T 0276/23 10-12-2024
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Siegelorgan
Mündliche Verhandlung - in Abwesenheit der Beschwerdegegnerin abgehalten
Neuer Einwand unter Artikel 123 (2) EPÜ - nicht zugelassen
Hauptantrag - Neuheit und erfinderische Tätigkeit (ja)
Sachverhalt und Anträge
I. Die Beschwerde der Patentinhaberin (Beschwerdeführerin) richtete sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das europäische Patent Nr. 3 515 693 (das "Patent") zu widerrufen.
II. Der Einspruch war gegen das Patent in vollem Umfang eingelegt und auf die Einspruchsgründe nach Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikel 54 EPÜ (fehlende Neuheit) und Artikel 56 EPÜ (mangelnde erfinderische Tätigkeit) und Artikel 100 b) EPÜ gestützt worden.
III. Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) hat mit ihrem Schreiben vom 29. August 2023 auf die Beschwerdebegründung erwidert und beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen und hilfsweise eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Die Beschwerdeführerin antwortete darauf mit Schreiben vom 7. Februar 2024. Mit Schreiben vom 11. November 2024 hat die Beschwerdegegnerin ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgenommen und mitgeteilt, dass sie nicht an der anberaumten mündlichen Verhandlung teilnehmen werde.
IV. Am 10. Dezember 2024 hat eine mündliche Verhandlung vor der Beschwerdekammer stattgefunden.
V. Die Beschwerdeführerin (Patentinhaberin) beantragte:
- die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents in geänderter Fassung auf der Grundlage der mit der Beschwerdebegründung eingereichten Ansprüche gemäß dem Hauptantrag oder einem der Hilfsanträge 1 bis 4 oder der mit Schreiben vom 7. Februar 2024 eingereichten Ansprüche gemäß einem der Hilfsanträge 5 bis 9 und
- den verspätet vorgebrachten Einwand der unzulässigen Zwischenverallgemeinerung nach Artikel 123 (2) EPÜ in Anwendung des Artikels 12 (4), (6) VOBK nicht in das Verfahren zuzulassen.
Die Beschwerdegegnerin (Einsprechende) hat schriftlich beantragt:
- die Zurückweisung der Beschwerde,
- hilfsweise die Hilfsanträge 1 bis 4 nicht in das Verfahren zuzulassen,
- oder weiter hilfsweise eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Einspruchsabteilung.
VI. In dieser Entscheidung wird auf die folgenden im Beschwerdeverfahren zitierten Dokumente Bezug genommen:
D1: US 4,292,118;
D8: EP 1 560 751 B1 und
D14: WO 2015/000748 A2.
VII. Der Wortlaut des Anspruchs 1 des Hauptantrags lautet wie folgt (die von der Einspruchsabteilung verwendete Merkmalsgliederung ist in eckigen Klammern eingefügt):
"[1] Siegelorgan (1) zum thermischen Verbinden thermoplastischer Materialien (15), [2] umfassend ein Heizelement, das ein flächiges Trägersubstrat (6) mit einer Vorderseite und einer Rückseite aufweist, [3] das aus einem elektrisch nichtleitenden keramischen Werkstoff besteht, [4] auf dessen Vorderseite mindestens zwei Heizleiter (7A) angeordnet und [5] von der Rückseite des Trägersubstrats (6) her durch das Trägersubstrat (6) hindurch über senkrechte Durchkontaktierungen (13) elektrisch kontaktiert sind, [6] wobei mindestens zwei Heizleiter (7A) unabhängig voneinander ansteuerbar sind."
VIII. Die Beteiligten haben im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
a) Hauptantrag: Zulassung des neuen Einwands unter Artikel 123 (2) EPÜ (Artikel 12 (4), (6) VOBK)
i) Beschwerdeführerin
Der in ihrer Beschwerdeerwiderung erstmal erhobene Einwand der Beschwerdegegnerin unter Artikel 123 (2) EPÜ, wonach die Aufnahme des Merkmals "über senkrechte Durchkontaktierung" eine unzulässige Zwischenverallgemeinerung darstelle, solle in Anwendung des Artikels 12 (4), (6) VOBK nicht zum Verfahren zugelassen werden. Dieser auf einer schon mit der Eingabe der Beschwerdeführerin vom 25. August 2021 eingereichten Anspruchsänderung basierende Einwand sei verspätet vorgebracht worden und hätte bereits im Einspruchsverfahren vorgebracht werden können und sollen.
ii) Beschwerdegegnerin
Es erfolgte keine Stellungnahme hierzu.
b) Hauptantrag: Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 (Artikel 54 EPÜ)
i) Beschwerdeführerin
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei neu gegenüber dem Dokument D8. Das Dokument D8 offenbare zumindest nicht das Merkmal der "senkrechten Durchkontaktierung" (Merkmal 5).
