschiebung des Absorptionsmaximums erwarten können.
Eine solche Erwartung wäre allenfalls dann gerechtfertigt gewesen, wenn der Fachmann aus Druckschrift (26) entnommen hätte, die N-Methyl-(2-hydroxyethyl)-aminogruppe in 4- Stellung hätte -analog zur Dimethylaminogruppe - einen hypsochromen Effekt. Eine solche Lehre vermittelt diese Druckschrift jedoch nicht. Es geht im Gegenteil klar aus dem Vergleich der gemessenen Absorptionsmaxima der 10. und 11. bzw. der 13. und 15. Verbindung der Tabelle IV, die sich jeweils nur durch den Austausch der Dimethylaminogruppe in 4-Stellung gegen die N-Methyl-(2- hydroxyethyl)-aminogruppe unterscheiden (siehe die nachstehenden Formeln), hervor, daß diese Gruppen sich nicht gleich verhalten.
(FORMEL)
Der genannte Austausch bewirkt vielmehr eine bathochrome Verschiebung des Absorptionsmaximums um 20 bzw. 22 nm, wie sich aus den unter den vorstehenden Formeln angegebenen Lambda max-Werten ergibt.
Der für die Verbindung der Formel I gefundene, gegenüber der Verbindung der Formel VI verminderte Rotstich war daher aufgrund der Angaben in Druckschrift (26) nicht vorhersehbar. Diese Druckschrift bot daher keine Anregung zur Lösung der den Farbton betreffenden Teilaufgabe.
Dokumente, aus denen die Vorhersehbarkeit des weiteren geltend gemachten Vorteils der Verbindung der Formel I, nämlich der gegenüber der Verbindung der Formel VI verbesserten Wasserlöslichkeit bei gleichzeitig unvermindert geringer Auswaschbarkeit, hervorgehen würde, liegen der Kammer nicht vor. Folglich ergibt sich auch zur Lösung dieser Teilaufgabe keine Anregung aus dem entgegengehaltenen Stande der Technik.
Es war daher aufgrund des entgegengehaltenen Standes der Technik erst recht nicht naheliegend, zur Lösung der bestehenden Gesamtaufgabe, nämlich, wie unter Nr. 3.1 dargelegt, der Verbesserung der Eigenschaftskombination, die Verbindung der Formel I bereitzustellen.
3.3. Wie bereits angedeutet, ergibt sich keine andere Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit, wenn man die Verbindung der Formel IV, die der 17. Verbindung in Tabelle IV der Druckschrift (26) entspricht, als nächsten Stand der Technik betrachtet. Aus Dokument (17), in der die Verbindung der Formel IV mit (C) bezeichnet ist, ergibt sich eine verminderte Auswaschbarkeit der Verbindung der Formel I (dort D). Wie bereits dargelegt, sieht die Kammer diese Versuchsergebnisse als relevant an. Es ist unbestritten, daß diese Verbesserung nicht mit einem Nachteil hinsichtlich Wasserlöslichkeit und Lage des Absorptionsmaximums erkauft worden ist (siehe die von der Beschwerdeführerin vorgelegten Versuchsberichte (41) und (42)). Dies war aufgrund der Angaben in Druckschrift (26) nicht zu erwarten, denn nach den Angaben in dieser Druckschrift hätte der Austausch einer 2- Hydroxyethylgruppe gegen eine Ethylgruppe zu einer weniger hydrophilen und stärker rotstichigen Verbindung führen müssen, da der bathochrome Effekt der Ethylgruppe (14 nm) deutlich geringer ist als derjenige der 2- Hydroxyethylgruppe (26 nm).
4. Aus den genannten Gründen ist die Verbindung der Formel I, die Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 ist, neu und beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit. Die Haarfärbemittel der Ansprüche 2 bis 6 enthalten alle diese Verbindung und betreffen daher ebenfalls neue und erfinderische Gegenstände.
ENTSCHEIDUNGSFORMEL
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.