Das Merkmal der "senkrechten Durchkontaktierungen" sei im Absatz [0014] des Patents offenbart. Bei dem erfindungsgemäßen Siegelorgan weise das Trägersubstrat "senkrechte Durchkontaktierungen", sogenannte "VIAs (Vertical Interconnect Access)" auf. Darunter könne nicht jede beliebige Leitung subsumiert werden. Im Einklang mit dem fachmännischen Verständnis auf dem Gebiet der Schaltungstechnik handle es sich bei VIAs um stoffschlüssig mit dem Trägersubstrat verbundene Durchkontaktierungen und nicht um ein separates Bauteil, wie beispielsweise eine Kontaktfahne eines Steckers oder dergleichen, das entweder kraftschlüssig oder/und durch ein zusätzliches Verbindungsverfahren wie Löten befestigt und mit den Leiterbahnen des Trägersubstrats kontaktiert sei. Die Einspruchsabteilung habe daher diesem Begriff nicht die Bedeutung zugeschrieben, die ihm auf dem betreffenden Gebiet üblicherweise zukomme, sondern ihm ihrerseits eine viel zu weit reichende Bedeutung gegeben.
Im Dokument D8 erfolge - entgegen dem Merkmal 5 des Anspruchs 1 des Hauptantrags - der elektrische Anschluss gemäß Figur 3 und dem zugehörigen Absatz [0046] "mittels Klemmen und/oder Stecken der Verkabelung in den dafür vorgesehenen Stecker 9, der mit der Leiterplatte fest verbunden ist, beispielsweise mittels Lötverbindung."
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei auch neu gegenüber dem Dokument D14.
Im Dokument D14 sei das Merkmal 1 nicht offenbart. Die dort offenbarten Vorrichtungen dienten zum Beheizen von Vorformlingen oder Halbzeugen, um diese anschließend umzuformen. Siegeln oder das stoffschlüssige Verbinden von Kunststoffen werde im Dokument D14 nicht thematisiert. Auch seien die dort offenbarten Vorrichtungen zum Vorwärmen von Kunststoffen, um diese umzuformen, aus mehreren Gründen nicht per se als Verfahren zum stoffschlüssigen Verbinden/Siegeln von Kunststoffen geeignet. Die Temperatur liege beim Umformen unter dem Schmelzpunkt, während beim Siegeln die Schmelztemperatur erreicht werden müsse. Ferner müssten beim Siegeln zwei Kunststoffbahnen übereinander liegen, was im Dokument D14 auch nicht gezeigt sei. Nicht jede Wärmequelle könne als Siegelorgan angesehen werden. Des Weiteren seien auch die Merkmale 2 und 3 nicht gezeigt.
ii) Beschwerdegegnerin
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei nicht neu gegenüber dem Dokument D8. Die Beschwerdeführerin bestreite im Hinblick auf den Stand der Technik gemäß dem Dokument D8 lediglich, dass dieses eine "senkrechte Durchkontaktierung" gemäß dem Merkmal 5 offenbare.
Dieser Begriff sei entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin zwar ein geläufiger Fachbegriff auf dem Gebiet der Schaltungstechnik, aber der beanspruchte Gegenstand liege nicht im Gebiet der Schaltungstechnik. Es werde keine Schaltung beansprucht, sondern ein Siegelorgan zum thermischen Verbinden thermoplastischer Materialien, welches keine elektronische Schaltung umfasse (siehe Patent, Absätze [0001] bis [0002]). Bei der Auslegung der im Patentanspruch enthaltenen Begriffe sei aber auf denjenigen technischen Bereich abzustellen, dem der beanspruchte Gegenstand entstamme. Auf dem Gebiet der Siegelorgane komme dem Begriff "senkrechte Durchkontaktierung" keine besondere Bedeutung zu. Daher sei, wie auch die Einspruchsabteilung entschieden habe, das Merkmal "senkrechte Durchkontaktierungen" breit auszulegen, so dass Kontaktierungen umfasst seien, die das Trägermaterial durchgriffen und die senkrecht seien (siehe angefochtene Entscheidung, Gründe, Punkt 3.2.6 und Verweis auf die Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, März 2022, F-IV, 4.2). "Der Wortlaut eines jeden Patentanspruchs ist so zu verstehen, dass sich für die einzelnen Wörter die Bedeutung und die Reichweite ergeben, die sie auf dem betreffenden Gebiet normalerweise haben, es sei denn, die Beschreibung verleiht den Wörtern in bestimmten Fällen durch ausdrückliche Definition oder auf andere Weise eine besondere Bedeutung." Dies entspreche der Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, Zehnte Auflage, Juli 2022, "Rechtsprechung", II.A.6.1.): "Laut T 2764/19 richten sich die Ansprüche einer europäischen Patentanmeldung üblicherweise an einen Leser mit Fachkenntnissen auf dem Gebiet der Anmeldung (sowie Kenntnis der einschlägigen Terminologie). Da ein derart fachkundiger Leser in der Regel also keine weiteren Hinweise aus der Beschreibung benötigt, sind die Ansprüche im Wesentlichen nicht unter Zuhilfenahme der Beschreibung und der Zeichnungen, sondern für sich genommen zu lesen und auszulegen (s. z.B. T 223/05, T 1404/05, T 1127/16). Der fachkundige Leser sollte den Ansprüchen normalerweise die breiteste technisch sinnvolle Bedeutung beimessen."
Auf Basis dieser breiten Interpretation des Merkmals 5, offenbare das Dokument D8 beispielsweise anhand der Darstellung in Figur 3 und der zugehörigen Beschreibung im Absatz [0046] eine Leiterplatte (1) mit leitenden Stegen, die über einen Stecker (9) kontaktiert sind. Der Stecker (9) ist "mit der Leiterplatte 1 fest verbunden" und bilde somit eine Kontaktierung, die das Trägermaterial senkrecht durchlaufe. Somit sei das Merkmal der "senkrechten Durchkontaktierung" (Merkmal 5) im Dokument D8 unmittelbar und eindeutig offenbart.
In Übereinstimmung mit der Entscheidung der Einspruchsabteilung sei der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags gegenüber dem Siegelorgan des Dokuments D8 nicht neu.
Zusätzlich sei der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht neu gegenüber dem Dokument D14.
Das Dokument D14 befasse sich mit einer Vorrichtung zum Beheizen von flächigen Halbzeugen aus thermoplastischem Kunststoff (siehe Dokumente D14, Titel und Seite 5, Zeilen 14 bis 19). Derartige Vorrichtungen seien per se als Siegelorgane zum thermischen Verbinden thermoplastischer Materialien geeignet (Merkmal 1 des Anspruchs 1 des Hauptantrags), insbesondere da die Vorrichtung des Dokuments D14 einen Grundkörper aufweise, an dessen Oberfläche eine flächig geometrisch angeordnete Leiterschleife vorgesehen sei (siehe Dokument D14, Seite 5, Zeile 14 bis 19). Der Grundkörper könne somit gemäß Merkmal 2 des Anspruchs 1 des Hauptantrags flächig ausgebildet sein (siehe Dokument D14, Figuren 7 bis 9). Dieser Grundkörper könne gemäß Merkmal 3 des Anspruchs 1 des Hauptantrags als nicht-leitendes keramisches Substrat ausgebildet sein (siehe Dokument D14, Seite 6, Zeilen 25 bis 30; Seite 10, Zeilen 6 bis 7; Seite 22, Zeilen 19 bis 21). Auch die weiteren Merkmale des Anspruchs 1 des Hauptantrags seien im Dokument D14 offenbart.
c) Hauptantrag: Erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 gegenüber dem Dokument D1 in Kombination mit dem Dokument D8 (Artikel 56 EPÜ)
i) Beschwerdeführerin
Zusätzlich zu den von der Beschwerdegegnerin identifizierten unterscheidenden Merkmalen 3, 4 und 6 offenbare das Dokument D1 auch nicht die Merkmale 2 und 5. Das Merkmal 5 betreffe die "senkrechte Durchkontaktierung". Eine "senkrechte Durchkontaktierung", sogenannte VIAs, gemäß der im Zusammenhang mit der Diskussion des Dokuments D8 getroffenen Auslegung sei in der Figur 7 des Dokuments D1 nicht gezeigt. Diese Figur zeige zwar eine Kontaktierung von der Rückseite her, aber keine Kontaktierung mittels einer "senkrechten Durchkontaktierung".
Wie bei der Diskussion der Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 in Anwendung der obigen Auslegung des Merkmals 5 festgestellt worden sei, offenbare das Dokument D8 nicht das Merkmal 5. Da keines der Dokumente D1 und D8 das Merkmal 5 offenbare, wäre der Fachmann ausgehend vom Dokument D1 unter Heranziehung des Dokuments D8 nicht zum beanspruchten Gegenstand gemäß dem Anspruch 1 des Hauptantrags gelangt. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags beruhe daher auf einer erfinderischen Tätigkeit.
ii) Beschwerdegegnerin
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags sei nicht erfinderisch ausgehend vom Dokument D1 in Kombination mit dem Dokument D8.
Dokument D1, das den nächstliegenden Stand der Technik bilde, offenbare ein Siegelorgan (siehe Dokument D1, Figuren 1 bis 7, insbesondere Figur 7; Spalte 1, Zeile 6 bis 13). Das Dokument D1 beschreibe anhand der Darstellung in der Figur 7 ein flächiges Substrat und einen Heizleiter, der von einer Rückseite des Substrats her senkrecht durch das Substrat hindurch elektrisch kontaktiert sei. Somit offenbare das Dokument D1 die Merkmale 1, 2 und 5. Der Gegenstand des Anspruchs 1 unterscheide sich daher vom Dokument D1 in den Merkmalen 3, 4 und 6.
Das Merkmal 3 löse die objektive technische Teilaufgabe, eine vereinfachte, günstige und schnellere und mithin insgesamt effizientere Herstellung zu realisieren, indem auf die elektrisch isolierende Zwischenschicht verzichtet und somit die Zahl der Verfahrensschritte in der Herstellung reduziert werde. Die Merkmale 4 und 6 lösten die davon unabhängige Teilaufgabe, eine Wärme- bzw. Temperaturverteilung für die Versiegelung einer Mehrzahl von Verpackungen zu realisieren, ohne eine Umrüstung der Versiegelungsvorrichtung vornehmen zu müssen.
Zur Lösung dieser beiden Teilaufgaben hätte der Fachmann das Dokument D8 herangezogen, das sich ebenfalls mit einem Siegelorgan befasse. Die Lösung werde im Dokument D8 einerseits durch ein elektrisch isolierendes keramisches Substrat (Merkmal 3) und andererseits durch mehrere elektrisch leitende Stege, die getrennt spannungsversorgt seien, (Merkmale 4 und 6) offenbart. Der Fachmann wäre somit unter Kombination der beiden Dokumente D1 und D8 zum Gegenstand des Anspruchs 1 gelangt.
Entscheidungsgründe
1. Nichtteilnahme der Beschwerdegegnerin an der mündlichen Verhandlung vor der Kammer - Entscheidung in Abwesenheit
1.1 Nach Regel 115 (2) EPÜ kann das Verfahren ohne einen Beteiligten fortgesetzt werden, wenn ein zur mündlichen Verhandlung ordnungsgemäß geladener Beteiligter vor dem EPA nicht erscheint. Nach Artikel 15 (3) VOBK ist die Kammer nicht verpflichtet, einen Verfahrensschritt einschließlich ihrer Entscheidung aufzuschieben, nur weil ein ordnungsgemäß geladener Beteiligter in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend ist; dieser kann dann so behandelt werden, als stütze er sich lediglich auf sein schriftliches Vorbringen.
1.2 Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdegegnerin hilfsweise eine mündliche Verhandlung beantragt. Mit Schreiben vom 11. November 2024 hat die Beschwerdegegnerin ihren Antrag auf mündliche Verhandlung zurückgenommen und mitgeteilt, dass sie nicht an der anberaumten mündlichen Verhandlung teilnehmen wird. Diese fand in Abwesenheit der Beschwerdegegnerin statt.
1.3 Indem die Beschwerdegegnerin nicht an der mündlichen Verhandlung teilnahm, entschied sie sich, die Gelegenheit, ihre Anmerkungen und Gegenargumente mündlich vorzutragen, nicht wahrzunehmen und sich stattdessen auf ihre schriftlichen Ausführungen zu verlassen. Die Kammer war in der Lage, am Ende der mündlichen Verhandlung gemäß Artikel 15 (6) VOBK eine Entscheidung zu verkünden.
2. Hauptantrag: Nicht-Zulassung des Einwands unter Artikel 123 (2) EPÜ in Anwendung von Artikel 12 (4), (6) VOBK
2.1 Die Kammer stellt fest, dass das Merkmal "über senkrechte Durchkontaktierung" bereits in den während des Einspruchsverfahrens am 25. August 2021 zusammen mit der Einspruchserwiderung eingereichten Hilfsantrag 1 aufgenommen worden war. Der diesbezügliche Einwand nach Artikel 123 (2) EPÜ ist von der Beschwerdegegnerin erstmals im Beschwerdeverfahren in ihrer Beschwerdeerwiderung erhoben worden. Somit erfüllt dieser Teil des Beschwerdevorbringens der Beschwerdegegnerin nicht die Erfordernisse des Artikels 12 (2) VOBK und ist nach Artikel 12 (4) VOBK als Änderung des Beschwerdevorbringens zu betrachten, deren Zulassung im Ermessen der Kammer steht. Gemäß Artikel 12 (6), zweiter Satz, VOBK lässt die Kammer Anträge, Tatsachen, Einwände oder Beweismittel, die in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, vorzubringen gewesen wären, nicht zu, es sei denn, die Umstände der Beschwerdesache rechtfertigen eine Zulassung. Vorliegend ist die Kammer der Auffassung, dass dieser Einwand in dem Verfahren, das zu der angefochtenen Entscheidung geführt hat, vorzubringen gewesen wäre. Umstände der Beschwerdesache, die eine Zulassung rechtfertigten, wurden nicht geltend gemacht und sind für die Kammer nicht erkennbar.
2.2 Der Einwand unter Artikel 123 (2) EPÜ ist daher nicht ins Verfahren zugelassen worden.
3. Hauptantrag: Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 (Artikel 54 EPÜ)
3.1 Auslegung des Begriffes "senkrechte Durchkontaktierungen" im Merkmal 5 des Anspruchs 1 des Hauptantrags
3.1.1 Gemäß dem Merkmal 5 sind die Heizleiter auf der Vorderseite des Trägersubstrats "von der Rückseite des Trägersubstrats (6) her durch das Trägersubstrat (6) hindurch über senkrechte Durchkontaktierungen (13) elektrisch kontaktiert". Die Beteiligten sind sich einig, dass es sich bei dem Begriff "senkrechte Durchkontaktierung" um einen feststehenden Fachbegriff in der Schaltungstechnik handelt, unter den nicht jede beliebige elektrische Zuleitung subsumiert werden kann. Dabei handelt es sich um VIAs, Vertical Interconnect Accesses, also um stoffschlüssig mit dem Trägersubstrat verbundene Durchkontaktierungen und nicht um ein separates Bauteil wie beispielsweise eine Kontaktfahne eines Steckers, welches entweder kraftschlüssig oder/und durch ein zusätzliches Verbindungsverfahren befestigt und mit den Leiterbahnen des Trägersubstrats kontaktiert ist (siehe Patent, Absatz [0014]).
3.1.2 Die Beschwerdegegnerin bestreitet allerdings, dass dem Begriff "senkrechte Durchkontaktierung" auf dem Gebiet der Siegelorgane eine besondere Bedeutung zukomme. Vorliegend werde keine Schaltung beansprucht, sondern ein Siegelorgan zum thermischen Verbinden thermoplastischer Materialien (siehe Patent, Absätze [0001] und [0002]). Die Beschwerdegegnerin legt wie die Einspruchsabteilung (siehe angefochtene Entscheidung, Gründe, Punkt 3.2.5 und 3.2.6) unter Verweis auf die gängige Rechtsprechung (siehe Rechtsprechung, II.A.6.3.1 und II.A.6.3.6) und die Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt (in der Fassung vom März 2022, F-IV, 4.2.) diesen Begriff breit und im wörtlichen Sinne aus, wonach darunter alle Kontaktierungen umfasst seien, die das Trägermaterial durchgreifen würden und senkrecht seien.
3.1.3 Die Kammer ist der Auffassung, dass ein Fachmann auf dem Gebiet der Siegeltechnik mittels elektrischer Heizelemente notwendigerweise auch Kenntnisse im Bereich der elektrischen Schaltungstechnik besitzt, da diese eng miteinander verknüpft sind. Dies geht auch aus Absatz [0003] des Patents hervor. Ein solcher Fachmann würde den Begriff "senkrechte Durchkontaktierung" im Sinne der auf dem Gebiet der Schaltungstechnik üblichen Bedeutung und Reichweite verstehen. Die Beschreibung des Patents, insbesondere der dortige Absatz [0014], verleiht dem Begriff in diesem Fall auch keine abweichende Bedeutung, sondern definiert ihn entsprechend den in der Schaltungstechnik verwendeten Fachbegriffen.
Für einen derart fachkundiger Leser ergeben sich daher bei der Auslegung des Begriffs "senkrechte Durchkontaktierung" keine Diskrepanzen zwischen dem Anspruchswortlaut und der diesbezüglichen Offenbarung in der Beschreibung. Insofern wendet die Kammer, entgegen der Entscheidung der Einspruchsabteilung die übliche Auslegung aus dem Gebiet der Schaltungstechnik an. Dies steht im Einklang mit der gängigen Rechtsprechung (siehe Rechtsprechung, II.A.6.1.).
3.2 Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hauptantrags gegenüber dem Dokument D8 (Artikel 54 EPÜ)
3.2.1 Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob das Merkmal der "elektrischen senkrechten Durchkontaktierung" (Merkmal 5) im Dokument D8 offenbart ist.
3.2.2 Das Dokument D8 erwähnt an keiner Stelle VIAs oder eine "elektrische senkrechte Durchkontaktierung", sondern "[d]er elektrische Anschluss erfolgt mittels Klemmen und/oder Stecken der Verkabelung in den dafür vorgesehenen Stecker 9, der mit der Leiterplatte 1 fest verbunden ist, beispielsweise mittels Lötverbindung" (siehe Dokument D8, Absatz [0046]).
3.2.3 Daher und gestützt auf die obige Auslegung (siehe Punkt 3.1) kommt die Kammer zu der Schlussfolgerung, dass das Merkmal 5 im Dokument D8 nicht offenbart ist. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags ist daher gegenüber dem Dokument D8 neu.
3.3 Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hauptantrags gegenüber dem Dokument D14
3.3.1 Die Beschwerdegegnerin legte dar, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags gegenüber dem Dokument D14 nicht neu sei, insbesondere da die dort offenbarte Vorrichtung zum Beheizen von flächigen Halbzeugen aus thermoplastischem Kunststoff (siehe Dokument D14, Seite 5, Zeile 14 bis 19) per se als Siegelorgane zum thermischen Verbinden thermoplastischer Materialien gemäß dem Merkmal 1 des Anspruchs 1 des Hauptantrags geeignet sei.
3.3.2 Die Kammer teilt nicht die Auffassung der Beschwerdegegnerin. Das Dokument D14 offenbart unbestritten explizit keine Siegelvorrichtung (Merkmal 1 des Anspruchs 1 des Hauptantrags). Wie die Beschwerdeführerin vorgetragen hat, ist die im Dokument D14 offenbarte Vorrichtung zum Beheizen von Vorformkörpern oder von flächigen oder vorgeformten Halbzeugen aus thermoplastischem Kunststoff nicht zum Siegeln von Kunststoffen geeignet. Die beim Umformen und Siegeln unterschiedlichen zu erreichenden Temperaturen sprechen gegen eine entsprechende Eignung der im Dokument D14 offenbarten Vorrichtungen. Des Weiteren betreffen das Vorwärmen und das Siegeln unterschiedliche Halbzeuge und insbesondere eine unterschiedliche Anordnung der Kunststoffe, da beim Siegeln mindestens zwei Kunststoff(bahnen) über- oder nebeneinander anzuordnen sind.
Da bereits das Merkmal 1 des Anspruchs 1 des Hauptantrags nicht im Dokument D14 gezeigt ist, kann die Offenbarung der weiteren Merkmale 2 bis 6 im Dokument D14 dahingestellt bleiben.
3.3.3 Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags ist neu gegenüber dem Dokument D14
3.4 Schlussfolgerung in Bezug auf Neuheit des Gegenstands des Anspruchs 1 des Hauptantrags
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags ist neu (Artikel 54 (1) EPÜ).
4. Hauptantrag: Erfinderische Tätigkeit des Gegenstands des Anspruchs 1 gegenüber dem Dokument D1 in Kombination mit dem Dokument D8 (Artikel 56 EPÜ)
4.1 Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags unterscheidet sich vom Dokument D1 als nächstliegendem Stand der Technik unbestritten in den Merkmalen 3, 4 und 6.
4.2 Des Weiteren offenbart das Dokument D1 nach Auffassung der Kammer nicht das Merkmal 5.
4.2.1 Die Beschwerdegegnerin verweist in diesem Zusammenhang auf die Figur 7 des Dokuments D1, die ein Siegelorgan mit von dessen Rückseite aus kontaktierbarem Heizelement offenbart. Der dort offenbarte Heizleiter sei von einer Rückseite des Substrats her senkrecht durch das Substrat hindurch elektrisch kontaktiert, weshalb eine senkrechte Durchkontaktierung im Sinne von Merkmal 5 vorliege.
4.2.2 Dieser Argumentation der Beschwerdegegnerin stimmt die Kammer nicht zu.
Die Figur 7 des Dokuments D1 zeigt eine Elektrode (40), die eine Drahtführung (42) umfasst, die an eine Stromquelle angeschlossen ist und in den elektrischen Kontakt (44) führt, der wiederum durch den Draht (46) mit dem Material (23) in der Rille verbunden ist.
FORMEL/TABELLE/GRAPHIK
Figur 7 des Dokuments D1
Aufgrund der Auslegung des Begriffes "senkrechte Durchkontaktierung" (siehe Punkt 3.1) teilt die Kammer die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass der in der Figur 7 des Dokuments D1 gezeigte elektrische Kontakt nicht unter das Merkmal 5 fällt.
4.3 Schon aus diesem Grund kann das Vorbringen der Beschwerdegegnerin nicht überzeugen. Weitere Unterscheidungsmerkmale, deren Wirkung, die daraus resultierende objektive technische Aufgabe können dahingestellt bleiben, angesichts der Tatsache, dass das Merkmal 5 weder im Dokument D1 noch im Dokument D8 gezeigt ist. Der Fachmann wäre daher auch bei einer Kombination der beiden Dokumente D1 und D8 nicht zum beanspruchten Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags gelangt.
4.4 Schlussfolgerung der Kammer in Bezug auf erfinderische Tätigkeit des Anspruchs 1 des Hauptantrags
Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags ist nicht nahegelegt ausgehend vom Dokument D1 in Kombination mit dem Dokument D8. Der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hauptantrags beruht daher auf einer erfinderischen Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ).
5. Hauptantrag: Anpassung der Beschreibung
Die am 12. August 2022 eingereichte angepasste Beschreibung enthielt Änderungen, die nicht im Einklang mit Regel 80 EPÜ standen, sodass die Beschwerdeführerin eine angepasste Beschreibung einreichte, in der ausgehend vom Druckexemplar nur die erforderlichen Änderungen auf Seite 7, dritter Absatz und Seite 8, dritter Absatz, entsprechend dem Absatz [0011] und dem Absatz [0014] der Patentschrift, vorgenommen worden sind. Somit erfüllt die vorliegende Beschreibung die Erfordernisse des EPÜ.
6. Ergebnis
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die geltend gemachten Einwände der Aufrechterhaltung des Patents in der Fassung gemäß Hauptantrag nicht entgegenstehen. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die Einspruchsabteilung zurückverwiesen mit der Anordnung, das Patent in geänderter Fassung mit folgenden Unterlagen aufrechtzuerhalten:
- Patentansprüche 1 bis 15 gemäß Hauptantrag eingereicht mit der Beschwerdebegründung
- Beschreibung Seiten 1 bis 23 eingereicht in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer
- Figuren 1 bis 5, 6A und 6B der Patentschrift